«In Russland laufen noch immer elf Reaktoren des Typs Tschernobyl»

30 Jahre nach dem Super-GAU in Tschernobyl laufen in Russland noch immer elf Reaktoren vom selben Typ. Der Ingenieur Wladimir Kuznetsov warnt vor den Gefahren, doch weder in Russland noch in Westeuropa findet er Gehör.

Vom Atomingenieur und Mitarbeiter der Atombehörde zum Kritiker der russischen Energiepolitik: Wladimir Kuznetsov

(Bild: Peter Jaeggi)

30 Jahre nach dem Super-GAU in Tschernobyl laufen in Russland noch immer elf Reaktoren vom selben Typ. Der Ingenieur Wladimir Kuznetsov warnt vor den Gefahren, doch weder in Russland noch in Westeuropa findet er Gehör.

Am 26. April 1986 explodierte im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl der Reaktorblock 4. Ursache waren längst bekannte Konstruktionsfehler und eine Kette von Fehlentscheiden. Rund fünf Millionen Menschen in Weissrussland, Russland und der Ukraine waren direkt betroffen. 40 Prozent des europäischen Kontinents und Teile Vorderasiens und Nordafrikas wurden kontaminiert.

Tschernobyl lief damals unter der Regie Moskaus in der ehemaligen Sowjetunion. 30 Jahre nach dem bis heute schwersten atomaren GAU sind in Russland noch immer elf Reaktoren desselben Typs in Betrieb. Der russische Atomingenieur und AKW-Kritiker Wladimir Kuznetsov äussert sich im Gespräch besorgt über die Sicherheit russischer und ukrainischer Atomkraftwerke.

Herr Kuznetsov, in Tschernobyl wird derzeit die neue Schutzhülle über dem Unglücksreaktor fertiggestellt, der sogenannte Sarkophag. Wie beeinflussen die Unruhen der Ukrainekrise diese wichtige Massnahme?

Auf den Bau haben sie keine direkten Auswirkungen. Allerdings herrschen auf der Baustelle besorgniserregende Zustände. Es gibt Arbeiter, die ihre Löhne nicht erhalten, und technische Probleme, die für laufende Kostenexplosionen sorgen. Dann ist da noch das zweite Tschernobyl-Projekt, ein Lager für die radioaktiven Abfälle vor Ort. Es sollte ursprünglich bis 2018 stehen. Doch die Bauarbeiten haben noch nicht einmal begonnen. Das Schlimmste aus meiner Sicht ist, dass in der gesamten Atombranche der Ukraine ein bedenkliches Niveau der Professionalität herrscht. So wird diese wichtige und gefährliche Industrie vom Kohleministerium kontrolliert.

Spielt denn der Atomstrom überhaupt noch eine Rolle?

Ja, eine Folge der Krise ist , dass in den vergangenen zwei Jahren der Anteil der Atomenergie von 40 auf 65 Prozent erhöht worden ist. Der Grund für die gesteigerte Produktion ist die Tatsache, dass die Ukraine im Moment keinen Zugriff mehr hat auf die Kohleminen im Donbass-Gebiet in der Ostukraine und das Land kein Gas mehr aus Russland kauft. Deshalb laufen die 14 überalterten Reaktoren vom Typ WWER nun an ihrem Limit, wenn nicht darüber hinaus. Das ist ein enormes Sicherheitsrisiko.

Der neue Sarkophag in Tschernobyl wiegt rund 31’000 Tonnen, etwa dreimal so viel wie der Eiffelturm, und er soll für die nächsten 100 Jahre eine sichere Lösung sein.

Man kann nicht sagen, er sei für die nächsten 100 Jahre sicher. Es hat auch beim ersten Sarkophag geheissen, er würde sehr lange halten. Das entsprach nicht den Tatsachen, wie man jetzt weiss. Der jetzige Sarkophag wird selbstverständlich auch nicht der letzte sein. Man wird immer wieder neue Sarkophage bauen müssen. Eigentlich müsste die ganze Unfallstelle geräumt werden, statt sie zu verschliessen, ohne zu wissen, was drin passiert. Jetzt setzt man quasi einen Deckel drauf und hofft, dass es gut kommen wird. Denken Sie nur an das Plutonium 239, das da unter anderem liegt. Es hat eine Halbwertszeit von 24’110 Jahren. Bis es wirklich nicht mehr strahlt, dauert es über 240’000 Jahre.

«Das Geld der westlichen Staaten verschwindet in dunklen Kanälen. Für die korrupten Funktionäre vor Ort ist diese Bauruine ein goldener Esel.»

