«Auch wir haben Angst um unsere Familien und Freunde in Mexiko»

Der mutmassliche Massenmord an 43 Studenten in Mexiko sorgt weltweit für Empörung. Laura Arnaud und Esdra Cordova haben vor Kurzem in Basel eine Demonstration organisiert. Im Interview sprechen die beiden über Korruption und Kriminalität in ihrem Heimatland.

(Bild: Felix Michel)

Der mutmassliche Massenmord an 43 Studenten in Mexiko sorgt weltweit für Empörung. Laura Arnaud und Esdra Cordova haben vor Kurzem in Basel eine Demonstration organisiert. Im Interview sprechen die beiden über Korruption und Kriminalität in ihrem Heimatland.

Weltweit sorgt das Verschwinden von 43 Lehramtstudenten im mexikanischen Bundesstaat Guerrero für Aufsehen. Mit verschiedenen Hashtags wie #AyotzinapaSomosTodos oder #YaMeCanse drücken Nutzer auf der ganzen Welt ihre Wut und Enttäuschung aus.

Die Empörung dringt bis nach Basel vor. Wegen der mutmasslichen Tötung der 43 Studenten aus Ayoptzinapa wurde während eines Anlasses an der Universität Basel der Rücktritt des mexikanischen Botschafters in der Schweiz gefordert. Am 20. November, dem Tag der Revolution in Mexiko, wurde auf dem Marktplatz in Basel der 43 Studenten gedacht. Laura Arnaud und Esdra Cordova, zwei in Basel lebende Mexikanerinnen, haben die Kundgebung organisiert.

Frau Arnaud, Frau Cordova, warum sind in Mexiko 43 Studenten verschwunden?

Cordova: Anscheinend wollten die Studenten eine Veranstaltung der Frau des Bürgermeisters José Luis Abarca stören. Nach einer Konfrontation mit der Polizei, bei der sechs Personen erschossen worden sind, wurden 43 Studenten von der Polizei festgenommen und landeten schliesslich in den Händen einer kriminellen Organisation, der Guerreros Unidos. Bei all diesen Ereignissen scheint Abarca eine Schlüsselrolle gespielt zu haben.

Arnaud: Der Fall von Ayotzinapa zeigt, dass der Staat von Korruption und Straflosigkeit unterwandert wird. Die Autoritäten, egal auf welchem Niveau, können machen, was sie wollen. In Mexiko wird sie niemand bestrafen.

Cordova: Ayotzinapa ist nicht der erste Fall. 1968 zum Beispiel sind während eines massiven Protests Hunderte Studenten auf Befehl der Regierung ermordet worden. Es ist aber damals nichts passiert, der Präsident blieb im Amt. Die Leute haben Angst und brauchen Mut, um sich von diesem korrupten System zu befreien.



Laura Arnaud (links) und Esdra Cordova diskutieren, welche Veränderungen in Mexiko nötig sind.

Laura Arnaud (links) und Esdra Cordova diskutieren, welche Veränderungen in Mexiko nötig sind. (Bild: Felix Michel)

Waren die Studenten für die Regierung eine Bedrohung?

Arnaud: Studenten sind immer wieder eine Art Bedrohung für die Regierung. Die «normalistas» (Lehramtstudenten) von Ayotzinapa kommen von einer ländlichen Schule, die bekannt ist für ihre linke Ideologie. Auch der berühmte Revolutionär Lucio Cabañas hat an dieser Schule studiert. In ländlichen Gebieten sind solche teils radikalen Bewegungen sehr stark geblieben. Das ist für die Regierung unangenehm. Student zu sein ist im Moment in Mexiko gefährlich. Auch beim Protest am 20. November in Mexico City wurden viele Studenten festgenommen.

Cordova: Manchmal landen solche Studenten wie Verbrecher in einem Hochsicherheitsgefängnis. Auch Abarca wurde mittlerweile festgenommen, aber was passiert nun mit ihm? Das weiss niemand. Bis wann können wir das dulden?

Wie reagiert die Regierung auf die Ereignisse von Iguala?

