«Der Tod ist mir wurst»

Der frühere SP-Politiker und stolze Bebbi-Bryys-Träger Carl Miville spricht über seine Partei, sein Leben und das Sterben.

Carl Miville prägte die Basler SP rund 50 Jahre lang mit. Noch langlebiger ist seine Leidenschaft für den Basler Dialekt. (Bild: Nils Fisch)

Der frühere SP-Politiker und stolze Bebbi-Bryys-Träger Carl Miville spricht über seine Partei, sein Leben und das Sterben.

Es dauert ein wenig, bis es Carl Miville zur Türe geschafft hat und er uns in seine Wohnung im Gellert hineinlassen kann. Normalerweise übernimmt seine Betreuerin diesen Job, doch diese ist über Ostern nach Hause gefahren und so ist der 93-Jährige auf sich alleine gestellt.

Der ehemalige SP-Politiker sitzt auf dem beigen Sofa, in der Hand eine Mappe mit alten Zeitungsartikeln, in denen von ihm die Rede ist. Bewegen kann sich der frühere Ständerat zwar nicht mehr gut, doch geistig ist er fit – er scheint sich an jede Episode aus seinem Leben erinnern zu können. Miville redet viel und gerne. Vor wenigen Tagen wurde er für sein Lebenswerk für die Baseldeutsche Kultur mit dem Bebbi-Bryys der Bürgergemeinde ausgezeichnet. Ein Preis, der ihn sichtlich stolz macht. Überhaupt blickt Milville zufrieden zurück – und spricht offen, aber ohne Groll über seinen Vater, seine Betreuerinnen und seine Partei.

Herr Mivillle, Sie sind nun 93 Jahre alt. Wie geht es Ihnen?

Ich habe Mühe mit dem Gehen, nach einer gewissen Strecke fängt alles an zu streiken. Es ist überhaupt schwierig, mich zu bewegen. Aber sonst ist alles in Ordnung, mir ist nicht langweilig. Mein Leben ist einfach physisch anstrengend. Zum Glück kann ich auf eine gute Betreuung zählen.

Wer betreut Sie denn?

Ich lebe hier mit zwei polnischen Frauen, die sich den ganzen Tag um mich kümmern und im ehemaligen Zimmer meiner Tochter schlafen. Die beiden Polinnen bleiben je drei Monate in Basel. Wenn die eine nach Hause geht, kommt die andere und löst sie ab. Meine Betreuerinnen fühlen sich wohl in Basel – sie kennen mein Umfeld, mein Umfeld kennt sie. Das ist eine wunderbare Lösung für mich. Wissen Sie, ohne diese Unterstützung wäre es unmöglich für mich, in dieser Maisonettewohnung zu leben. Diese Treppe war das Ende meiner Frau: Sie stürzte und erholte sich nicht mehr davon. Vor vier Jahren starb sie. Ich kann glücklicherweise noch Treppen steigen, dafür ist meine Muskulatur noch einigermassen zu gebrauchen. Alles andere ist jedoch schwierig.

Trotzdem scheinen Sie noch viel unterwegs zu sein. Man sieht Sie oft an gesellschaftlichen Anlässen.

Dank meinen Betreuerinnen geht das. Ich fände es auch schade, wenn ich nur noch zu Hause sitzen und keine Menschen mehr sehen würde – und ich bekomme noch ziemlich viele Einladungen. Ich brauche das Leben in der Öffentlichkeit irgendwie.  

Vor wenigen Tagen haben Sie den Bebbi-Bryys der Bürgergemeinde für Ihr Lebenswerk für die Baseldeutsche Kultur erhalten. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?

Sehr viel. Er ist eine Anerkennung für meine Arbeit. Ich freue mich wahnsinnig darüber.

Weshalb ist Ihnen die Pflege des Baseldeutschen ein derart grosses Anliegen?