Seit zehn Jahren wird am neuen Sarkophag gebaut. Ursprünglich wurden seine Kosten auf 453 Millionen Euro veranschlagt. Heute spricht man für die ganzen Sanierungsarbeiten – samt den Baukosten für die Lagerung der Brennstäbe auf dem AKW-Gelände – von mehr als zwei Milliarden Euro.

Ich finde es sehr beunruhigend, dass man Eisenbahnwagen voller Geld dorthin schickt, während die wichtigsten Probleme noch immer nicht gelöst sind. Es ist ein schwarzes Loch. An jedem Jahrestag der Katastrophe packt die Ukraine einen Hammer aus und schwingt ihn Richtung Europa und sagt: «Wenn wir nicht mehr Geld kriegen, wird es ein zweites Tschernobyl geben.»



Seit Jahren wird in Tschernobyl am neuen Sarkophag (links) gebaut, der den Unfallreaktor (rechts) abschliessen soll.

Seit Jahren wird in Tschernobyl am neuen Sarkophag (links) gebaut, der den Unfallreaktor verschliessen soll. Es dürften ihm noch viele weitere folgen. (Bild: Getty Images/The Asahi Shimbun)

Und wie reagieren die westeuropäischen Staaten?

Sie zahlen immer wieder und stecken gleichzeitig den Kopf in den Sand. Sie scheinen sich nicht dafür zu interessieren, was mit ihrem Geld geschieht. Seit fünf Jahren sagt man: «Nächstes Jahr wird der Sarkophag stehen.» Ich wette, dass er auch 2017 nicht fertig wird. Im Moment fehlen der Ukraine 380 Millionen Euro, um ihn zu Ende zu bauen. Bei der grassierenden Korruption verschwindet das Geld der westlichen Staaten in dunklen Kanälen. Für die korrupten Funktionäre vor Ort ist diese Bauruine ein goldener Esel. Wann der Bau fertig sein wird, ist völlig unklar.

Wie hat sich Tschernobyl in Russland ausgewirkt? Was hat Ihr Land aus dieser Katastrophe gelernt?

In den letzten 30 Jahren wurde eigentlich nur eine einzige Lehre aus Tschernobyl gezogen und dies erst noch sehr spät: Man hat 2004 auf Druck der EU in Litauen einen Reaktor der gleichen Bauart stillgelegt, wie er in Tschernobyl explodierte. Den zweiten Schritt hat man nicht getan: Die elf Atomkraftwerke des Tschernobyl-Typs stillzulegen, die noch heute in Russland laufen. Diese stellen eine grosse Gefahr dar, aber es wird nichts unternommen.

Russland betreibt derzeit 34 zivile Reaktoren. Sie sprechen hier von den elf Katastrophen-Reaktoren des Typs RBMK, die alle nahe der Städte Kursk, Smolensk und St. Petersburg stehen. Was ist das Gefährliche an diesem Reaktortyp?

Er hat keine genügend starke Schutzhülle, wie sie bei modernen AKW üblich ist. Darum kann selbst bei kleineren Vorkommnissen wie zum Beispiel bei einem Feuer Radioaktivität austreten. Die Hülle hält keinen Druck aus. Beim kleinsten Druckanstieg, etwa bei einer Explosion im Innern, bricht die Hülle zusammen und Radioaktivität gerät in die Umwelt. So gab es 1975, rund zehn Jahre vor Tschernobyl in einem RBMK-Reaktor in St. Petersburg, dem damaligen Leningrad, einen schweren Zwischenfall.

«Im vergangenen Februar kam es erneut zu einer Panne, bei der eine rund 30-fache Erhöhung der natürlichen Strahlung gemessen wurde. Die Behörden vertuschen solche Vorfälle.»

Das ist bei uns kaum bekannt. Was ist passiert?

Die ausgetretene Radioaktivität überstieg das Tausendfache der normalen Hintergrundstrahlung. Im vergangenen Februar kam es erneut zu einer Panne, bei der eine rund 30-fache Erhöhung der natürlichen Strahlung gemessen wurde. Ein grosses Problem ist auch, dass solche Vorfälle von den Behörden vertuscht und für geheim erklärt werden.

Warum sind überhaupt noch solche Reaktoren in Betrieb?

Es ist eine Art psychologisches Problem. Wenn man nämlich aus Sicherheitsgründen einen dieser Reaktoren stilllegen würde, was ja sehr wohl angebracht wäre, würde sofort die Frage auftauchen: Weshalb schaltet man die andern nicht ab? Es würde eine Art Dominoeffekt geben, denn von den 34 Reaktoren in Russland ist etwa die Hälfte aus den frühen 70er-Jahren. Weitere wurden etwas später gebaut. Sie genügen keinerlei modernen Sicherheitsanforderungen mehr.



