Kirchenhistoriker Wallraff: An den Rändern der Bibel

Wer zur Weihnachtszeit die Bibel aus dem Regal nimmt, hat das besterforschte Buch der Geschichte in der Hand. Trotzdem gibt es noch unbeachtete Stellen in der Tradition der Bibelabschrift. Der Kirchenhistoriker Martin Wallraff von der Universität Basel forscht daran. Heute gibt er seine Abschiedsvorlesung in Basel.

Er nimmt Abschied vom Basler Institut am Heuberg: Kirchenhistoriker Martin Wallraff.

(Bild: Stefan Bohrer)

Wer zur Weihnachtszeit die Bibel aus dem Regal nimmt, hat das besterforschte Buch der Geschichte in der Hand. Trotzdem gibt es noch unbeachtete Stellen in der Tradition der Bibelabschrift. Der Kirchenhistoriker Martin Wallraff von der Universität Basel forscht daran.

Sola Scriptura hiess es bei Luther, nur der Bibeltext zählt. Ein Forschungsteam um den Kirchenhistoriker Martin Wallraff an der Universität Basel sieht das anders: Während die Genese des eigentlichen Bibeltextes seit Jahrhunderten historisch-kritisch erforscht wurde, blieb das Beiwerk auf den Bibelhandschriften aus der Spätantike und dem Mittelalter bisher wissenschaftlich unbeachtet.

Vor einem Jahr begann Wallraffs Team ein auf fünf Jahre angelegtes und vom Europäischen Forschungsrat finanziertes Projekt, das die Geschichte der biblischen Paratexte aufarbeiten wird. Dazu gehören tradierte Vorreden, Überschriften, Evangelistenbiografien – und manchmal auch einzelne Kommentare eines Mönchs, der in der Schreibstube eines Klosters eine Anmerkung zu einer Bibelstelle hinterlassen hat. Die Erforschung der Paratexte werde die Rezeption der Bibel nicht auf den Kopf stellen, sagt Wallraff. Aber ein Verständnis dafür schaffen, wie und wofür die Bibel benutzt wurde und benutzt werden sollte.

Herr Wallraff, mit Ihrem Forschungsprojekt zu biblischen Paratexten betreten Sie unerschlossenes Gebiet. Ist das nicht erstaunlich bei einer traditionsreichen Disziplin wie der Bibelwissenschaft?

Das habe ich mich auch gefragt. Der Bibeltext ist fast übererforscht, um es etwas polemisch auszudrücken. In dieser grossen Forschungsgeschichte haben die Paratexte nie eine eigenständige Aufmerksamkeit gefunden. Und das war die Hauptmotivation, mich auf diesem Gebiet zu engagieren.

«Wir interessieren uns für das Leben hinter den Abschriften. An den Handschriften kann man ablesen, wie die Leute sie benutzt haben.» 

Man könnte daher auch fragen: Sind diese Beitexte wichtig?

Nun, es gibt schon ein paar Gründe, warum biblische Paratexte bisher nie untersucht worden sind. Einer ist die aus dem Protestantismus stammende Fixierung auf den biblischen Urtext: Wenn man Handschriften nur daraufhin untersucht, ob sie neues Licht auf den Urtext werfen, entwickelt man einen Tunnelblick, der an den Paratexten vorbeischaut. Aber die Bibelwissenschaft ist damit nicht alleine, auch bei anderen Abschriften antiker Texte wie etwa von Platon hat man erst in jüngerer Zeit auch die kleineren Begleittexte, die in den Schreibstuben der Klöster entstanden, näher zu untersuchen begonnen. Wir interessieren uns für das Leben hinter den Abschriften. Denn Handschriften hatten eine Funktion, wurden benutzt und haben in ihrer Zeit eine wichtige Rolle gespielt. Sie können etwas aus der Lebenswelt ihrer Abschrift erzählen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Psalter, ein Frömmigkeitsbuch ersten Ranges. An den Handschriften kann man ablesen, wie die Leute sie zum Beten, Lesen, Singen und Studieren benutzt haben. 

