Vier Stunden, vier Quartiere, vier Journalisten: Wir waren in einer Donnerstagnacht vier Stunden in der Innenstadt, Breite, St. Johann und Kleinbasel unterwegs. Das Protokoll einer stürmischen Nacht.
Wie sich die Basler Nacht anfühlt, das wollten wir herausfinden. Dafür sind wir zu viert durch vier Quartiere gestreift, entstanden ist ein atmosphärisches Porträt einer Stadt bei Nacht.
Wer sich die vier Streifzüge als ausführliches Einzelprotokoll durchlesen will:
- Die Grossbasler Innenstadt, von Andrea Fopp
- Die Breite, von Daniel Faulhaber
- Das St. Johann, von Naomi Gregoris
- Das Kleinbasel, von Matthias Oppliger
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22.05 Uhr, Barfi
Techno Dance tönt aus dem Restaurant zum alten Stöckli in der Innenstadt. Davor sitzen Jugendliche in Bomberjacken auf weissen Fellen. Drinnen leuchtet ein Discoscheinwerfer gewagt in rot und blau, das Hirschgeweih an der Wand fühlt sich alt, der junge Barkeeper sexy. Er tanzt von hinten einen Gast an, der auf einem Barhocker sitzt. Dann sieht er mich: «Komm!»
22.12 Uhr, Johanniterbrücke
Hinter der Theke im «Chez Donati» schäkern die Garçons. Sagt man das noch? Garçons? Im «Chez Donati» bestimmt. Ältere Herren mit Jackett und der Würde und Diskretion hochrangiger Bediensteter. Hier fängt das St. Johann an und hier stellt es sich vor: Geldklammern und Dessertwagen.
22.13 Uhr, Weidengasse
Die Breite. Einer trüben Lichterkette gleich liegt sie da, wie vor den Festtagen hingeworfen und noch nicht aufgeräumt, während das 3er-Tram aus dem Blickfeld verschwindet. Erstes Ziel: der «Saal 12», das Vereinslokal der FCB-Fans in der Weidengasse. Es riecht nach Ritual und grossen Momenten, die man verpasst hat. Man ahnt schon beim Treppenaufstieg: Was im «Saal 12» geschieht, bleibt im «Saal 12».
22.15 Uhr, Claraplatz
Zwei Dinge gibts im Kleinbasel an jeder Ecke: einen Haarschnitt und einen Döner. Weil die Frisur bestens sitzt, beginnt diese Nacht in der Schlange vor einer Kebabtheke. Scharf, keine Zwiebeln. Eine Gruppe junger Strassenmusikanten ordert Tee. Im Fernseher läuft «Terminator», der erste Teil, ohne Ton. Arnold Schwarzenegger lässt sich stumm das halbe Gesicht wegschiessen. Draussen tragen Kinder einem zotteligen Bären eifrig Laternen hinterher.
22.16 Uhr, Elsässerstrasse
In «Jakobs Basler Leckerly» sitzen die Frucht-Gelée-Mandarinli auf Porzellan mit Emblem, 300 Gramm für 9.50 Franken. Von links wehen Gesprächsfetzen vom Johannitercafé rüber, eine etwas zu laute Diskussion über Veganer. Of course. «Hey!» Ich drehe mich um. «Weisst du wo diese neue Bierbar ist? Ist sie gut? Ist sie dein zweites Wohnzimmer?» Ich lache.
22.30 Uhr, Barfi
Jedes Bistrotischchen im «Stöckli» ist besetzt. Anna und Lina schreien nach mehr Prosecco. «Vivaaaaa!!!»
22.45 Uhr, Rheingasse
Die Menschen stehen trotz Kälte draussen vor den Bars. Viele rauchen, einige wissen wohl, dass hier gleich ein Bär steppen wird. Trommeln und Pfeifen künden die Ankunft des Tieres an. Es bildet sich ein Kreis um das Kleinbasler Ehrenzeichen, das zum finalen Tanz anhebt und trotz bärentypisch massigem Körperbau durch beachtliche Beweglichkeit beeindruckt.