Das hat mit der Geschichte meiner Familie zu tun, die 1608 in Basel eingebürgert wurde. Unsere Familie legte viel Wert auf den Dialekt. Ich bin Basler durch und durch. Ich betrachte es als Auftrag, mich für diese Stadt und ihre Kultur einzusetzen – und ich bemühe mich, diesem Anspruch an mich selbst gerecht zu werden. Deshalb verfolge ich die Entwicklung des Baseldeutschen sehr aufmerksam mit und versuche, kleine Mauern gegen sein Verschwinden zu bauen.

«Man denkt in alten Denkmustern, weil man zu viele Gegebenheiten an dem misst, was man erlebt hat. Dabei ist unterdessen alles ganz anders geworden.»

Und gelingt das?

Ich stelle fest, dass das Hochdeutsche einen gewaltigen Einfluss auf unseren Dialekt nimmt. Es gibt immer mehr solche Ausdrücke in unserer Sprache. Die Leute denken schon gar nicht mehr in Dialekt, sondern in Hochdeutsch. Ich nenne Ihnen jetzt zwei Beispiele: «Träppe» ist falsch, es heisst «Stääge». Es heisst auch nicht «Herusforderig», sondern «Uuseforderig». Die Leute übersetzen die Wörter zu wenig.

Nervt Sie das?

Nein, das nicht gerade. Aber ich bedaure diese Entwicklung. Umso erfreulicher ist es, wenn ich hin und wieder mitbekomme, wie perfekt Baseldeutsch gesprochen wird.

So wie es nur noch Mitglieder des Daig tun?

Nein, diese Ansicht teile ich nicht. Gut Baseldeutsch reden die, deren Grosseltern oder Eltern in Basel aufgewachsen sind. Das kann in jeder Schicht sein – nicht nur im Daig.

Können Sie überhaupt mit jemandem ein Gespräch führen, ohne ihn zu korrigieren?

Ich nehme den Dialekt des Gegenübers einfach wahr. Aber besonders nahe geht es mir nicht. Ab und zu korrigiere ich diese Person, wenn mir etwas auffällt – aber nur nebenbei. Es wäre ja schrecklich, wenn ich nur noch am Korrigieren wäre und mich nicht mehr richtig mit den Leuten unterhalten könnte.

Sie weisen Journalisten elektronischer Medien gerne mit Briefen auf Fehler hin. Lohnt sich dieser Aufwand?

Jetzt mache ich das nicht mehr, ich habe vor Kurzem damit aufgehört. Wenn ich früher einen komischen Ausdruck im Radio oder im Fernsehen gehört hatte, setzte ich mich an meine Schreibmaschine und schrieb seitenlange Briefe mit Verbesserungsvorschlägen – oder ich rief die Redaktion an. Ich war immer der Meinung, dass sich mein Aufwand nicht lohnen würde, dass er in keinem Verhältnis zum Ertrag stehen würde. Auf den Redaktionen war man allerdings anderer Meinung, man ermunterte mich zum Weitermachen. Nun aber ist mir das mit meinen 93 Jahren zu anstrengend geworden.

Was war das Prägendste in Ihrem Leben?

Da gibt es ein paar Sachen. Beispielsweise meine Familie, die mich zum Basler erzogen hat.

Zu Ihrem Vater, dem Regierungs- und Nationalrat Carl Miville Senior, hatten Sie allerdings ein angespanntes Verhältnis.

Mein Vater hat als Regierungs- und Nationalrat der SP 1944 zur Partei der Arbeit, der PdA, gewechselt – also mit zwei sozialdemokratischen Mandaten im Sack. Es meinten viele Intellektuelle in dieser Zeit, dass es in der PdA eine neue Sozialdemokratie geben würde – fernab vom Stalinismus, doch das hat sich nicht bewahrheitet. Sie müssen sich mal vorstellen, wie hasserfüllt sich die beiden Parteien nach der Spaltung gegenüberstanden. Ich war in dieser Zeit Parteisekretär der SP, was das Verhältnis zu meinem Vater sehr belastet hat.

Inwiefern?