Auf welche Resultate stossen Sie?

Es gibt zwei Sorten. Einerseits die grossen Standardtexte, die immer wieder abgeschrieben wurden. Zum Beispiel biografische Einführungstexte zu den Evangelisten. Oder Kapiteleinteilungen und andere Leselenkungen. Und dann gibt es eine viel individuellere Sorte an Paratexten. Zum Beispiel: Dieses Evangeliar hat der Mönch X im Kloster Y geschrieben, betet für seine arme Seele. Solche Notizen sind nicht minder interessant.

Warum?

Man stösst auf den Freiraum, der den abschreibenden Mönchen noch geblieben ist. Der Haupttext, die Überschriften, all das musste übernommen werden. In den Schreibernotizen findet sich dagegen mehr Lebensnähe, da erfährt man auch mal von Mönchen, die über ihre Äbte schimpfen, oder ihre Arbeit unter Lebensgefahr beenden mussten. Und die Randnotizen geben auch Aufschluss der Nutzung der Texte, etwa in der Liturgie. Daraus erfahren wir, wie sich die Bedeutung der jeweiligen Bibelabschnitte im monastischen Alltag geändert hat.

«Wenn ein Bibliothekar auf eine Abschrift der vier Evangelien stösst, schaut er sie durch, schreibt in seinen Katalog ‹vier Evangelien› und geht in die Kaffeepause.»

Luther hat seiner Übersetzung eine Vorrede vorangestellt, mittels der er die Bücher der Bibel nach ihrer Wichtigkeit einstuft. Ist das ein üblicher Zweck eines Paratexts – den Bibelstoff nach einer theologischen Präferenz zu ordnen und den Leser so zu lenken?

Ja, das ist ein gutes Beispiel, denn Luther kennen wir als Person sehr gut, und auch seine Vorlieben im Bibeltext. Berühmt ist seine Ablehnung des Jakobus- und des Hebräerbriefs, die er als «stroherne Epistel» bezeichnete und in seiner Gliederung weit nach hinten stellte. Aber weder Luther noch die anonymen Autoren der griechischen Handschriften aus der byzantinischen Zeit hätten es gewagt, etwas auszulassen. Stattdessen schrieben die Autoren Einleitungen, die dem Leser ein bestimmtes Verständnis vorlegten. Gerade bei den Paulusbriefen ist das häufig der Fall – und zwar bis heute, beispielsweise auch in der Zürcherbibel. Es ist gut, sich das gelegentlich bewusst zu machen.

Sie konzentrieren sich auf griechische Abschriften. Wo befinden sich diese?

Primär in den grossen Bibliotheken Europas: London, Paris, Rom. Und in den Archiven des byzantinischen Christentums – im Patriarchat von Jerusalem, im Katharinenkloster auf dem Sinai, natürlich auf dem Berg Athos und in der Nationalbibliothek Athen. Und kleine Bestände an anderen Orten. Auch wenn das meiste digitalisiert oder sonstwie als Kopie erhältlich ist, befinden sich an den Ursprungsorten noch wenig bekannte Handschriften, die uns für unser Projekt interessieren. Aber mit spektakulären inhaltlichen Entdeckungen ist nicht zu rechnen, das ist alles weitgehend erforscht.

Es gibt also kaum mehr nicht erschlossene Bibeltexte?

Zumindest nicht in der Form, dass man auf der Frontseite einer Zeitung landet. Dass man beispielsweise auf die älteste Abschrift der Johannesapokalypse stösst, ist unwahrscheinlich. Aber was in bescheidenerem Umfang geschieht und auch unser täglich Brot ist, sind kleinere Texte in Handschriften. Das sind keine Sensationen, aber Mosaiksteinchen, die nicht einmal in abgelegenen Klöstern liegen müssen, sondern einfach noch zu wenig beachtet worden sind. Zum Beispiel, wenn ein Bibliothekar auf eine Abschrift der vier Evangelien stösst. Er schaut sie durch, schreibt in seinen Katalog «vier Evangelien» und geht in die Kaffeepause. Manchmal ist aber noch eine apokryphe Ergänzung dabei, etwa über die Jugend Marias oder zur Frage, wo das Öl herkam, mit der Maria Magdalena Jesus gesalbt hatte. Für uns ist das interessant, aber ins Fernsehen schafft man es damit nicht.