Arnaud: Der Präsident redet weiter und behauptet, dass er für Gerechtigkeit sorgen wird. Aber warum gibt es keine weiteren Hinweise dafür, was ist mit den 43 verschwundenen Studenten passiert ist? In anderen Ländern würde der Präsident zurücktreten. Aber Peña Nieto bleibt im Amt, obwohl viele Mexikaner seinen Rücktritt fordern.

Seit Calderon 2010 der Drogenmafia den Krieg erklärt hat, gelten 30’000 Personen als nicht auffindbar. Warum erhitzt gerade der Fall von Ayotzinapa die Gemüter?

Cordova: Die Ereignisse von Ayotzinapa zeigen nicht einen Kampf zwischen verfeindeten Clans, bei dem Hunderte Personen irgendwo in der Wüste verschwinden wie zum Beispiel in Coahuila.

Arnaud: Der Abend von Iguala war anders. Die Presse hat die Schiessereien selbst erlebt. Ein Student filmte, während die Polizisten zu schiessen begannen. Die Beweise liegen vor, dass die Polizei die Studenten festgenommen und sie danach an die Guerreros Unidos weitergegeben hat. Die Beweise sind eindeutig. Es bleibt aber auch vieles unklar. Was ist da genau passiert? Viele Fragen bleiben offen.

Welche Fragen kann man beantworten?

Arnaud: Klar ist, dass die Polizei mit einer kriminellen Organisation zusammengearbeitet hat, um die Studenten zu beseitigen. Die Ereignisse von Ayotzinapa sind nur die Spitze des Eisbergs. Ich finde, dieses Bild mit dem Skelett des Adlers und den Totenköpfen bringt die Situation in Mexiko symbolisch auf den Punkt.

Ist die momentane Empörung in Mexiko und in den sozialen Medien wie Twitter oder Facebook nur vorübergehend?

Arnaud: Ich denke nicht. Die Menschen haben das Bedürfnis, etwas zu sagen. Viele Leute machen mit, und der Ruf ist immer der Gleiche: Gerechtigkeit, keine Korruption und keine Straflosigkeit. Das ist eine wichtige Basis für weitere Entwicklungen.

Leitet Ayotzinapa einen mexikanischen Frühling ein?

Arnaud: Hoffentlich ohne Gewalt.

Cordova: Ich glaube, es ist ein Prozess, der Zeit braucht. Die Menschen, die jetzt auf der Strasse protestieren, machen vielleicht ein Viertel der Bevölkerung aus. Die Ereignisse bewegen viele Parteien, viele Politiker wollen neue Wege gehen. Mexiko wird sich nicht von heute auf morgen verändern. Aber wenn weitere Fälle dazukommen, dass demonstrierende Studenten einfach festgenommen werden, dann gehen vielleicht immer mehr Leute auf die Strasse. Einen Aufstand mit Waffengewalt sehe ich im Moment allerdings nicht.

Was muss sich in Mexiko verändern, damit Ereignisse wie in Ayotzinapa nicht mehr passieren?

Arnaud: Die Veränderungen müssen auf sehr vielen Ebenen stattfinden, zum Teil bestimmt auf Regierungsebene. Gewisse Veränderungen werden schneller passieren. Die mexikanische Gesellschaft ist aber vor allem als Ganzes gefordert. Der Grossteil der Verantwortung liegt in den Händen der Mexikaner. Viele verhalten sich im Alltag korrupt. Zum Beispiel Verkehrsgesetze: Wenn ein Polizist eine Busse ausstellen will, dann bezahlen viele Mexikaner den Polizisten, damit er sie in Ruhe lässt. Genau in diesen alltäglichen Bereichen muss sich die Gesellschaft aber verändern.

Was bedeuten die Ereignisse in Mexiko für die mexikanische Gemeinschaft in Basel?

Cordova: Wir sind betroffen. Wir haben auch Angst um unsere Familien und Freunde, die in Mexiko leben. Wir sorgen uns um unser Land. Es wäre schön, wenn die Menschen in Mexiko die gleiche Lebensqualität hätten wie wir hier in Basel.

Arnaud: Es tut weh, zu sehen, wie das alles im Moment läuft. Wir müssen jetzt zusammenhalten und weiterhin Druck machen. Die weltweiten Proteste sind wichtig, um die Probleme in Mexiko sichtbar zu machen.

Nächster Artikel