Was tut die Politik gegen den Leistungsdruck?

Seit 2013 werden Kinder bereits im Kindergarten nach Fächern bewertet. Lehrerinnen und Lehrer steigen auf die Barrikaden. In der Politik will trotzdem fast niemand etwas dagegen tun.

Erziehungsdirektor Conradin Cramer besucht eine Klasse am Gottfried-Keller-Schulhaus: Ob sein Besuch die Schülerinnen und Schüler noch mehr unter Druck setzte? (Bild: Keystone)

Die Reaktionen unserer Leserschaft auf den Schwerpunkt «Leistungsdruck an Primarschulen» waren aussergewöhnlich: Es herrschte fast unheimliche Einigkeit. Fast ausnahmslos fanden Leserinnen und Leser, der Druck auf die Kleinsten müsse aufhören. «Lernberichte im Kindergarten? Hackts?», schrieb eine Leserin auf Facebook. Eine andere fragte: «Warum gehen wir Eltern nicht auf die Strasse, um diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen?»

Die Eltern, die so denken, haben derzeit in der Basler Politik keinen Rückhalt: Gegen die Beurteilungen im Kindergarten und den unteren Primarschulstufen gibt es von Politikerinnen und Politikern höchstens leise Kritik. Mehr als Kleinigkeiten wollen sie nicht verändern. Selbst die ultralinke BastA! will nicht viel am Status quo ändern. Dazu später mehr.

Kaum Handlungsspielraum

Die gesetzliche Grundlage für die Lernberichte ist die Laufbahnverordnung. Diese schreibt vor, wann, wie und wie viele Lernberichte und Zeugnisse Lehrpersonen ausfüllen müssen. Zum Beispiel müssen Kindergarten-Lehrpersonen einen siebenseitigen Lernbericht ausfüllen, der die Kinder nach Fachbereichen und Sozialverhalten beurteilt. Zum Beispiel nach Kriterien wie: «- kann eine Anzahl von Objekten zuordnen». Oder: «- trägt einfache Verse, Reime und Lieder angemessen vor».

Die Verordnung gewährt praktisch keinen Handlungsspielraum – das mussten zwölf Primarlehrerinnen und -lehrer am Gotthelf-Schulhaus erfahren, als sie Lernberichte und Zeugnisse in der ersten Klasse nur auf Wunsch der Eltern abgeben wollten (die TagesWoche berichtete).

2012 wurde die Verordnung unter dem damaligen Erziehungsdirektor Christoph Eymann grundlegend überarbeitet. Zusätzlich zu den Lernberichten sollten die Kinder ab der ersten Klasse auch Zeugnisse mit vier Prädikaten – zum Beispiel «Mittlere Anforderungen erfüllt» – und ab der fünften Klasse Noten erhalten.

Die Kritik der Lehrer verhallte neben dem Ruf der Wirtschaft nach früher Beurteilung.

«Harmonisierung» – so hiess damals das Zauberwort, unter dem das ganze Schulsystem umgekrempelt wurde. Basel-Stadt sollte an die Nachbarkantone angeglichen werden. In Baselland gab es schon vor der fünften Klasse Noten, dafür waren die Lernberichte im Kindergarten freiwillig.

Neben der Anpassung der Laufbahnverordnung wurden weitere Dinge angepasst. Zum Beispiel die Orientierungsschule (OS) abgeschafft und die Integration von Kleinklassen in die Volksschule vollzogen. Diese Änderungen hätten die Debatte um Lernberichte «fast vollständig überstrahlt», erklärt Jean-Michel Héritier von der Freiwilligen Schulsynode, der Gewerkschaft der Basler Lehrkräfte.

«Die Änderungen der Laufbahnverordnung wurden von der Politik eigentlich überhaupt nicht wahrgenommen», sagt Héritier. Zwar meldeten Basler Lehrerinnen und Lehrer verhaltene Kritik an, diese sei jedoch neben dem Ruf von Wirtschaftsverbänden nach frühen Beurteilungen verhallt.

Eymanns Ziel deutlich verfehlt

Im Hinblick auf die Änderung der Laufbahnverordnung sagte der damalige Erziehungsdirektor Christoph Eymann 2012 in einem Interview mit der «Basler Zeitung»:

«Wir wollen in absehbarer Zeit die gleiche Schule haben in Basel-Stadt und Baselland. Das wäre dann zum ersten Mal der Fall seit der Kantonstrennung, und entsprechend sind wir auch ein wenig stolz darauf. Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses Ziel erreichen.»

Rückblickend lässt sich sagen: Das Ziel wurde verfehlt. Schuld daran war nicht die Stadt, sondern vielmehr der Landkanton, der mit immer neuen Initiativen von den umliegenden Kantonen wegdriftet. So macht Baselland zum Beispiel beim Lehrplan 21 nur begrenzt mit, was eine gemeinsame Planung der Stundentafeln obsolet macht. Héritier sagt: «Man hat damals eindeutig aufs falsche Pferd gesetzt.»

