«Kim Jong-un handelt sehr rational»

Stehen wir vor einem Atomkrieg? Sind Trump und Kim Jong-un verrückt? Ursula Jasper vom Center for Security Studies der ETH Zürich sagt Nein. Sie erkennt hinter der Kriegsrhetorik rationales Handeln und findet: Kein Weg führt am Verhandlungstisch vorbei.

Der Konflikt zwischen den USA und Nordkorea ist viel mehr als ein Duell zwischen zwei «Verrückten». (Bild: Nils Fisch)

Frau Jasper*, die angespannte Situation zwischen Nordkorea und den USA beschäftigt die Menschen. Vom 1. Juni bis 4. September 2017 findet man in der Schweizer Mediendatenbank 137 Artikel, die das Wort «Atomkrieg» enthalten. In der gleichen Vorjahresperiode waren es nicht einmal halb so viele. Müssen wir unsere Luftschutzkeller entstauben?

Natürlich ist die jetzige Situation und vor allem die Kriegsrhetorik beider Seiten besorgniserregend. Aber dass das Thema derart hohe Wellen wirft, ist auch nicht gerade hilfreich.

Man liest derzeit auch viele historische Vergleiche. Etwa, dass «zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges die Möglichkeit eines Atomkrieges wieder in Betracht gezogen» werde. Dass die Gefahr einer nuklearen Apokalypse seit dem Kalten Krieg nie grösser war, ja gar grösser sei als damals

Diese Auffassung teile ich nicht. Das Bild von der angeblich stabilen Situation während des Kalten Krieges, in der man immerhin wusste, woran man war, finde ich doch sehr beschönigend. Auch das Ausmass der atomaren Konfrontation damals und heute kann man nicht vergleichen.

«Kim Jong-un treibt die Weltöffentlichkeit mit grossem Erfolg vor sich her.»

Aber man muss sich doch Sorgen machen, wenn Nordkorea Bomben testet und die USA die «nukleare Option» ins Feld führen.

Natürlich wäre eine militärische Auseinandersetzung verheerend. Aber darauf muss es nicht zwangsläufig hinauslaufen.

Warum nicht?

Ist eine Eskalation – nicht eine rhetorische, sondern eine militärische Eskalation – von irgendeiner Seite gewollt? Das ist die Frage, die man sich stellen muss. Und die Antwort lautet klar Nein. Dieses Interesse kann niemand haben. Nordkorea sicher nicht: Das Regime wäre am Ende. Südkorea und auch Japan würden massiv unter einem Krieg leiden. Auch die Amerikaner werden bedenken, dass sie 30’000 Soldaten in Südkorea stationiert haben. Und China und Russland wollen vor allem regionale Stabilität. Auch die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft wären enorm.

Trotzdem: Die Situation ist sehr viel angespannter als auch schon.

Ja, definitiv. Und sie ist unberechenbarer. Bei der derzeitigen rhetorischen und technologischen Eskalation – damit haben wir es zu tun – handelt es sich sicher nicht um eine gute Entwicklung. Kim Jong-un macht das sehr gezielt, er treibt die Weltöffentlichkeit derzeit mit grossem Erfolg vor sich her. Gleichzeitig hat Nordkorea mit den Atom- und Raketentests der letzten Monate bewiesen, dass es technologisch fortgeschrittener ist, als viele gedacht haben: Das Land verfügt nun über eine atomare Abschreckung.

An einer Eskalation ist niemand interessiert, sagt Ursula Jasper.

Er ist also gar nicht «der irre Kim», wie er immer wieder genannt wird?

Kim Jong-un handelt sehr rational. Natürlich führt er ein zynisches, menschenverachtendes Regime. Aber man muss auch berücksichtigen, dass es seine Sicherheitsinteressen vertritt. Über allem steht dabei, das Überleben des Regimes sicherzustellen. Mehrere Aspekte spielen eine Rolle: Einmal fühlen sich die Nordkoreaner durch die Präsenz der Amerikaner in Südkorea bedroht. Zudem ist ihnen die Geschichte des Koreakrieges mit den brutalen Verlusten im Land noch sehr präsent. Und die Nordkoreaner haben auch beobachtet, was passiert war, nachdem Muammar al-Gaddafi sein Atomwaffenprogramm aufgegeben hatte: Gaddafi wurde gestürzt. Das Aufgeben der Atomwaffen ist für Nordkorea schon deshalb kaum eine Option, weil sie darin eine Lebensversicherung für das Regime sehen.