«Man neigt heute dazu, die Erasmus-Bibel zu überhöhen. Erasmus wollte vor allem als Erster auf dem Markt sein.»

Sie erinnern an Ihrer Abschiedsvorlesung an das 500. Jubiläumsjahr der Erasmus-Bibel, die Erasmus von Rotterdam 1516 in Basel drucken liess – als erste gedruckte Bibel in griechischer Sprache überhaupt. Wie hat der Buchdruck die Verwendung von Paratexten in der Bibel verändert?

Erasmus hat viel aus diesem grossen Schatz übernommen – wie bewusst, das ist eine andere Frage. Er hat seine Basler Edition 1516 ja ruckzuck und unter grossem Zeitdruck herausgegeben, da zur gleichen Zeit in Spanien ein Konkurrenzprojekt in Arbeit war. Man neigt heute dazu, die Erasmus-Bibel, die natürlich eines der berühmtesten gedruckten Bücher der frühen Neuzeit war, zu überhöhen. Erasmus wollte vor allem als Erster auf dem Markt sein. Daher ist gut vorstellbar, dass die Frage zur Übernahme von Paratexten eher von seinen Assistenten diskutiert worden war. Aber das spielt auch nicht wirklich eine Rolle, denn diese Texte hatten eine ungeheure Bedeutung – sie waren als Erasmus-Bibel quasi zu Tausenden über Nacht plötzlich erhältlich. Beispiele sind die Kanontafeln des Eusebius, die sich aus der Spätantike bis in die heutigen historisch-kritischen Bibelausgaben erhalten haben. Oder die Schlussnotizen der Paulusbriefe, die die Abschriftsgeschichte des Texts zusammenfassen. Die hat Erasmus aus den byzantinischen Handschriften übernommen. Und später auch Luther in seiner Übersetzung, als gehörten sie zur Bibel dazu. Ein kleines Zipfelchen der byzantinischen Tradition blieb damit erhalten.

Verändert sich durch die Erschliessung der Paratexte auch das Verständnis der Bibel?

Kaum. Wir haben uns quasi einen umgekehrten Tunnelblick auferlegt – wir überblättern den Haupttext und interessieren uns für die Ränder. Aber natürlich existieren Paratexte nicht im luftleeren Raum, sondern haben einen Bezugsrahmen. Ein schönes Beispiel ist die berühmte Szene aus dem Johannesevangelium, wo Jesus eine Ehebrecherin freispricht. Ob diese Episode wirklich Teil des Urtextes ist, war lange umstritten. In einer Abschrift, die wir untersucht haben, hatte ein byzantinischer Schreiber an dieser Stelle einen Kommentar gesetzt und notiert, er glaube nicht, dass die Stelle original sei, aber sie sei für die Lehre dennoch wichtig. Aber wenn man von uns Sensationen zum Bibeltext erwartet, muss ich enttäuschen. Was Paulus wirklich gesagt hat oder ob die Psalmen die ältesten Texte sind, das haben andere vor uns erforscht. Wir werden das nicht rekonstruieren.

Sie verlassen nächstes Jahr die Universität Basel. Was wird mit dem Forschungsprojekt geschehen?

Ich verabschiede mich nur als Lehrender, jedoch noch nicht völlig als Forscher und Projektleiter. Das Projekt wird also sicher noch ein Jahr hier bleiben. Wie es dann weitergeht, muss mit dem European Research Center verhandelt werden. Aber ich gehe davon aus, dass das Projekt dann mit mir an die Universität München umziehen wird.

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Martin Wallraffs Abschiedsvorlesung «500 Jahre Edieren, Erschliessen und kein Ende: Die Bibel» findet am Montag, 14. Dezember, um 18.15 Uhr im Hörsaal 001 im Kollegienhaus der Universität Basel am Petersplatz statt.

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