Pflanzengift-Opfer: Vergiftet und vergessen

Auf den Gensoja-Feldern Südamerikas werden Gifte versprüht, die in ähnlicher Form im Vietnamkrieg eingesetzt wurden. Die Folgen: Fehlgeburten, Kinder mit Missbildungen, erhöhte Krebsraten. Von der Regierung erhalten die Opfer kaum Hilfe – denn Gensoja ist ein Milliardengeschäft.

Wegen der Agrarchemikalien beinahe gestorben: Die fünfjährige Ailén und 
Mutter Viviana Peralta vor ihrem Haus in San Jorge (Provinz Santa Fe). (Bild: Marilina Calos)

Auf den Gensoja-Feldern Südamerikas werden Gifte versprüht, die in ähnlicher Form im Vietnamkrieg eingesetzt wurden. Die Folgen: Fehlgeburten, Kinder mit Missbildungen, erhöhte Krebsraten. Von der Regierung erhalten die Opfer kaum Hilfe – denn Gensoja ist ein Milliardengeschäft.

Ailén saust mit ihrem Plastikauto auf dem Vorplatz herum, als wolle sie jemanden überholen. Nach ein paar Sekunden hält sie an, beugt sich über den Lenker und lacht. Jahrelang konnte die Fünfjährige nicht draussen spielen, sondern lag mit Atembeschwerden im Bett. «Besonders schlimm war es, wenn der Nachbar sein Feld auf der anderen Strassenseite besprühte», erinnert sich Mutter Viviana Peralta. So schlimm, dass Ailén zuweilen fast das Bewusstsein verlor und reglos auf der Brust ihrer Mutter lag.

Der Nachbar ist Gensoja-Bauer. Sein Feld liegt in San Jorge, dem Zentrum der argentinischen Soja-Produktion – nur zehn Meter vom Haus der Peraltas entfernt. Regelmässig liess er Agrar­chemikalien per Sprühmaschine oder Flugzeug auf dem Acker ausbringen. ­Viviana Peralta spürte es daran, dass sich ihre Lippen lähmten, sie kaum noch sprechen konnte. Die 44-Jährige schloss Fenster und Türen und hoffte, das Gefühl würde wieder vorbeigehen. Doch die Hustenanfälle ihrer Tochter wurden immer schlimmer. Schliesslich fuhr sie mit Ailén zu einem Immunologen, dieser bestätigte den Verdacht: Die Probleme der Familie hatten mit den Chemikalien des Soja-Bauern zu tun.

Gensoja, das «Gold» Argentiniens

Gensoja ist für Argentinien, was Kupfer für Chile oder Erdöl für Nigeria ist: ein Riesengeschäft. 2011 wurden rund 11,6 Milliarden Dollar mit dem Verkauf der Hülsenfrucht erzielt. 60 Millionen Tonnen kommen jährlich von den argentinischen Äckern. Ein Grossteil davon landet in den Futtertrögen chinesischer und europäischer Mastbetriebe. Die Schweiz gehört zu einem der wenigen Länder in Europa, in das angeblich kein gentechnisch verändertes Soja importiert wird. Auf den restlichen Märkten hingegen dominiert Gensoja. Argen­tinien ist hinter den USA und Brasilien der weltweit drittgrösste Produzent.

Dabei spielte die Nutzpflanze bis vor ein paar Jahren kaum eine Rolle am Rio de la Plata. Erst ab 1996, im selben Jahr, in dem Gensoja auch in den USA auf den Markt kam, begannen argentinische Bauern Soja anzubauen – unterstützt vom US-Chemiekonzern Monsanto. Sein Gen­soja verkaufte er zusammen mit dem Herbizid Glyphosat der Marke Roundup Ready. Glyphosat ist ein seit Mitte der 1970er-Jahre eingesetztes Herbizid zur Unkrautbekämpfung, das Gensoja nichts anhaben kann. In Laboratorien und mit Studien brachte der Konzern den argentinischen Agrarstudenten bei, dass Glyphosat den Ertrag erhöhe, aber keinerlei negative Folgen habe. Und so wurde das Herbizid bald überall eingesetzt, als sei es Wasser.

Gefährliche Herbizid-Cocktails

Mit fatalen Folgen. Denn das Unkraut wurde im Laufe der Jahre immer resistenter gegen Glyphosat. Es entstanden sogenannte «supermalesas», Super-Unkräuter – worauf die Bauern entweder die Dosis erhöhten oder das Glyphosat mit anderen, noch stärkeren Agrarchemikalien mischten, darunter Endosulfan, Paraquat oder die Essigsäure 2,4D. Letztere war Bestandteil des Entlaubungsgifts Agent Orange, das die US-Armee während des Vietnamkriegs über den Wäldern versprühte. Der Krieg in Vietnam ist offiziell seit rund 40 Jahren zu Ende. Die Folgen sind geblieben. Es sind die gleichen, die bei den Nachbarn von Agrarflächen mit Gen­soja zu beobachten sind: zunehmende Fehlgeburten, erhöhte Krebsraten, Kinder mit Missbildungen.