Und was sagt Cramer zum Leistungsdruck?

Momentan sei man dabei, die Laufbahnverordnung zu überprüfen und allenfalls anzupassen, gab das Erziehungsdepartement (ED) kürzlich bekannt. Dafür habe man eine Arbeitsgruppe eingesetzt.

Letztlich liegt es am Erziehungsdirektor Conradin Cramer (LDP) und dem Gesamtregierungsrat, die Verordnung anzupassen. Was Cramer über Leistungsdruck sagt, lässt jedoch Zweifel aufkommen, dass sich Grundlegendes an der Verordnung ändern wird:

«Es ist in meinen Augen in jedem Fall sinnvoll, Kindern und Jugendlichen zu ihren Leistungen, zu ihrem sozialen Verhalten und zu ihrem Arbeitsverhalten Rückmeldungen zu geben. Dieses Feedback muss aber altersgerecht, konstruktiv und positiv sein.»

Die Kinder sollten «unbelastet und in jedem Fall absolut angstfrei arbeiten dürfen», ein Feedback sollten sie jedoch auch erhalten. Denn: «Positive Feedbacks sowieso, aber auch negative Feedbacks sind besser als kein Feedback – sofern die Form des Feedbacks stimmt.»

Cramer will also an den Beurteilungen grundsätzlich festhalten. Etwas anders sieht das Katja Christ von den Grünliberalen. Siebenseitige Lernberichte an Kindergärten sind für sie «jenseits». Die Analyse des Sozialverhaltens mache für sie auch an der Primarschule keinen Sinn, so Christ.

Ganz auf Beurteilungen zu verzichten, wäre für Christ aber auch falsch. «Für einen Grossteil der Kinder kann die Rückmeldung zur eigenen Leistung ein Motivationsschub bedeuten. Sie möchten auch in einen Wettbewerb treten.»

BastA! sieht auch Positives an Lernberichten

Alexander Gröflin von der SVP unterstreicht dieses Argument. «Man tut dem Kind keinen Gefallen, wenn man auf Leistungsbeurteilungen verzichtet.» Aus eigener Erfahrung könne er sagen, «dass ich nur durch Druck angefangen habe, zu lernen». Mit einem Verzicht auf Noten und Bewertungen würden die Schülerinnen und Schüler auch nicht auf die Realität vorbereitet – denn diese folge nun mal häufig dem Leistungsgedanken.

In der BastA! sind die Meinungen zu Lernberichten noch nicht abschliessend gemacht. Die Partei-Co-Präsidentin Heidi Mück meint, die Lernberichte in den Kindergärten könnten auch eine Chance sein, «dass alle Kinder die gleiche Aufmerksamkeit erhalten und die Lehrperson sich mit allen gleich auseinandersetzt». Darauf habe sie eine Mutter kürzlich aufmerksam gemacht. Ihre frühere Meinung, die Beurteilungen für Kindergarten- und Primarschulkinder seien falsch, würde sie deshalb überdenken.

«Spielerisch lernen – ohne Druck»

Beatrice Messerli, ebenfalls BastA!, findet hingegen wenig Gutes an Lernberichten im Kindergarten und den unteren Primarschulstufen. «Ich sehe nicht ein, warum Kindergartenkinder bereits Leistungen erbringen müssen. Sie sollen spielen und spielerisch lernen – ohne Druck.»

Eine Lösung wäre für sie, auf Lernberichte im Kindergarten zu verzichten und die Beurteilungen in den unteren Primarschulstufen auf einige Fächer zu beschränken. Keine radikale Änderung also, aber kleinere Anpassungen. «Wichtig ist mir vor allem, dass die Meinung der Lehrpersonen hoch gewichtet wird.»

Messerli will die Vorschläge der Arbeitsgruppe abwarten, die das ED eingesetzt hat. Falls diese Vorschläge jedoch wenig bringen, werde sie allenfalls politisch vorgehen, um den Leistungsdruck für Kindergarten- und Primarschulkinder zu mindern.

Remo Largo und die Suche nach dem Kompromiss

Remo Largo, das pädagogische Gewissen der Nation, erklärte unlängst im Interview mit der TagesWoche, warum er Beurteilungen in der Schule und erst recht im Kindergarten für falsch hält.

Sein Votum mag Eltern und Lehrpersonen beeindrucken, Politiker halten dem Anschein nach aber nichts davon. Sie sind darauf bedacht, Kompromisse zu finden, die möglichst allen Parteien und Interessenverbänden gerecht werden – ob sie dem Kind gerecht werden, das ist eine andere Frage.

Dossier Kinder unter Druck

Schon Kindergärtler werden in Basel-Stadt auf Leistung getrimmt. Die heutige Schule stresst Kinder, Eltern und Lehrer.

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