23.05 Uhr, Weidengasse
Max raucht Kette nach Altmännermanier, die Zigarette nicht wie üblich zwischen den beiden vorderen, sondern zwischen den hinteren Fingergliedern eingeklemmt, also nahe am Handteller. Es schmatzt wenn er zieht. Dann beginnt Max zu erzählen.
23.10 Uhr, Barfi
Der Staatsangestellte will aufs Tram nach Riehen. Er trinkt im «Stöckli» gerne ab und zu ein Glas mit Anna und Lina, das ist für ihn wie ein Ausflug raus aus seinem Leben. Er schläft acht Stunden, geht mit seiner Frau auf Kreuzfahrt, pflegt seinen Garten und verdrängt seine baldige Pensionierung.
23.20 Uhr, Elsässerstrasse
Im «Bierjohann»: Mattia ist laut eigenen Aussagen entweder Arzt, Physiotherapeut, Tierwärter oder Architekt.
23.25 Uhr, Unteres Kleinbasel
Der Weg führt Richtung Westen. Dorthin, wo das Kleinbasel noch etwas rauer ist, weniger aufgehübscht als oberhalb der Mittleren Brücke. Ein Sturm braut sich zusammen. Bald werden die Strassen mit Unrat übersät daliegen, Dönerschachteln, Hauskehricht, Bierdosen. Ist das etwa eine Windel?
23.30 Uhr, Barfi
Der Sturm bläst den grossen Blumentopf vor dem «Stöckli» um, die Palme liegt mit nackten Wurzeln auf dem Boden. Zwei Jungs verlassen ihr Schaffell, kriegen die Palme aber nicht zum Stehen. Ein Becher rollt über die Strasse. Die Taxifahrer sitzen in ihren warmen Autos und warten, jeder für sich.
23.35 Uhr, Elsässerstrasse
Im 11er-Tram sitzt ein junges Pärchen, er in grauer Jogginghose, sie in Leggins und Daunenjacke mit Fellbesatz. Sie starren auf einen Bildschirm. Das Mädchen legt seinen Kopf auf seine Schulter und drückt die Nase in den Stoff seiner Jacke. Sie schliesst die Augen.
23.40 Uhr, Barfi
Fabienne und Ceren überqueren die Tramschienen in Richtung «Des Arts». Fabienne hat ein Fernsehgesicht. «Einer von Telebasel hat mich einmal angesprochen und gesagt, ich solle mich melden.» Sie hat sich nie gemeldet.
23.45 Uhr, Hammerstrasse
Die «Fassbar» ist menschenleer, Türsteher Ueli hat auf einem Grill Suppe gekocht, um sich vor der Türe warm zu halten. Im Eingang hat ein älterer Herr Schutz gesucht, wir tauschen Sturmgeschichten aus. Seine ist besser. Einmal habe ihm eine Böe die Brille aus dem Gesicht geweht. Danach habe er, halbblind, in einer einschlägigen Kleinbasler Bar besseren Wetters geharrt. Am nächsten Tag habe er auf dem Claraposten seine Brille als vermisst melden wollen, leider ohne Erfolg. Ich fühle mit ihm.
23.50 Uhr, Steinenbachgässlein
Es ist Studentenparty im «Balz Klub», aber niemand hier hat einen Studentenausweis. Ceren probiert es mit der Legi einer Bekannten, doch der Türsteher merkts und schickt sie weg.
Mitternacht, Hinteres St. Johann
Blassgelbes Licht, heller Backstein. Davor eingepackte Pflanzen, die nicht hierher gehören, aber halt so gut aussehen, was will man machen. Vereinzelt warmes Licht aus Fenstern mit selbstbedruckten Gardinen, dahinter Lichterketten, Fotos an der Küchenzeile, Moulinex Cuisine Companions, die so viel kosten wie dreissigtausend Gramm Gelée-Mandarinli.
0.05 Uhr, Breite
Der St. Alban-Teich kriecht schwarz durchs Quartier, drüber biegen sich die Buchen. Es windet. Ungelenk liegen vereinzelt Velos auf der Strasse, kein Mensch zu sehen. Das ist jetzt also die Breite bei Nacht. Menschenleer, fahl, orange, gleichgültig, selbstvergessen, schön.
