Just not in time, 2.5.2002

Es hätte ein Ruhetag werden sollen, doch die Aussicht auf eine Wanderung ohne Gepäck war zu verlockend …

Corrour-Station: Der Zug nach Fort William fährt um 15.37 Uhr – und zwar genau um 15.37 Uhr. (Bild: Urs Buess)

Es hätte ein Ruhetag werden sollen, doch die Aussicht auf eine Wanderung ohne Gepäck war zu verlockend …

Eigentlich wollte ich heute einen Ruhetag einschieben. Die Wade – ja,ja die Wade, die schmerzt immer noch. Und gestern war die Strecke doch recht üppig für einen, der das Wandern nicht mehr so gewohnt ist. Aber es hielt mich nichts in diesem Fort William, das ein hübsches Städtchen ist mit vielen Leuten, Läden, einem Museum, Meer, Schiffen und manch weiterem. Doch die Leute waren beschäftigt, die Läden voll unnötiger Dinge, das Museum lockte ihn nicht, und das Meer und die Schiffe hatte man irgendwann zur Genüge angeschaut.

Statt eines Ruhetages, so dachte ich mir, könnte ich doch ohne Rucksack weiter wandern: Bis zur Corrour Station, wo ein Zug mich zurücknähme nach Fort William und morgens würde ich mit dem Zug von Fort William wieder vorwärts zur Corrour Station fahren, den Rucksack schultern und frohgemut weiterziehen. Das schien mir – auch weil ich nochmals in dieser günstigen Pension übernachten könnte – eine enorm gute Idee. Das einzige Problem: Ich musste um 15.37 Uhr bei der Corrour Staion sein. Der nächste Zug würde erst spät in der Nacht fahren.

Kurz nach eins sass ich bereits vor Bothy, einem einräumigen Steinhäuschen für Moorwanderer zwischen Spean Bridge und Loch Treig, irgendwo auf dem Weg von Inverness nach Sizilien. Ich war glücklich, trank heissen Tee, schaute auf die Uhr – ein Viertel nach eins. Zwei Stunden  unterwegs, bereits die Hälfte des Weges hinter mir und eines kleinen Vorsprung auf meinen Zeitplan gewiss.

Die ganze Strecke bis hierher war unter gutem Stern gestanden. Kalt, windig und regnerisch in Fort William, schwere Wolken- und Nebeldecken über den hohen Bergen, doch immer hatte mich aus offensichtlich freundlicher Zuneigung die Sonne durch die Wolkendecke gesucht und begleitet. Beim Aufstieg durch den Wald liess sie die bemoosten Wegränder dampfen. Ich glaubte, Elfen im feinen Nebel tanzen gesehen zu haben – ein lichter Dampf war aus diesen Wiesen gestiegen, ein Dampfwerk, ein schöner Anblick.

Darüber freute ich mich und war glücklich, auf den Ruhetag verzichtet und das Museum nur kurz besucht zu haben. Dachte dann eine Weile über das Ortsmuseen in Fort William und über Ortsmuseen im allgemeinen nach und kam zur Einsicht, dass sie doch eigentlich für die Einheimischen da seien und nicht für Fremde. Da sich schon die Angebote in den Kaufhäusern und Läden auf der ganzen Welt in immer kürzerer Zeit immer mehr gleichen – abgesehen von Schotten-Acessoirs hier und Kuckucksuhren dort – ist es doch wesentlich, dass die Leute in ihren Heimatmuseen erleben können, wie es hier einmal war und warum alles so gekommen ist, wie es ist. Man dürfte die Ortsmuseen meistenorts ein bisschen realistischer, echter und wahrhaftiger einrichten, etwas weniger verklärend – aber Ortsmuseen müssen halt den Ansässigen in erster Linie Heimat vermitteln. Was Heimat auch immer sei. Wenn überall alles immer gleicher wird, muss wohl jemand darüber nachdenken, was Heimat bedeute und darum entstehen überall diese Heimatmuseen.

Banale Gedanken

Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich über Wiesen und Heiden diesem Steinhäuschen Bothy zuwanderte. Ein paar Wochen wandern, ein paar Monate sogar, und nichts im Kopf haben als die nächsten Meter und Kilometer. Das ist beglückend, schmerzende Wade hin oder her. Und ehrlich gesagt: Bevor ich das Steinhüttchen Bothy erreichte, habe ich an etwas ganz anderes gedacht. Ganz banal an einen Furz. Er war mir beim Gehen entwichen, viel Luft hatte sich geräuschvoll losgemacht und ich hatte darüber sinniert, um was für ein Volumen ich nun wohl erleichtert sei und vor allem, dass das sehr wohl getan habe. Hatte einfach über die Möglichkeit des unbeschwerten Loslassens von wahrscheinlich übel riechender Luft nachgedacht, die mich jetzt nicht mehr aufdünst.

Das Hüttchen wäre zum längeren Rasten ideal gewesen. Hingebaut von Highland-Freunden als Stätte für ermüdete Wanderer, oben ein Boden zum Schlafen. Ein bisschen bereute ich, nicht das ganze Gepäck dabei zu haben. Etwas Proviant und es wäre ein unvergesslicher Tag, eine unvergessliche Nacht geworden. Zum runden Glück – in diesem Fall – hätte nur noch ein bisschen Holz gefehlt, um die Feuerstelle zu gebrauchen.

Aber ich wollte nicht lange rasten. Der Zeitplan hätte zwar einige Momente erlaubt, aber um 15.37 Uhr musste ich bei Corrour Station sein. Auf jeden Fall. Der erste Zug war am Morgen durch, der letzte würde erst um halb zehn abends fahren. Und dort oben schien nichts zu sein, kein Mensch, kein Pub, nichts in einem leeren Tal ausser dem Fussweg und eben der Bahnlinie.

