Wir arbeiten mehr, sind aber weniger produktiv

Im europäischen Krisen- und Schulden-Meer sticht die Schweiz als Leuchtturm heraus. Doch ein genauer Blick relativiert: Das Wachstum der Schweizer Wirtschaft gründet primär auf Zuwanderung und Mehrarbeit. Die Produktivität hingegen nimmt seit 2008 ab.

Mit industrieller Massenproduktion statt Handarbeit liesse sich die Produktivität steigern. (Bild: Keystone)

Im europäischen Krisen- und Schulden-Meer sticht die Schweiz als Leuchtturm heraus. Doch ein genauer Blick relativiert: Das Wachstum der Schweizer Wirtschaft gründet primär auf Zuwanderung und Mehrarbeit. Die Produktivität hingegen nimmt seit 2008 ab.

Die Schweizer Wirtschaft ist seit 2000 stärker gewachsen als die europäische. Und sie hat sich von der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 besser erholt. Das zeigt die Entwicklung des teuerungsbereinigten Bruttoinlandprodukts (BIP real): Dieses stieg in der Schweiz von 2000 bis 2011 um rund 21 Prozent.  Dieses Wachstum basierte aber vor allem auf Zuwanderung und Arbeitsfleiss. Das belegen die Daten des Bundesamtes für Statistik:

  • Die Zahl der Arbeitsstunden in der Schweiz stieg von 2000 bis 2011 um rund zwölf Prozent. Diese Mehrarbeit resultiert aus der Zunahme der Bevölkerung (plus 10,4%) sowie einer weiteren Erhöhung der Erwerbsquote.
  • Die Arbeitsproduktivität (BIP real pro Arbeitsstunde) erhöhte sich damit nur noch um acht Prozent.

Diese mittelfristige Entwicklung markiert einen Wandel des langfristigen Trends. Das zeigte eine im März 2012 veröffentlichte Studie der ETH-Konjunkturforschungsstelle: Zwischen 1950 und 2000 war es hauptsächlich die Steigerung der Produktivität (plus 240 %), welche die Schweizer Wirtschaft wachsen liess. Das Arbeitsvolumen nahm in diesem Zeitraum weit weniger stark zu.

Produktivität sinkt seit 2008

Produktiver wird eine Wirtschaft, wenn sie mit gleich viel Arbeit wertmässig mehr Güter und Dienstleistungen produziert. Oder wenn es ihr gelingt, die gleiche Wertschöpfung mit weniger Arbeit zu erzielen. Diese Produktivität ist in der Schweiz seit der Jahrtausendwende nicht nur langsamer gewachsen, sondern in den letzten drei Jahren sogar gesunken. Das zeigen die statistischen Daten für die Periode 2008 bis 2011: In diesem Zeitraum war das Wachstum der Arbeitsstunden (plus 4,4 %) und der Bevölkerung (plus 3,3 Prozent) höher als das Wachstum des BIP real (plus 2,9 %). Im laufenden Jahr, so zeigen erste Quartalsdaten, dürfte die Arbeitsproduktivität nochmals abnehmen.

Die trockenen Zahlen erinnern an die deutsche Popgruppe «Geier Sturzflug», die 1983 sang: «Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt.»

Um das weitere Wachstum des BIP zu ermöglichen, müssen in der Schweiz mehr Leute mehr schuften, ohne dass ihr Stück am Kuchen grösser wird. Denn nicht nur pro Arbeitsstunde, auch pro Kopf der Bevölkerung ist das BIP seit 2008 gesunken. Im Vergleich zum Ausland profitiert die arbeitsame Schweiz immerhin von tieferer Arbeitslosigkeit und kleinerer Staatsverschuldung.

Bund fordert mehr Wettbewerb

Dass die Produktivität der Schweizer Wirtschaft seit 2008 gesunken ist, konstatiert auch der Bundesrat in seinem kürzlich veröffentlichten «Wachstumsbericht 2012 bis 2015», den das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) verfasste. Die kurzfristige Ursache sei die Finanzkrise von 2008, welche die Finanzdienstleistungen verminderte. Doch selbst wenn man den Bankensektor ausklammere, hätte das «Produktivitätsniveau bestenfalls stagniert», analysiert das Seco und folgert: «Zusammen genommen kommt man zur Feststellung, dass in den Jahren 2008 bis 2011 keine Grundlagen für reale Einkommenszuwächse pro Kopf der Bevölkerung geschaffen worden sind.»

Schon seit 1991 sei der Zuwachs der Arbeitsproduktivität in der Schweiz kleiner ausgefallen als in vergleichbaren europäischen Kleinstaaten, klagt das Seco weiter. Die ökonomische Fachstelle des Bundes führt das primär auf die unterdurchschnittliche Produktivität der «binnenorientierten, keiner internationalen Konkurrenz ausgesetzten Branchen» zurück und fordert seit Jahren «mehr Wettbewerb» und weitere Reformen im Binnenmarkt.

Auch ein Strukturproblem

Die Steigerung der Produktivität stösst aber auch an strukturelle Grenzen. Beispiel: In arbeitsintensiven Branchen wie etwa in der Krankenpflege oder bei sozialen Diensten lässt sich die Produktivität kaum oder weniger stark steigern als etwa in der industriellen Massenproduktion. Doch während der Anteil der Industrie an der nationalen Wertschöpfung schrumpft, steigen Umsatz und Personalbestand im «unproduktiven» Sozial- und Gesundheitsbereich überdurchschnittlich. Um die Schweizer Wirtschaft produktiver zu machen, so lässt sich überspitzt schliessen, müssten wir also weniger oft zum Arzt oder ins Spital gehen – oder weniger gesundheitsschädigende Überstunden leisten. Doch das Wachstum des Umsatzes, das Bundesrat und Seco mit ihrer Wachstumspolitik anstreben, würde damit wiederum sinken.

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