Locarno ist jung geblieben. In der achtundsechzigsten Ausgabe bot es ein frisches Schweizer Kollektiv, einen Überraschungssieger, solide Schweizer Auftritte ohne Preise und ein feines Bekenntnis zum anspruchsvollen Kino.
Das 68. Filmfestival Locarno ist zu Ende. Mehr als 200 internationale Filme, 19 allein im Hauptwettbewerb um den Goldenen Leoparden, waren zu besichtigen. Jeden Abend sahen allein an die 6000 Zuschauer die Filme auf der Piazza. Das bringt Geist, kostet aber auch Geld: Zum jährlichen Budget von 13 Millionen steuern Kanton Tessin, Bund und Stadt rund vier Millionen bei. Ebenso viel dürften die Sponsoren leisten – Geld, das zum grossen Teil in die Region zurückfliesst.
In der Tat war der diesjährige Wettbewerb erneut ein Ausweis für die internationale Ausstrahlung Locarnos. Und auch ein Beweis für das Geschick des Kurators Carlo Chatrian. Er kuratierte mit seinen Teams viele prächtige Knacknüsse und durchaus nicht nur Publikumsrenner. Für die Schweiz wichtig: Alt und Jung finden sich. Autorenfilmer Lionel Baier stand neben einem jungen Kollektiv im Wettbewerb. Altmeister Schröder inszeniert Jungspunde. Das Fachpublikum goutierte die vielseitige Auswahl. Die Laufkundschaft erfreute sich an Unterhaltung für Neugierige.
Männereinsamkeit in «Entertainment» von Rick Alverson.
Von Männereinsamkeit und Schwermut
Inhaltlich war der Wettbewerb 2015 geprägt von der Einsamkeit – der Männer: «Brat Dejan» des Georgiers Bakur Bakuradze liess einen serbischen General in Depression und Hinterwald untertauchen. «Entertainment» des Amerikaners Rick Alverson stiess mit einem lachfaltenfreien Komiker mit immer tieferer Weltverachtung ins Hinterland der kalifornischen Unterhaltungssindustrie vor.
Ebenso eigenbrötlerisch fand ein junger Mann in der Ultra-Studie «Tikkun» des Israeli Avishai Sivan einen Ausweg aus der orthodox beengten Welt (berechtigter Sonderpreis der Jury und Erwähnung für die unerbittliche Schwarz-Weiss-Kamera). Auch wenn in «Ma dar Behesht» der Iranerin Sina Ataeian Dena eine Frau vergeblich die ersten Schritte der Emanzipation probte, blieben am Schluss die Fische im Aquarium stumm. In «Floride» von Phillipe Le Guay will ein Vater der Tochter weismachen, er sei nicht einsam. Kontaktlosigkeit war das grosse Thema im Wettbewerb.
Von weiblichem Traumtanz
Die Gegenströmung bildeten die narrativen Leichtfüsse: Der Schweizer Lionel Baier fand mit der verspielten Carmen Maura einen wunderbaren Gegenpart zu dem barschen Patrick Lapp und damit auf der Piazza heiteren Anklang mit seiner sehr persönlichen Freitodgeschichte eines Einzelgängers. Für endgültigen weiblichen Triumph sorgten fünf Stunden Frauenpower im Sittenbild «Happy Hour» (Leopard für die vier besten Schauspielerinnen, besondere Erwähnung des Drehbuchs) des Japaners Hamaguchi Ryusuke – die 317 Minuten fühlten sich heiter und kühl an, wenn man an die Hitze ausserhalb der Kinos dachte.
Lionel Baier findet immer mehr seinen unverwechelbaren Stil: «La Vanité».
Der Sieger ist: Ein Triumph der Einfachheit
Nach vielen überlangen Parforce-Leistungen stach schliesslich «Right Now, Wrong Then» hervor. Weil er so kurz wie kurzweilig war? Der Südkoreaner Hong Sangsoo überzeugte mit einer schlicht gerissenen Filmfilm-Idee. Mit sublimem Humor flocht er aus einer zufälligen Begegnung eine Liebesgeschichte und fand damit zügig zum Ende. Doch, ehe wir zum Ausgang schielten, fing er den Film noch einmal an – von vorn.