Während sich Argentiniens Präsidentin Christina de Kirchner über steigende Exporteinnahmen durch Soja freut, kämpfen die Betroffenen auf einsamem Posten. So auch Roberto Rios, der zwischen 2001 und 2009 Tag für Tag Glyphosat, Endosulfan, 2,4D und andere Agrarchemikalien ausbrachte. Mit Rucksackkanistern oder Sprüh­maschinen zog der 35-Jährige über die Felder seines Arbeitsgebers – ohne Handschuhe, Anzug oder Schutzmaske. «Uns wurde weder gesagt, dass wir uns schützen müssen noch dass die Mittel gesundheitliche Schäden verursachen», sagt er. Während zwei Jahren schlief Rios zusammen mit anderen Mitarbeitern in derselben Lagerhalle, in der tagsüber die Cocktails gemischt wurden. Es habe sich nicht gelohnt, über Nacht nach Hause zu fahren, sagt er. «Und die Firma stellte uns keine andere Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung.»

Heimtückische Krankheiten

Der dreifache Vater lebt seit seiner Jugend von der Landwirtschaft und gab den immer stärker werdenden Kopfschmerzen und Muskelkrämpfen während der Arbeit keine Bedeutung. Als er aber immer weniger ass und eines Tages nicht mehr gehen konnte, ging er zum Arzt. Rios musste sich an Speiseröhre und Niere operien lassen, zudem wurde ihm die Galle entfernt. «Was ich genau habe, können die Ärzte nicht sagen.» Was sie aber sagten, ist, dass er keinen Kontakt mehr mit Agrarchemikalien haben dürfe. Das sagte auch die Ärztin von Ailéns Mutter.

Viviana Peralta hatte sich in ihrer Verzweiflung an den Bürgermeister von San Jorge gewandt – der nur mit den Schultern zuckte. Ihr wurden Autos, Hotelaufenthalte, Medikamente und sogar ein Haus in der Stadt angeboten – was sie alles ablehnte. «Ich wohne hier und zahle Steuern. Ich möchte mit Respekt behandelt werden.»

Doch wer in Argentinien negativ über Soja spricht, muss mit Konse­quenzen rechnen. Mitgliedern der Betroffenenvereinigung Pueblo Fumigado («Versprühtes Volk») wurden schon Scheiben eingeschlagen und Autos wurden angezündet. Erst kürzlich wurde dem Direktor eines lokalen Radiosenders per Telefon mit Prügel gedroht, wenn er die kritische Berichterstattung zum Gensoja nicht einstelle.

Ähnliches ist dem Embrionen­forscher Andrés Carassco von der Universität Buenos Aires passiert. Dieser hatte vor drei Jahren bestätigt, dass Glyphosat nur schon bei geringer Anwendung zu Missbildungen bei Embrionen führen könne – worauf Politiker zusammen mit der Agrarindustrie eine wochenlange Kampagne gegen ihn und seine Resultate führten.

Neu ist diese Form der Zensur nicht. Im ganzen Land wird versucht, das Thema unter dem Deckel zu halten – von Ärzten, Chemikern, Firmen, Politikern und nicht zuletzt von den Medien. Zu viele Interessengruppen sind in den letzten Jahren vom Geschäft mit der Bohne abhängig geworden.

Zu einem der wenigen Gerichts­verfahren ist es vergangene Woche in Cordoba gekommen. Am 21. August wurden ein Sojaproduzent und ein ­Pilot, der die Agrarchemikalien ausbrachte, zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Vor drei Jahren konnte auch Viviana Peralta einen Gerichtsentscheid erwirken, der landesweit für Aufsehen sorgte. Ihr Nachbar muss seither beim Besprühen seiner ­Sojafelder einen Mindestabstand zu bewohntem Gebiet einhalten: 800 Meter, wenn er mit der Maschine sprüht, 1500 Meter, wenn die Herbizidbestäubung aus dem Flugzeug erfolgt.

Für Viviana Peralta kommt dieser Entscheid zu spät. Die Ärztin riet ihr davon ab, weitere Kinder zu gebären: Die Gefahr von negativen Auswirkungen des Glyphosats seien zu gross.

Die gefährlichsten Pflanzengifte: Glyphosat, 2,4D, Paraquat und Endosulfan sind die giftigsten der Agrarchemikalien, die heute auf den Gensoja-Feldern aus­gebracht werden. Mit Ausnahme von Glyphosat sind all diese Produkte in Europa verboten, obwohl sie auch aus den Labo­ratorien von hiesigen Firmen stammen: etwa von Syngenta in Basel, BASF in Ludwigshafen oder von Bayer in Leverkusen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 31.08.12

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