0.15 Uhr, Claramatte
Der Sturm hat eine Pause eingelegt. Bei einer Parterrewohnung steht ein Rollladen halb offen, der Fernseher flimmert hell. Während ich darüber sinniere, wer da wohl weshalb schlaflos vor der Kiste fristet, nähert sich mir eine Dame in kniehohen Stiefeln. Sie bekundet professionelles Interesse, ich lehne dankend ab.
0.20 Uhr, Zürcherstrasse
Die Fische beim Pizzakurier XXLarge haben Feierabend, im Aquarium ists zappenduster. Aber an der Theke, da brennt noch Licht. Huschhusch hinein, ein Bier bestellt und mit Elisabeth den Flaschenhals gekreuzt. Wohlsein.
Elisabeth: Nachteule, Geschichtenerzählerin, Einheimische. Ihre weissgrauen Locken reichen ihr bis über die Schultern und auf die Pizzabude lässt sie nichts kommen. Die habe zwar türkische Betreiber, aber ganz ehrlich: «Was Besseres brauchst du in der Stadt nicht zu suchen.»
0.30 Uhr, Lothringerplatz
«Eh, voi! Eh! Come stai?» Festus steht vor dem Kiosk und verstaut sein Handy in der Tasche, mit dem er vorher noch lautstark telefoniert hat. Ich schaue auf. «Italiano?» Ich lege den Kopf schief, lieber Englisch. Er nickt und lacht. «You walk with me?»
0.40 Uhr, Zürcherstrasse
Der Sturm reisst am Raucherzelt, Elisabeth weiss, wie der Heizpilz angeht. Sie komme auch wegen Schmusi, dem jungen Türken. Der habe ihr am Anfang mal eine «Büx» hingestellt, einfach so aus Freundlichkeit, seither nennt sie ihn Schmusi. Das sei nichts Anzügliches, sondern nur nett gemeint. Ein ganz feiner Kerl ist der Schmusi und sie trinkt hier gern ihr Feierabendbier oder zwei. Elisabeth wohnt noch nicht so lange in der Breite, aber ihr gehts gut hier. Eine gute Gegend, die Breite, da könne man nichts sagen.
0.45 Uhr, Lothringerstrasse
Fünfzehn Minuten Festus für ein ganzes Festus-Leben: Kindheit in Nigeria, mit 17 aufs Schlepperboot Richtung Italien. Nicht ertrunken, aber fast, gehört halt dazu. Mutter, Vater und Bruder immer noch zuhause, sie vermissen ihn. Wenn er genug Geld hat, ruft er seine Mamma an, er sagt mittlerweile Mamma zu ihr, die acht Jahre in Italien haben ihn geprägt. Sie weint oft am Telefon und er sagt dann jeweils, bald komme er zurück. War er schon einmal zurück? Er schüttelt den Kopf. Aber bald! Jetzt erstmal Basel. Seit drei Tagen ist er schon hier, er wohnt bei einem Freund.
0.50 Uhr, Steinenvorstadt
Im Modegeschäft steht ein Flachbildschirm, auf dem ein Model seine Garderobe vorführt, immer wieder. Es heisst Brian.
0.55 Uhr, Gasstrasse
Festus sagt: «Du bist die erste Person hier, die mit mir redet.»
1.00 Uhr, Zürcherstrasse
Im Restaurant Café Breite, der «letzten Baiz vor der Autobahn» war schon Zapfenstreich. Serhat wischt die Theke und Toni steht noch rum. Er ist heute 24 Jahre mit seiner Frau verheiratet, am «Wilde Maa» hatte sie damals einer verkuppelt. «Und jetzt hör dir das an», sagt Toni und dreht sein Natel auf: Da läuft sein Lieblingssong, einer von SkaP. Und jedesmal wenn seine Frau anruft, dann läuft dieser Song. «Geil oder?» Toni liebt seine Frau so wie er diesen Song liebt. Mal nimmt er ab, mal hört er den Song einfach so lange, bis sie aufhängt.