Noch einmal kommt Filmregisseur Ham dann in der fremden Stadt an – einen Tag zu früh. Erneut hat Ham einen freien Tag, und das Geschenk ist: Er trifft die Malerin Yoon. Die Frau zum Zeittotschlagen. Während wir uns in lange stehenden Bildern ganz dem Spiel der Figuren widmen dürfen – Ham raucht, fährt mit Yoon Schlitten, spaziert, trinkt und findet schliesslich langsam in ein stummes Begehren – bereitet Hong seinen Coup vor: Er erzählt die Liebesgeschichte ein zweites Mal zu einem anderen Ende und erweist sich nicht nur als gewitzter Schauspielerregisseur, sondern auch als gewiefter Filmmonteur.
Goldener Leopard und bester Schauspieler: «Right Now, Wrong Then», von Hong Sangsoo.
Wieder trifft Ham Yoon im Gebetstempel, die Dialoge bleiben ähnlich, langsam öffnen sich die weiteren Möglichkeiten für das Paar, erst im Untertext, schliesslich in einer ganz neuen filmischen Wahrheit. Schnitte werden anders gesetzt. Kameras verschoben. Wörter anders betont. Interpunktionen weggelassen. Es ist wie in der Liebe. Was gestern gleich war, ist heut nicht mehr dasselbe.
Bald sind wir mit denselben Bildern in einer anderen Geschichte. Hong macht immer klarer, was Film auch ist: ein Spiel mit Möglichkeiten. Wie die Liebe.
Die logische Überraschung
Es war also keine grosse Überraschung, dass es zu einer Überraschung kam, als am Samstag der Goldene Leopard gekürt wurde: Hong ragte aus dem Programm mit seiner Unangestrengtheit heraus. Er brillierte mit grandioser Schauspielerführung und einem einfachen Kniff. Liebe und Film haben eines gemeinsam: Sie öffnen uns unendlich viele Möglichkeiten.
Dabei vertraut Hong wie kein anderer Regisseur am Festival auf seine Schauspieler (sein Hauptdarsteller Jae-Young Jung erhielt für seine Leistung einen Leoparden). Hong schenkt seinen Figuren die Zeit, die er uns stiehlt. Er formuliert die zweite Meinung zu einer Liebesaffäre. Er wiederholt Kamerastellungen, variiert Dialoge, denkt Untertexte weiter, und sagt mit derselben Geschichte nicht mehr das Gleiche.
Die vier besten Schauspielerinnen: «Happy Hour» des Japaners Hamaguchi Ryusuke.
Ein weiterer, leiser Höhepunkt
In der Sektion «Semaine de la Critique» versammelt Locarno jedes Jahr die Perlen der Dokumentarfilme. Wieder war die Schweiz in der Meisterdisziplin des Schweizer Filmschaffens gut vertreten. Aya Domenig bewies mit «Als die Sonne vom Himmel fiel», dass ein Dokumentarfilm über die kleine Welt des eigenen Grossvater für die Welt von Bedeutung werden kann.
Etwas abseits vom grossen Festival-Rummel lieferte der Pole Wojciech Staroń neben den Schweizer Beiträgen mit «Brothers» den Beckettschen Höhepunkt des Festivals. Nach all der Männereinsamkeit sang er das Loblied auf die Verbrüderung und erhielt hierfür den Preis der Semaine. Wie zwei traurige Clowns kommen seine beiden Brüder des Wegs. Der Ältere murrt: «Was hast du vor?» «Ich bin eben aufgestanden und gehe.» Da könnte auch Estragon entgegnen: «Ich warte.» «Haben wir das nicht schon gestern getan?» Tatsächlich sind wir in einem Beckett-Universum.
Der Sieger der Semaine de la Critique: «Bracia», von Wojciech Staroń, ein unzertrennliches Brüderpaar.
Mieczyslaw, der Behäbige, und Alfons der Agile, sind eng miteinander verwachsen wie Wladimir und Estragon – und ebenso schrill ineinander verknurrt wie die beiden. «Dann geh halt.» Schnitt. Zwei Traktoren entfernen sich von uns. Brummend.
Sieben Jahre lang hat Wojciech Staroń den Maler Alfons Kulakowski und seinen Bruder begleitet. Ins Atelier, in die Vergangenheit im Gefangenenlager, nach Alma Ata, bis zur Rückkehr nach Polen und der anschliessenden Reise in eine kleine Bilder-Vernissage in Büssel. Das Paar nörgelt seit Jahren, vertreibt sich die Zeit mit Warten – nicht auf Godot – und bleibt dabei unzertrennlich zerstritten, wie die beiden Helden des grossen Iren.
