Dieses Jahr wird als Zäsur in die Geschichte eingehen – nicht nur politisch, sondern auch medial: Denn erstmals sehen sich die westlichen Massenmedien einem eigentlichen Aufstand ihrer Nutzer gegenüber.
Dieses Jahr wird als Zäsur in die Geschichte eingehen – nicht nur politisch, sondern auch medial: Denn erstmals sehen sich die westlichen Massenmedien einem eigentlichen Aufstand ihrer Nutzer gegenüber.
Eigentlich sollte 2014 ganz im Zeichen der Geschichte stehen: Die drei prägenden europäischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts feiern in diesem Jahr einen runden Gedenktag. Am lebhaftesten dürften den meisten noch die Feierlichkeiten zum Mauerfall in Erinnerung sein, bereits einige Tage vorher wurde des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs gedacht. Das dritte Ereignis, das quasi die Initialzündung zu den anderen darstellt, ging darob beinahe etwas unter.
Zu Unrecht: Des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, der exakt vor einem Jahrhundert begann, sollte heute ganz besonders gedacht werden. Wie unvorhersehbar das Ausmass der Katastrophe vorab erschien, davon zeugt das Buch «Die Schlafwandler» (2012) des australischen Historikers Christopher Clark: Neben Politik und Wirtschaft kommen darin auch die Medien schlecht weg. Diese hätten sich früh und flächendeckend auf die Seite ihres jeweiligen Landes geschlagen und dort unreflektierte Kriegshetze verbreitet, ja den Krieg sogar richtiggehend herbeigeschrieben.
Dunkle Wolken am Horizont
Umso beunruhigender scheint es, dass 100 Jahre nach Kriegsbeginn ähnlich dunkle Wolken am Horizont aufziehen und das feierliche Gedenken grösstenteils überschatten. Denn vor einem Jahr erfolgte der Auftakt zum «Euromaidan», den pro-europäischen Protesten in der Ukraine, welche für die erneute Eskalation der Spannungen zwischen Russland und dem Westen verantwortlich gemacht werden, die mittlerweile wiederum Züge eines neuen Kalten Krieges tragen. Dass die Situation derart entgleiste, daran sind wiederum die Medien mitschuldig, nahmen sie doch im gesamten Westen geschlossen eine zunehmend aggressive, anti-russische Haltung ein, die von einem beträchtlichen Teil ihrer Leserschaft nicht geteilt wird.
Das Online-Journal «Telepolis», eines der ältesten und renommiertesten alternativen Newsportale im deutschsprachigen Raum, profiliert sich seit Anfang Jahr als eines der wenigen «neuen Medien» mit einer oppositionellen Berichterstattung zur Ukraine-Krise, aus welcher im Sommer der Überraschungs-Bestseller «Wir sind die Guten» hervorging. Die Autoren, welche mittlerweile den selbstironischen Blog Putinversteher.info betreiben, fassen die Irrungen und Wirrungen der heute als «Mainstream-Medien» (MSM) betitelten Leit- und Massenmedien wie folgt zusammen:
«Der Mythos, um den sich die mediale Darstellung des Ukraine-Konflikts gruppiert, lautet: ‹Eine demokratische Opposition verteidigt sich gegen einen autokratischen Herrscher.› Die beiden Akteure bilden das für einen Mythos typische Gegensatzpaar – demokratisch vs. autokratisch – und schliessen an den alles beherrschenden Mythos westlicher Gesellschaften an: ‹Wir = demokratisch›. Der absolut überwiegende Teil der internationalen Konfliktberichterstattung, nicht nur im Fall der Ukraine, fügt diesem Mythos weitere Elemente hinzu, die darauf angelegt sind, das zentrale Selbstverständnis zu bestätigen und variantenreich immer wieder neu zu erzählen.»