Was möchte Nordkorea denn erreichen?

Direkte Verhandlungen mit den Amerikanern. Das Ziel ist ein Ende der Sanktionen und ein Friedensvertrag. Und nicht zuletzt geht es darum, als regionale Macht und als Atomwaffenstaat anerkannt zu werden.

Aber Präsident Trump signalisiert alles andere als die Bereitschaft zu Verhandlungen.

Die amerikanische Position ist nicht ganz klar. Aber die USA werden meines Erachtens diplomatische Wege suchen müssen, weil andere Möglichkeiten spätestens seit den letzten Atom- und Raketentests nicht mehr realistisch sind. Selbst wenn es gelingen würde, die nordkoreanischen Atomanlagen gezielt zu zerstören, hätte ein Krieg vor allem für die Menschen auf der koreanischen Halbinsel dramatische Folgen.

«Dass ein verrückter Präsident per Knopfdruck einen Atomkrieg startet, tönt eher nach einem Hollywoodfilm.»

Sie beschreiben Kim Jong-un als rational Handelnden. Trifft das denn auch auf Präsident Trump zu?

Die Signale aus Washington sind sehr widersprüchlich. Mit seiner Rhetorik suggeriert Trump, dass er zum Nuklearkrieg bereit ist. Unklar ist, ob er das tut, weil er Stärke markieren will, oder weil er unberechenbar erscheinen möchte. Trumps impulsive, erratische Art und seine aussenpolitische Unbedarftheit machen es jedenfalls schwer, eine klare Linie zu erkennen.

Was aber, wenn Präsident Trump tatsächlich verrückt ist? Wenn wir dieses Szenario denken: Er könnte doch theoretisch im Alleingang den Befehl zum Atomkrieg erteilen?

Dass ein verrückter, einsamer Präsident einfach auf einen Knopf drückt und damit einen Atomkrieg startet, tönt eher nach einem Hollywoodfilm. Ganz so einfach ist das in der Realität zum Glück nicht. Ich glaube, es ist auch irreführend, den Konflikt nur als ein Duell zwischen zwei «Verrückten» darzustellen. Die Auseinandersetzung ist Jahrzehnte alt, und es geht neben dem ganzen Säbelrasseln nicht zuletzt um die Sicherheits- und Machtinteressen mehrerer Staaten und um die regionale Machtverteilung.

 «Man muss Nordkorea etwas in Aussicht stellen – einen Friedensvertrag, das Ende der Sanktionen, Anerkennung.»

Wenn Sie in Trumps Beraterstab wären: Was stünde auf Ihrem Zettel für den US-Präsidenten?

Dass es Verhandlungen braucht, bei Aufrechterhaltung oder gar vorübergehender Verschärfung der Sanktionen. Verhandlungen sind zentral, und zwar direkt mit den USA. Man muss den Nordkoreanern allerdings auch etwas in Aussicht stellen – eben einen Friedensvertrag, das Ende der Sanktionen, Anerkennung. Das alles gab es schon einmal: 1994 hatte man sich bereits auf ein Rahmenabkommen geeinigt. Auf dem Zettel würde ausserdem stehen, dass es eine kohärente Strategie braucht: mit Russland, China und Japan, aber vor allem auch mit Südkorea, dessen Interessen die USA derzeit nicht besonders ernst zu nehmen scheinen.

Die Rhetorik wird auf beiden Seiten schärfer. Man fragt sich: Ist ein Aufeinander-zu-Gehen realistisch? Und wenn nicht: Wo soll das noch hinführen?

Diese Besorgnis teile ich insofern, als beide Seiten immer weiter an der Schraube der Eskalation drehen. Die Frage ist deshalb berechtigt, wo das alles hinführen soll. Ich vermute, dass Nordkorea in den kommenden Wochen noch einige weitere Tests durchführen wird, um seine neue Stärke zu demonstrieren und den Preis für Verhandlungen hochzutreiben. Letztlich ist Diplomatie aber die einzige Möglichkeit, um sich aus dieser verfahrenen Situation wieder herauszumanövrieren.

* Ursula Jasper ist Senior Researcher und ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung und der Nichtverbreitung von Atomwaffen am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Sie hat einen Master in Internationaler Politik- und Sicherheitsstudien der University of Bradford (UK) und hat ihre Doktorarbeit über nukleare Abrüstung an der Universität St. Gallen verfasst.

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