Dabei schafft Wojciech Staroń eine schauspielerische Spannung wie in einem Spielfilm. Er fängt immer wieder Augenblicke in Bilder ein, wie es einem Malerporträt gebührt: Bilder, die mehr sagen als alle Worte. Zwei Bootstege, die anfänglich noch miteinander verbunden sind. Eine Wolke, die am Himmel zwei Stahlseile verbindet. Die beiden Kulakowskis stützen sich gegenseitig – beim Malen der Häuserwand ebenso wie in der Katastrophe, die dann kommt. Am Ende sind die beiden Stege unten am See getrennt. Ein Film geht dann zu Ende. Aber ein Universum bleibt in uns.
Die Schweizer Filme gingen fast leer aus
Locarno hat in diesem Jahr wieder fast alles geliefert: Stars, Glamour, cinéastisiche Parforceritte, filmische Ausrutscher, einen Skandal, der keiner war (mit dem israelischen Staat, dem zu viel Einfluss auf die Filmauswahl zugedacht wurde), und zuletzt auch noch Überraschungen: Dass «Heimatland» nur mit dem Trostpreis ausgezeichnet wurde, hat viele enttäuscht. Nicht aber das zehnköpfige junge Team. Die denken bereits an die nächsten Projekte. Hoffentlich nicht als Einzelkämpfer.
Der Geheimtipp vieler Schweizer Kritiker blieb geheim: Dritter Preis der Jugendjury für das Teamwork «Heimatland».
Das Festival als Tummelplatz der Image-Künstler
Mit 164’000 Zuschauern sind fast so viele gekommen wie letztes Jahr. In einer Studie der Universität der italienischen Schweiz wurde der durchschnittliche Filmfestbesucher von Locarno ermittelt: Pro Kopf geben Besucher wohl rund 150 Franken pro Tag aus, sie sind statistisch zwischen 35 und 45 Jahre alt, weiblich, stammen aus der deutschsprachigen Schweiz und verfügen über einen hohen Bildungsgrad sowie ein mittleres bis hohes Einkommen.
Über den Wirtschaftszweig der audiovisuellen Produktion der Schweiz gibt das Statistische Bundesamt ebenfalls Auskunft: 715 kleine und selten grosse Betriebe erzielten schweizweit mit audiovisuellen Produktionen 2013 einen Umsatz von zirka 360 Mio. Franken, wovon 207 Millionen auf Auftragsfilme (Werbung 86 Mio., Firmenporträts 63 Mio., TV-Produktionen 49 Mio.) entfallen. Der unabhängige Film erreicht dort ein Volumen von 72 Mio., die Dokumentarfilmsparte 41 Mio. Locarno ist das wichtigste Schaufenster eines kleinen KMU-Industriezweiges.
Geld und – Geld
Regional ist das Filmfestival Locarno eine Erfolgsgeschichte, die ohne Sponsoren so nicht geschrieben werden könnte. Der Anteil der Sponsorenplätze auf der Piazza wächst jährlich (was die Locarnesi beklagen). Die Sponsoren bieten dafür ihren Kunden gerne Anlässe unter freiem Himmel am Rande der Filmabende. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Geldgeber gerne mit viel Hospitality-Events kalkulieren für ihr Engagement.
Niemand will den Geldgebern in Locarno unterstellen, sie seien gar nicht so sehr am anspruchsvollen Film oder am bedeutendsten Filmfest der Schweiz interessiert, sondern nur an der eigenen Imagepflege.
Dennoch könnte man auch mal so rechnen: Der Sponsor UBS könnte mit 545 Millionen Dollar wöchentlich zwei Festivals in ähnlicher Grösse leicht allein unterstützen. Oder die Bank könnte ein Jahr lang an jedem Werktag einen Film in der Grössenordnung der zirka 1,9 Millionen schweren «Heimatland»-Produktion voll finanzieren. Doch die Bank zahlt stattdessen im laufenden Jahr die 545 Millionen Dollar für Bussen für Gesetzesverstösse in den USA.
Glamour, Glanz und Austausch
Festivalleiter Solari legt Wert auf die künstlerische Freiheit der Macher. Um international zu bleiben, braucht das Festival nicht nur die Grösse. Es braucht auch die Unabhängigkeit der künstlerischen Direktion. «Die künstlerische Freiheit ist letztendlich der wahre Sinn und Zweck der Locarner Veranstaltung», sagte Solari zum Festivalende.
Das Publikum verlieh seinen Preis an: «Der Staat gegen Fritz Bauer» von Lars Kraume.