In Basel-Stadt erhalten Kindergarten-Kinder Lernberichte mit Beurteilungen nach Fachbereichen. Die Lehrpersonen bewerten Kriterien wie: «– verfügt über einen differenzierten Wortschatz», oder: «– kann kulturelle und religiöse Grunderfahrungen erleben, reflektieren und mit gestalten». Was halten Sie davon, Herr Largo?
Das macht mich nicht nur sprachlos, sondern auch traurig. Dahinter steckt ein Leistungsdenken, das leider nun auch den Kindergarten erfasst hat. Es setzt die Eltern und Kinder gewaltig unter Druck, was offenbar beabsichtigt ist. Wir alle, nicht nur die Verantwortlichen im Bildungssystem, müssen uns wirklich fragen: Was haben wir für ein Menschenbild? Was ist die Aufgabe des Bildungssystems? Das Kind ist doch keine Knetmasse, die wir nach unserem Gutdünken formen können. Eine sehr wichtige Frage wäre beispielsweise: Bekommt ein Kind die notwendige Geborgenheit und Zuwendung? Denn nur dann kann es gut lernen. Viele Fragen sollten wir nicht an die Kinder, sondern an uns Erwachsene stellen!
Die Kinder füllen mit den Kindergarten-Lehrpersonen auch eine Selbsteinschätzung aus – mit Kategorien wie «Ich kann singen» oder «Ich verstehe, was andere sagen». Was macht das mit den Kindern?
Die Kinder müssen sich mit den anderen Kindern vergleichen. Das fördert das Leistungsdenken unter den Kindern, beeinträchtigt ihr Selbstwertgefühl und macht sie einsam. «Ich verstehe, was andere sagen»: Diese Fragen nehme ich in meine Kartei unsinniger Pädagogik auf. Worum es beispielsweise wirklich geht: Haben wir Erwachsenen die Umgebung des Kindes so gestaltet, dass es die notwendigen entwicklungsspezifischen Erfahrungen machen kann? Wiederum sollten wir nicht das Kind, sondern uns selbst hinterfragen! Wenn das der Fall ist, wird sich das Kind aus sich heraus entwickeln. Das macht es nämlich seit mehr als 200’000 Jahren.
Vor 200’000 Jahren mussten Menschen auch eher Beeren pflücken und Tiere jagen. Heute stellt die Gesellschaft ganz andere Anforderungen. Muss man Kinder nicht auf den späteren Leistungsdruck vorbereiten?
Wir gehen davon aus, dass Kinder jede Anforderung bewältigen können. Sie sollen nur kräftig auswendig lernen, dann werden sie schon klüger. Das stimmt so nicht. Nur – möglichst selbstbestimmte – Erfahrungen tragen zum nachhaltigen Lernen bei. Und: Jedes Kind will sein Begabungspotenzial realisieren. Was aber kein Kind kann, ist sein Potenzial übersteigen. Zwingen wir es dazu, wird es demotiviert und fällt schlimmstenfalls in ein Burnout. Ja, Burnout gibt es neuerdings auch bei Kindern. Kinder, die buchstäblich stillstehen.
«Ich wünsche mir autonome Schulen, die wie die Volksschule subventioniert werden.»
Welche Art der Beurteilung wäre aus Ihrer Sicht denn kindgerecht und ab wann sollte man diese einführen?
Ich halte gar nichts von Beurteilungen. Johne Hatties Metaanalyse von Tausenden Studien, an denen 230 Millionen Kinder teilnahmen, hat gezeigt: Prüfungsnoten bringen nichts. Eine kindgerechte Pädagogik holt die Kinder dort ab, wo sie entwicklungsmässig stehen. In der ersten Klasse variiert der Entwicklungsstand der Kinder zwischen 5,5 und 8,5 Jahren, mit 13 Jahren zwischen 10 und 16 Jahren. Wie sollen da Noten den Kindern gerecht werden?
Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen, wenn diese in der Schule unter zu viel Leistungsdruck leiden?
Das ist die Frage, die ich am meisten fürchte. Die meisten Eltern haben doch gar keine Wahl! Sie können mit den Lehrern reden, aber die stehen ja auch unter Druck. Ich wünsche mir autonome Schulen, die wie die Volksschule subventioniert werden. Solche Schulen würden nicht mehr kosten, aber viele Kinder, Eltern und Lehrer glücklicher machen. Die vor allem aber junge Erwachsene hervorbringen, die nicht durch neun Jahre Schule in ihrem Selbstwertgefühl so geknickt sind, dass sie nicht mehr daran glauben, in dieser Welt bestehen zu können. Bestenfalls können Kinder in der Schule ihr individuelles Begabungspotenzial realisieren, sind sozial kompetent und erhalten sich ein gutes Selbstwertgefühl und eine gute Selbstwirksamkeit: «Ich kann in dieser Welt bestehen.»
Das Interview wurde schriftlich geführt.