Aha-Erlebnis des Alpha-Journalismus
Der Graben zwischen «öffentlicher und veröffentlichter Meinung» vertiefte sich im Anschluss an die Eskalation in der Ukraine nachhaltig – insbesondere, nachdem eine vielbeachtete Ausgabe der Satire-Sendung «Die Anstalt» im April die Einseitigkeit der «MSM» auf deren «Unterwanderung» durch «Transatlantiker», also Angehörige US-, EU- und NATO-freundlicher Thinktanks wie die Atlantikbrücke, die Trilaterale Kommission oder der German Marshall Fund zurückgeführt hatte.
Dass mehrere der darin genannten «Zeit»-Journalisten die Sendung im Anschluss verklagten, sorgte überdies für eine Neuauflage des berühmt-berüchtigten «Streisand»-Effekts. Viele bereits zuvor kritisch eingestellte Blogs und Plattformen werteten diese Tatsache als einen Moment der Wahrheit: Ein Zeichen, dass eine illustre, globale Elite die Medien übernommen hatte und deren Alpha-Journalisten in einer abgehobenen, exklusiven Diskursschlaufe operierten und dafür zunehmend die eigenen ethischen Grundsätze über Bord warfen.
Virtuelle Ausweitung der Kampfzone
Wie so oft im Kampf um die Deutungshoheit verlief die ideologische Front dabei zwischen einer privilegierten Minderheit «alter» Eliten (den Chefredaktoren der bisherigen Leitmedien) und einer zunehmenden Masse Unzufriedener, welche sich mit der Agenda dieser Berichterstattung nicht mehr identifizieren konnte. Schauplatz des Kampfs war zum ersten Mal nicht die vielgerühmte «Strasse», sondern das Web 2.0. Zunehmend entwickelte sich der Aufstand der Leser in den Online-Foren zu einem «Shitstorm» epischen Ausmasses: Oft ergossen sich Hunderte empörte, kritische Voten über die Kommentarspalten der grossen Newsportale.
Der Sündenbock für dieses Phänomen war von Seiten der Leitmedien schnell gefunden: Der vielbeschworene «Putintroll», ein von Moskau bezahlter, feindlicher Agent, mit der Aufgabe, das Volk auf Kreml-Linie zu bringen. So unbestritten die Tatsache scheint, dass es derartige Bestrebungen gibt, so inkorrekt ist allerdings der Zirkelschluss, dass es sich bei der Kritik an der «Propaganda der Mainstream-Medien» um eine gezielte Unterwanderung feindlicher Kräfte handle und nicht um ein von spontaner Empörung genährtes, emergentes Phänomen. Denn vielerorts hätte bereits ein Blick in die eigene Userstatistik gezeigt, dass die Mehrheit der Kritik von der eigenen Stammklientel ausging: Einerseits vonseiten des Bildungsbürgertums, den traditionellen Nutzern der «Qualitätsmedien», und andererseits von einer jungen Generation medienaffiner Digital Natives, welche mit Datenschutzskandalen und NSA-Überwachung politisiert worden ist und den herkömmlichen Institutionen zunehmend kritisch gegenübersteht.
Götterdämmerung im Auslandsressort
So resümiert wiederum Telepolis die Lage mit Rückgriff auf den mittlerweile klassischen Aufsatz «Encoding/Decoding» des kürzlich verstorbenen Soziologen Stuart Hall durchaus korrekt:
«Das wichtigste medienpolitische Ereignis des vergangenen Jahres besteht darin, dass große Teile des deutschen Publikums mithilfe der Netzmedien ihre oppositionelle Lesart, in diesem Fall des Ukraine-Konflikts, drastisch und unmissverständlich öffentlich Ausdruck verliehen haben. In den sozialen Netzwerken und den Online-Foren der großen Inhalteanbieter entlud sich Widerspruch in bisher ungekannter Form. Das, was ich an anderer Stelle als ‹Götterdämmerung des Auslandsjournalismus› bezeichnet habe, wird zukünftig die politische Kommunikation im Zusammenhang mit internationalen Konflikten massiv beeinflussen, zumal ein derartiger Vertrauensverlust normalerweise einen sehr nachhaltigen Charakter aufweist. Für große Teile des Publikums ist der Kaiser nackt (siehe: Meinungskluft um die Ukraine).