Wir konnten nicht mehr anständig miteinander reden. Diese schwierige Zeit fand ihr Ende aber anno 1950, als er von der PdA ausgeschlossen wurde, weil er deren zunehmende Abhängigkeit von der Sowjetunion kritisiert hatte. Nach dieser persönlichen politischen Katastrophe ging er mit meiner Mutter ins Tessin und lebte 25 Jahre dort.

Verfolgen Sie die Basler Politik noch aktiv mit?

Ja, sehr.

Wen wählen Sie am 18. Mai in die Regierung? Martina Bernasconi (GLP), Lukas Engelberger (CVP) oder Eduard Rutschmann (SVP)?

Sie wissen doch, dass man das in der Schweiz niemandem sagt.

«Ich schaue auf ein Leben voller Reichtum, Tätigkeiten und Erlebnisse zurück.»

Einen Versuch war es wert. Und bestimmt sind Sie als bekennender Armee-Befürworter und ehemaliger Wachtmeister für den Gripen?

Ich bin mit Zähneknirschen und einigen Zweifeln eher dafür. Ich war bei diesem Thema immer anderer Meinung als meine Partei, habe mich auch als Ständerat stets für Militärvorlagen stark gemacht. Zumal mich die Dreissigerjahre sehr geprägt haben mit den menschenverachtenden Diktaturen in Deutschland, Italien und Spanien. Man muss sich dagegen wehren können, denn Pazifismus ist auch keine Lösung. Ich rechne es meiner Partei hoch an, dass sie mich für meine Einstellung nie zur Rechenschaft gezogen hat. Vielleicht bezeichneten manche mich als Spinner oder lachten über mich, aber Vorwürfe machten sie mir keine.

Haben Sie eigentlich noch viel mit Ihrer Partei zu tun?

Sehr. Ich besuche etwa viermal im Jahr eine Delegiertenversammlung der Basler SP. Einfach, um zu schauen, wie sie es so machen und wegen den persönlichen Begegnungen. Es interessiert mich, wie es der Partei geht. Ich war so lange für die SP aktiv, da kann ich mich nicht einfach von dieser Partei lösen. Die Politik war mein Leben, mein Lebensinhalt. Aber es gibt eine Regel: Ich mische mich nicht ein. Ich gehe hin, sage «Sali» und schaue, wie sie es machen. Mehr nicht.

Und wie machen sie es?

Es ist faszinierend, wie sich die Partei entwickelt hat. Ich habe die SP noch als Arbeiterpartei erlebt.

Davon ist heute nicht mehr viel zu spüren.

Jetzt ist die SP weitgehend eine Frauenpartei. In dem Moment, als die Arbeiterschaft verschwunden ist und durch Automaten, Mikroprozessoren, Computer oder Gastarbeiter ersetzt wurde, kamen die Frauen und haben einen neuen, stark femininen Zug in die Partei reingebracht. Das führte dazu, dass die Partei wieder gut da steht. Ich habe grosse Freude an der SP und beobachte sie gerne. Aber eben: Ich mische mich nicht ein. Denn wenn man das macht, wäre man nicht so beliebt wie ich es in diesen Kreisen bin. Es wird mir immer noch viel Sympathie entgegengebracht. Aber wenn man alt ist, und das werden Sie auch noch merken, dann ist die vielgelobte Erfahrung auch eine Belastung.

Wie meinen Sie das?

Man denkt in alten Denkmustern, weil man zu viele Gegebenheiten an dem misst, was man erlebt hat. Dabei ist unterdessen alles ganz anders geworden.

Nochmals zurück zu Ihrer SP: Eine wirklich linke Politik machen die drei Regierungsräte Eva Herzog, Hans-Peter Wessels und Christoph Brutschin nicht, wie selbst in der Partei gesagt wird.