Die neue Schutzhülle dominiert die Skyline der verlassenen Stadt Pripyat.

Die neue Schutzhülle dominiert die Skyline der verlassenen Stadt Pripyat. (Bild: Getty Images/Sean Gallup)

Was müsste geschehen, damit diese elf Uralt-Reaktoren für immer heruntergefahren würden?

Eine gute Frage. Ich hatte deswegen bereits zwei Mal einen Auftritt im Deutschen Bundestag in Berlin, im letzten und vorletzten Jahr. Dort wies ich auf das Problem dieser elf Reaktoren hin. Ich erklärte den Parlamentariern und Parlamentarierinnen, dass das AKW bei St. Petersburg unmittelbar an der Ostsee liegt. Wenn es dort einen Unfall gibt, würde das Meer schwer verseucht, auch wenn nur zehn Prozent der Radioaktivität wie 1986 in Tschernobyl austritt. Davon betroffen wären Schweden, Finnland, die baltischen Republiken, aber auch Deutschland. Wir müssen da dringend etwas unternehmen. In Litauen hat es mit politischem Druck und mit finanzieller Hilfe der EU ja geklappt, diesen gefährlichen Reaktortyp auszuschalten.

«Man kann davon ausgehen, dass derzeit allein in Russland eine halbe Million Tonnen Atommüll liegt. Nicht in Endlagern, sondern einfach auf den Arealen der Kraftwerke.»

Wie reagierte der Bundestag auf Ihre Warnung?

In Berlin gab es nach meiner Präsentation überhaupt keine Reaktion. Die Abgeordneten haben mich angeschaut und gingen zur Tagesordnung über. Ähnlich war es im vergangenen Januar an einem Forum der ETH in Zürich, wo ich ebenfalls auf die Gefahren hinwies, die von den alten Tschernobyl-Reaktoren ausgehen. In St. Petersburg befinden sich übrigens die gesamten radioaktiven Abfälle auf dem Gelände der AKW. Das Lager ist zu 100 Prozent gefüllt. Ein Unfall könnte es zerstören.

Und was passiert dann?

Die Radioaktivität würde ins Meer gelangen. Wie gesagt: Eine ungeheure Gefahr für die Ostsee und ihre Anrainerstaaten. Jedes russische AKW produziert jährlich um die 30 Tonnen atomaren Müll. Landesweit ergibt dies im Jahr etwa 1000 Tonnen. Man kann davon ausgehen, dass derzeit allein in Russland eine halbe Million Tonnen Atommüll liegt. Aber nicht etwa in Endlagern; der gefährliche Müll liegt einfach auf den Arealen der Kraftwerke.

Vor zehn Jahren gelangten Sie gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern ans Oberste Gericht Russlands. Sie klagten gegen Präsident Putin, weil er nichts gegen die alten Tschernobyl-Reaktoren unternimmt. Das war ja nicht sehr erfolgreich.

Die Macht zur Stilllegung liegt in der Hand eines einzigen Menschen, in jener von Präsident Wladimir Putin. Das Oberste Gericht sagte, Putin sei nicht zuständig; wir sollen uns an Rosatom wenden, die Betreiberbehörde aller nuklearen Anlagen des Landes. Ein ziemlich absurder Vorschlag.

Wie haben Sie reagiert?

Wir reichten unsere Dokumente beim europäischen Gerichtshof in Strassburg ein. Dort liegen sie nun seit rund zehn Jahren. Eine Antwort haben wir nie erhalten. Da in Russland die meisten wichtigen Entscheide allein von Putin getroffen werden, ist es natürlich völlig undenkbar, ein Referendum oder eine Abstimmung zu lancieren.

«Was denken Sie, wie lange wir in Russland für die ‹Stresstests› nach Fukushima gebraucht haben? – Zwei Wochen! Ein völliger Witz.»

So ist es auch fast müssig zu fragen, wie Russland auf die AKW-Katastrophe von Fukushima reagiert hat. Trotzdem: Was hat sie bewirkt?

Überhaupt nichts. Die Internationale Atomagentur ordnete nach Fukushima für alle Atomkraftwerke weltweit einen Stresstest an. Nach meinen Informationen sind die nun, fünf Jahre nach Fukushima, in Europa abgeschlossen. Was denken Sie, wie lange wir in Russland dafür gebraucht hatten? – Zwei Wochen! Ein völliger Witz. Nach dem «Stresstest» erschienen Artikel, die behaupteten, in Russland sei es mit der AKW-Sicherheit extrem gut bestellt.