Der zweite Weg

Ich schaute auf die in Fort William gekaufte Karte, auf der neben dem Pfad, der mich zum Steinhäuschen geführt hatte, ein zweiter eingezeichnet war. Ich sah ihn den gegenüberliegenden Hang durchqueren und fragte mich, warum ich nicht jenen Weg wählen sollte, der doch viel direkter zur Corrour Station führte als der bisher beschrittene.

Ich packte die Teeflasche ein, verliess den bisherigen Pfad,  liess mir von der Sonne den Weg weisen und strebte den gegenüberliegenden Hang an. Doch plötzlich war da nicht mehr viel, woran man sich orientieren konnte. Wiesen, Steine, Sumpf. Irgendwann ein Bach, ein recht breiter Bach sogar. Es führte mal ein Steg darüber. Doch den hatte das Wasser weggerissen. Ich fand einen Übergang und lobte meine wasserdichten Schuhe. Irgendwann glaubte ich, einen Pfad entdeckt zu haben, von Torf überdeckt, zunehmend mehr Torf als Steine. Auch der nächste Bach hatte einen Steg weggerissen. Ich glaubte, den Pfad – eben jenen am gegenüberliegenden Hang – entdeckt zu haben. Aber nicht sehr deutlich und dort rechts hatte es auch Steine, die durchaus einen Pfad hätten deuten können. Die Sonne zeigte sich nicht mehr.

Es gibt Leute, die von schottischen Moorlandschaften schwärmen. Ja warum denn? Jeder Schritt ein Wagnis. Manchmal bis zum Knöchel, dann gar zur Wade im Moor… Meist nur bis zum Knöchel, aber dann schnell wieder hoch, sonst sinkt der Fuss noch tiefer. Von Pfad keine Spur. Dort vorn vielleicht, der Einschnitt im Hang?

Und dann plötzlich das Bild vom Sumpf, aus dem man sich an den eigenen Haaren nicht rausziehen kann. Wieder so ein Sprichwort! Warum immer diese Sprichwörter und Bauernregeln, während andere so gescheit über neue Diskurse, über Neuerscheinungen reden – und so gescheit reden. Reduziert sich alle Bildung hier auf Sprichwörter und Bauernregeln? Ist denn nichts anderes im geistigen Gepäck?

Weit und breit kein Pfad, mühsames Tappen durch das Moor und eine grimmige Wut auf alle, die das schottische Hochmoor so toll finden. Immerhin die Genugtuung, dass es mit diesem Moor einmal sein Ende haben wird. Spätestens in Sizilien.

Enger Zeitplan

Nur: Der Zeitplan. 15.37 Uhr wollte ich bei Corrour Station sein. Hoffte, dass Loch Ossian noch anschauen zu können, das gleich hinter der Station liegt.

Blick auf Karte, Blick auf Uhr: Es dürfte reichen. Trotz aller Widerwärtigkeiten. Mir fallen die kantigen Steine in den Tobeln auf. Entweder ist das Wasser hier weich und kann den Fels nicht schleifen oder sonst ist halt der Fels hart. Jedenfalls: Das Wasser schliff die Steine in seinem Flussbett nicht rund wie andernorts auf der Welt. Wie Glasscherben stehen die aufgerichteten Gesteinsschichten in der Schlucht.

Der Zeitplan wird enger. Das Tal breiter. Ein wunderbares Tal eigentlich, verengt sich zur engen Schlucht, steil abwärts fallend und – grün, grün, grün. Plötzlich ein aufdringlicher, faulig-süsser Geruch: Ein totes, ausgewachsenes Schaf liegt auf dem Weg. Später, unten beim See, noch eines. Es hat vor dem Sterben den Kopf in einen Baumstunk hineingesteckt.

Die Zeit wird knapp, der Weg windet sich um jede Bucht. Indianerschritt: Hundert Meter gehen, hundert Meter laufen. Ich resigniere: Den Indianerschritt kann ich auf den letzten drei Kilometern nicht mehr durchhalten, der Weg ist zu steil. Und die Karte trügt kaum. Corrour Station wird dort sein, wo sie eingezeichnet ist. Noch eine halbe Stunde. Neuer Versuch mit Indianerschritten. Ausser Atem; dazu wieder diese Moortümpel auf dem Weg.

Noch fünfhundert Meter, 15.35 Uhr. Seit die britischen Bahnen privatisiert sind, fahren sie unpünktlich. Schreiben sie Zeitungen. Solche Texte habe ich mehrmals redigiert. Es wird schon stimmen. 15.36 Uhr – ein kleines Gebäude in Sicht. Es reicht …

Himmelhergott!

… nicht. Genau so malerisch hatte ich sie mir vorgestellt, diese Eisenbahn von Glasgow über Corrour Station nach Fort-William-Bähnchen! Sie übertrifft eigentlich alle Erwartungen. Doch nun tuckert sie höhnisch spottend um den Hügel, blau-gelb. Ich renne zum Geleise empor, sie fährt heran, ich winke wie verrückt. Der Lokführer zieht die Scheibe herunter, winkt fröhlich zurück und fährt vorbei.

Ein Film läuft ab: Ich sehe mich am Loch Ossian sitzen, sehe mich den Ort zeichnen, Strich für Strich, langsam Farbtupfer um Farbtupfer auftragen, damit die nächsten sechs Stunden bis zum nächsten Zug um halb zehn rasch vorbeiziehen. Keine, absolut keine Hoffnung auf Autostopp, hier geht keine Strasse vorbei.

Doch dann: Der Zug hält, ich renne, eine Tür geht auf, die Gäste schauen mich verwundert an, der Kondukteur schimpft und verlangt fünf Pfund vierzig.

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