Diese Ansicht teile ich nicht. Sie machen eine Politik im Interesse aller, das ist sicherlich nicht eine ausgesprochen linke Politik, aber eine zum Wohle aller – und deshalb haben sie einen guten Ruf. Eva Herzog hat bei den letzten Wahlen ja ein sensationelles Ergebnis erzielt. Ich verkehre – das hängt mit meinem historisch-kulturellen Interesse an Basel zusammen – auch ein bisschen in rechtsbürgerlichen Kreisen. Ich höre immer wieder Lob für unsere Finanzdirektorin. Die Herren aus diesen Kreisen sagen mir, dass sie Eva Herzog nochmals wählen würden, weil sie gut zu den Finanzen schaut und keinerlei Extremismus zeigt. Ich habe grosse Freude an ihr.

Wäre sie auch eine gute Ständerätin?

Von mir aus schon – und gerne.

Anita Fetz will den Sessel jedoch nicht abgeben.

Wie gesagt, ich mische mich nicht ein.

Sie hatten in Ihrem Leben viele Rollen. So waren Sie Gewerkschaftssekretär, Grossratspräsident, Nationalrat, Ständerat und Journalist an verschiedenen Zeitungen. Welche Rolle gefiel Ihnen am besten?

Erstens Ständerat und zweitens Lokalredaktor der AZ, der Arbeiterzeitung. Diese beiden Tätigkeiten stechen hervor. Es war faszinierend, das Vertrauen der Bevölkerung zu haben und einen Halbkanton im Ständerat vertreten zu dürfen. Unglaublich schön war auch meine Zeit als Lokalredaktor bei der AZ. Ich musste so viel selber machen, das war sehr bereichernd.

«Es ist faszinierend, wie sich die Partei entwickelt hat. Ich habe die SP noch als Arbeiterpartei erlebt.»

Betrachten Sie Ihr Leben rückblickend als erfüllt?

Sehr. Und ich bereue auch nichts. Ich schaue auf ein Leben voller Reichtum, Tätigkeiten und Erlebnisse zurück, sodass ich ganz zufrieden dem Ende entgegenblicken kann.

Denken Sie viel über den Tod nach?

Nein, aber wenn er mir in den Sinn kommt, ist er mir Wurst. Der Wert des Lebens liegt nicht in der Anzahl Jahre, sondern in dem, was man gemacht hat. Und ich habe wahnsinnig viel gemacht! Ich hatte ein zufriedenes Leben und kann aus dem Leben gehen wie nach einem guten Essen, bei dem man sagt: «Aadie zämme», und die Türe hinter sich zu macht.

Vielen Dank für das Gespräch. Möchten Sie das Interview vor dem Druck gegenlesen?

Nein, ich will das vorher nicht sehen. Ich war so lange Journalist, dass ich anderen Journalisten primär Vertrauen entgegenbringe. Das war überhaupt mein Motto im Leben. Ich habe allen Leuten zuerst vertraut, bis sie mir das Gegenteil bewiesen. Jetzt bin ich aber gespannt, was Sie aus unserem Gespräch machen.

Carl Miville

Carl Miville (1921) war rund 50 Jahre für die SP in der regionalen und nationalen Politik aktiv. Von 1953 bis 1964 und 1968 bis 1978 gehörte er dem Grossen Rat an, den er in seinem letzten Amtsjahr präsidierte. 1978 wurde der Sohn von Regierungsrat Carl Miville senior Nationalrat, von 1979 bis 1991 war er Ständerat. Miville war ausserdem Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.

In die Politik eingestiegen ist Miville gleich nach dem Krieg, parallel dazu begann er eine journalistische Laufbahn bei der «Basler AZ», für die er von 1956 bis 1961 als Redaktor tätig war. Zudem widmete er sich unermüdlich der Pflege des Baseldeutschen. Er schrieb für diverse Zeitungen Artikel auf oder über Baseldeutsch und gab mit Rudolf Suter und Beat Trachsler das Buch «3x Baseldytsch» heraus. Verfasst hat er auch etliche Zeedel, Schnitzelbänke und Laternenverse. Miville ist Vater eines Sohnes und einer Tochter. Er lebt im Gellert.

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