1.05 Uhr, Oberes St. Johann
Wir umarmen uns zum Abschied. Festus zieht seine Mütze ins Gesicht, läuft langsam weg, bleibt dann stehen und dreht sich nochmal um: «Eh! Voi! Heirate deinen Freund! Und glaube an Gott! Dann bist du nie mehr allein.»
1.20 Uhr, Klybeckstrasse
Zwei junge Männer zanken sich: «Ich schwör’, wir müssen irgendwo hineingehen. Dieser Sturm hört sich genauso an wie damals Lothar.» – «Ich kann aber noch nicht reingehen.» – «Es ist gefährlich, bald fliegen die Ziegel von den Dächern.» – «Muss Pokémon jagen.»
1.25 Uhr, Ampèreplatz
Ein Teppich aus Glasscherben liegt vor der Voltahalle. Dumpfe Musik dröhnt heraus. Semesterabschluss der FHNW Architektur, erklärt jemand. «Geh rein, das Bier ist super billig!»
1.30 Uhr, Rebgasse
Eine Szenerie wie in einem Endzeit-Game: verdrehte Strassenschilder, umgekippte Velos, Plastiksäcke, die durch die Strassen taumeln, als ob sie fremdartige Lebewesen wären. Die Irrsinn-Bar hat bereits geschlossen. Schade, dann halt ins «Renée», der zuverlässigsten Anlaufstelle für muntere Schlaflose.
1.35 Uhr, Ampèreplatz
Das Bier ist super billig.
1.40 Uhr, Gerbergässlein
Durch den engen Spalt zwischen den Dächern leuchtet dunstig der Mond, vor seiner Silhouette ziehen rasend schnell graue Wolken vorbei. Im Lohnhofgässlein peitscht der Wind die Äste des einzigen Baums auf dem Plätzchen. Ein warmes Licht kommt aus einer Stube mit Holztäfer, ein anderes Fenster leuchtet rot.
1.45 Uhr, Zürcherstrasse
Ein wenig wippen wir noch zu SkaP und dem Lied «Babuschka» von Erste Allgemeine Verunsicherung, weil das hat Toni auch noch auf dem Natel. Der Sturm schmeisst beim Coop auch noch den dritten Abfallcontainer um. Ich mach’ die Kurve.
1.50 Uhr, Ampèreplatz
Vor dem Seiteneingang der Voltahalle stehen die Raucher. Einige sagen interessante Sachen, andere nicht. Immer geht es um Architektur oder um Alkohol oder um Liebe. Plötzlich steht eine Ambulanz auf dem Platz, niemand ist entsetzt. Hier hört das St. Johann auf und hier verabschiedet es sich: Geldklammern und Krankenwagen.
1.55 Uhr, Gerbergässlein
Es wäre schön, wenn nur nicht dieses Knacken in den Wasserrohren wäre. Der Barfi und die Leute sind plötzlich weit, weit weg. Bewegt sich da etwas? Schnell weg hier.
2.00 Uhr, Klingental
Ein Betrunkener lässt sich im «Renée» auf den Stuhl neben mir fallen. Ich frage ihn, ob er ein Nachtmensch sei. «Ich kann nicht anders», meint er. Er führe eine Werbeagentur und die Nacht sei sein einziger Moment der Ruhe. «Ich entscheide mich meist für die Ruhe und gegen den Schlaf.»
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Die TagesWoche bringt Licht ins Dunkel der Nacht mit einem Schwerpunkt. Bisher erschienen:
- Herr Massmünster, was macht die Nacht in Basel aus? Interview mit dem Soziologen Michel Massmünster, der die Nacht erforscht.
- Der frühe Vogel kann mich mal. Weshalb unser Sportredaktor die Nacht dem Tag vorzieht.
- Ein Bild, das die Welt um ihren Schlaf brachte. Passend zum Thema – das Kultwerk: «Nachtmahr» von Johann Heinrich Füssli.
- Diese Schlafflüsterer helfen beim Eindösen. Was steckt hinter dem ominösen Trend der ASMR-Videos auf Youtube?
- Nach diesem Interview wissen Sie alles, was Sie über die Nacht wissen müssen. Antworten auf Nachtfragen vom Basler Sternwärter.