Die etablierten Medien haben sich – drittens – als unfähig und unwillig erwiesen, oppositionelle Lesarten auch nur ansatzweise zu integrieren, um etwa eine ausgehandelte Position zurückzugewinnen. Weder führte die öffentliche Kritik dazu, dass sich die redaktionelle Linie hinsichtlich der Ukraine-Berichterstattung substanziell änderte. Noch wurde die Fehlerhaftigkeit der eigenen Arbeit auch nur eingeräumt. Innerhalb der privaten Medien dominiert öffentlich eine aggressive Abwehrhaltung. Die zuständigen Redakteure versuchen, die Kritik durch das Publikum als ‹gesteuerte Kampagne› zu rationalisieren. Spätestens wenn alle drei Haltungen in der Berichterstattung auftauchen – Positionierung, Polarisierung und Aktualitätsfixierung – sollten bewusst andere Quellen herangezogen werden.»
Dass viele «Leit- oder Qualitätsmedien» den Fehler nach wie vor nicht bei der eigenen Berichterstattung, sondern ausschliesslich beim aufmüpfigen Rezipienten suchten und seit Sommer dazu übergingen, ihre Foren nicht nur massiv stärker zu moderieren, sondern teilweise nur noch bei einzelnen, weniger kontroversen Themen zu öffnen oder sie gleich ganz zu schliessen, konnte diesen Konflikt nur verschärfen: «Liebe Leser, ihr seid uns eigentlich egal», spottete «Telepolis» am 2. September über diese Kurzschlussreaktion, welche nicht nur der eigenen, engagierten Stammklientel sauer aufstiess, sondern von vielen als Rechtfertigung für Zensur interpretiert wurde.
Sechs Mega-Corps für den Mainstream
Kein Wunder also, dass das zur gleichen Zeit erschienene Buch des streitbaren Ex-FAZ-Journalisten Udo Ulfkotte, «Gekaufte Journalisten», welches eine durchwegs nach der Pfeife von Eliten, Geheimdiensten und Grosskonzernen tanzende Journaille proklamierte, nach dessen Veröffentlichung im halbseidenen Kopp-Verlag ohne Erwähnung in den «MSM» bis in die Top 5 der Amazon-Bestseller vorrücken konnte: Vielmehr war für viele Leser dieser «Boykott» anstelle einer Auseinandersetzung mit dessen Thesen der definitive Beweis, dass die Klüngelei der Alpha-Journalisten mit transatlantischen Eliten Tatsache ist.
Auch wenn man an Ulfkottes Buch viele Punkte kritisieren kann (wie dies etwa Medienjournalist Stefan Niggemeier tut): Dass über 90 Prozent der westlichen Medien mittlerweile sechs undurchsichtigen «Mega-Corps» gehören, welche in vielerlei Hinsicht mit dem «militärisch-industriellen Komplex» der Nato-Staaten verbandelt sind, hilft nicht, diese Bedenken zu zerstreuen, sondern sollte vielmehr Anlass für weitere kritische Analysen sein.
Das Platzen der Filter-Bubble
Die «Alpha-Journalisten» täten daher gut daran, schnellstmöglich jenen «Autopilot»-Modus zu beenden, der sie in einer gefährlichen «Filter Bubble» dazu verleitet, ihre Peer Group ernster zu nehmen als ihre Nutzer. Denn längerfristig könnte sich diese Hybris ansonsten als nichts anderes wie das gefürchtete Verdikt «Selbstmord aus Angst vor dem Tod» entpuppen. John Pilger, einer der renommiertesten kritisch-investigativen Journalisten unserer Zeit, hat letzte Woche an einer der weltgrössten Tagungen für investigativen Journalismus in London unter dem Titel «War by Media and the Time of Propaganda» eine flammende Rede gehalten und dabei in scharfen Worten mit seiner Zunft abgerechnet:
«Warum unterliegt so viel Journalismus der Propaganda? Warum sind Zensur und Verzerrung gängige Praxis? Warum ist die BBC so oft ein Sprachrohr der Macht und des Raubtierkapitalismus? Warum täuschen sogar die New York Times und die Washington Post ihre Leser? Warum werden junge Journalisten nicht gelehrt, das ‹Agenda Setting› der Medien zu durchschauen, die hehren Worte (Floskeln) und niederen Absichten falscher Objektivität zu hinterfragen und herauszufordern? Und warum wird ihnen nicht beigebracht, dass die Essenz hinter so viel von dem, was man ‹Mainstream-Medien› nennt, nicht Information ist, sondern Macht?