Russland baut derzeit nicht nur selbst fünf neue Reaktoren – es exportiert sie auch.

Es bestehen konkrete Pläne, in Finnland und Ungarn AKW zu bauen. Doch gibt es andere Länder wie Ägypten, die Türkei, den Iran, Bangladesch, Vietnam und China, die interessiert sind. In der Türkei laufen die Bauarbeiten bereits, in Ägypten soll demnächst begonnen werden. Bei den anderen Staaten handelt es sich um Absichtserklärungen. Aber in diesen Ländern gibt es keine Infrastruktur für AKW und kein Fachpersonal, das ein solches Werk sicher betreiben könnte.

Die Deals haben scheinbar mehr mit Politik als mit Sicherheit und Business zu tun.

Diese AKW sind in den meisten Fällen mit russischen Krediten finanziert. Und zwar zu einem lächerlich kleinen Zins. Ein Beispiel ist das Werk in Weissrussland. Es ist bereits im Bau und ebenfalls mit einem russischen Kredit finanziert. Die Rückzahlung dieses Kredits ist aufs Jahr 2067 festgesetzt. Das ist eine höchst fragwürdige Angelegenheit. Es hat etwas von einem Frosch, der in eine Büchse mit Sauerrahm fällt und dort wie wild um sich schlägt – in der Hoffnung, dass es irgendwann Butter gibt und er dann rausspringen kann. Es ist ein politischer Entscheid, solche strategischen Objekte in anderen Ländern zu bauen. Russland ist da bereit, jeden Preis zu bezahlen, um seinen Einfluss zu sichern. Russland finanziert ausländische Atomkraftwerke nicht nur mit Krediten, sondern hat sich auch verpflichtet, sämtliche atomaren Abfälle zurückzunehmen. Wir bezahlen also die AKW und kriegen dafür noch den ganzen Dreck zurück.

Man hört immer wieder, dass die neuen oder zumindest die nächste Generation von Atomkraftwerken sicher seien. Wird es eines Tages sichere Atomkraftwerke geben?

Nein. Es ist nicht möglich, ein total sicheres AKW zu bauen. Bei einem technischen Objekt kann es immer Fehler geben. Man hat bei den bisherigen AKW berechnet, dass es einmal in 10’000 Jahren zu einem Unfall kommen kann. Aber zwischen Tschernobyl und Fukushima dauerte es ja deutlich weniger lang.

Ihre grösste Hoffnung, was die Energiezukunft Russlands betrifft?

Was Russland betrifft, habe ich überhaupt keine Hoffnung. Im Moment gibt es hier eine Strom-Überkapazität von rund 17 Gigawatt. Vor allem wegen der Wirtschaftskrise. Trotzdem baut man weitere Reaktoren. Russland setzt also klar auf Atomenergie. Obschon so viel Strom eigentlich gar nicht benötigt wird. Da freut mich die Situation in Deutschland, wo alternative Energien sukzessive aufgebaut werden und die Atomenergie entsprechend zurückgefahren wird. Russland dagegen setzt auf eine antiquierte Technologie. Alternativenergie ist hier gar kein Thema und es gibt auch keine Kultur des Energiesparens; die Lichter brennen hier ununterbrochen.

Wladimir Kuznetsov
Der russische Atomingenieur arbeitete bis wenige Monate vor dem Super-Gau als leitender Ingenieur am Nachbarreaktor. Nur wenige Tage nach der Evakuierung Tschernobyls wurde er als sogenannter Liquidator im lebensgefährlich verstrahlten AKW eingesetzt; zusammen mit Zehntausenden Menschen, die Moskau damals buchstäblich «verheizte», um Brände zu löschen, Trümmer aufzuräumen und um noch Schlimmeres zu verhüten. Der heute 60-Jährige bezahlte seinen Einsatz mit Gesundheitsschäden, die schliesslich zur Amputation eines Beines führten.
Später wurde Kuznetsov Mitarbeiter der sowjetischen Atomenergie-Aufsichtsbehörde Rosatom. Als er zu Beginn der 1990er-Jahre den Betrieb von zehn Kernanlagen verbieten wollte, musste er auf Druck des Atomministeriums seinen Posten verlassen. Heute hält er als Mitglied der Russischen Akademie der Naturwissenschaften an der Universität von Archangelsk am Eismeer Vorlesungen zum Thema Sicherheit von Nuklearanlagen auf Schiffen.

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