Dies sind drängende Fragen. Die Welt steht vor einem grossen Krieg, vielleicht einem Atomkrieg – mit der klaren Absicht der USA, zuerst Russland, dann China zu provozieren und zu isolieren. Diese Wahrheit wird von den Journalisten auf den Kopf gestellt und verdeht – einschliesslich derer, welche die Lügen verbreitet haben, die 2003 zum Blutbad im Irak führten (…)
Das Informationszeitalter ist eigentlich ein Medienzeitalter. Wir erleben Medienkrieg, Medienzensur, Dämonisierung, Vergeltung und Teilung durch Medien – ein surreales Fliessband gelenkter Klischees und falscher Unterstellungen. Diese Macht, eine neue ‹Realität› zu schaffen, befindet sich seit längerer Zeit im Aufbau (…) Der erste Weltkrieg ist 100 Jahre her. Damals wurden Reporter für ihr Schweigen, für ihre heimlichen Absprachen und Verdunkelung belohnt und zum Ritter geschlagen. Auf dem Höhepunkt von Metzelei und Massenmord vertraute der britische Premierminister David Lloyd George dem Herausgeber des Manchester Guardian an: ‹Würden die Menschen die Wahrheit erfahren, wäre der Krieg vorbei.›»
Diese Warnung ist ernst gemeint. Die Havarie ist nämlich in vollem Gange. Der beste Weg, den klassischen Journalismus vor der möglicherweise grössten Vertrauenskrise seiner Geschichte zu bewahren, wäre, die Lehren aus diesem folgenschweren Medienjahr zu ziehen. Will heissen: Kritik konstruktiv anzunehmen, ein grösseres Themen- und Meinungsspektrum zuzulassen, den Dialog mit allen Segmenten der Gesellschaft wieder aufzunehmen und vor allem: eine grössere Distanz zur derzeitigen gesellschaftlichen Elite zu wahren.
Noch dringender schiene allerdings, hinsichtlich der Gefahr eines dritten Weltkriegs zu reagieren und die einseitige «Kriegsberichterstattung» auf Halt zu setzen, um den Bemühungen um Deeskalation in der derzeitigen Krise (wie etwa dem Friedensaufruf 60 prominenter Deutscher in der «Zeit») Platz einzuräumen. Ansonsten droht die unmittelbare Gefahr, dass der von seinem transatlantischen Furor angestachelte Journalismus wie vor einem Jahrhundert die «Titanic» am Eisberg der eigenen Leserschaft zerschellt – oder noch schlimmer: als tragische, ironische Wiederholung der Geschichte erneut in einem neuen Weltkrieg mit wehenden Fahnen untergeht.
Wir widmen uns in einem Schwerpunkt dem zunehmenden Misstrauen gegenüber dem traditionellen Mediensystem. Dazu sind bisher folgende Artikel erschienen:
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Tara Hill ist ehemalige Redaktorin der TagesWoche und seit einem Jahrzehnt als freie Journalistin B.R. und Bloggerin für eine Vielzahl deutschsprachiger Print- und Onlinemedien tätig. Die studierte Soziologin und Medienwissenschaftlerin arbeitet zurzeit an einem Dissertationsprojekt, das sich kritisch mit der aktuellen Entwicklung der Massenmedien auseinandersetzt. Medien- und Geopolitik werden von ihr laufend auf ihrem Facebook-Account kommentiert.