«Kriegt ein Kind Glace, wenn es Presslufthämmer hört, lernt es vielleicht, das Geräusch zu lieben»

Warum lieben einige Menschen Jazz, während andere diese Musik als Lärm empfinden? Und wie entsteht ein Tinnitus? Hirnforscherin Tania Barkat sucht Antworten auf solche Fragen.

Manchmal hört sie im Jazz Musik, manchmal nichts als Lärm: Hirnforscherin Tania Barkat.

Tania Barkat, warum empfindet der Mensch gewisse Geräusche, zum Beispiel einen Wasserfall, als angenehm, während Presslufthämmer nerven?

Viel weiss man darüber nicht, die Hirnforschung steht noch am Anfang. Es gibt aber Hinweise darauf, dass das Hirn harmonische Tonfolgen bevorzugt. Daraufhin weisen Studien mit Affen hin, ihre Neuronen reagieren anders auf harmonische Töne als auf disharmonische Töne.

Weshalb ist das so?

Eine Erklärung könnte sein, dass Naturgeräusche wie Wasser oder auch tierische und menschliche Stimmen auf harmonischen Tonfolgen aufbauen. Das Hirn ist deshalb darauf ausgerichtet, diese Tonfolgen als wichtiger einzustufen – damit das Lebewesen seine Umwelt versteht.

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Es gibt aber Menschen, die zum Beispiel die Zwölftonmusik von Arnold Schönberg lieben. Die ist auch unharmonisch.

Ja, nicht alle Menschen empfinden Geräusche gleich. Gewisse hören im Jazz schöne Musik, andere nichts als Lärm. Es könnte etwas mit der Gewohnheit zu tun haben – in jungen Jahren ist das Gehirn noch plastisch und gewöhnt sich an Geräusche. Später ist das schwieriger.

Das heisst, man mag die Musik, die man als Kind hört, auch später?

Das könnte sein.

Kann ein Kind, das ständig Presslufthämmern hört, dieses Geräusch lieben lernen? 

Wenn man ihm jedesmal ein Glace gibt, wenn der Presslufthammer ertönt, lernt es vielleicht, das Geräusch als etwas Schönes zu hören. Aber auch das Gegenteil könnte passieren: Das Kind könnte sich so gestresst gefühlen, eben weil es ständig dieses Hämmern hört, dass es eine noch grössere Abneigung dagegen entwickelt.

Es ist also das Hirn, das entscheidet, welche Geräusche nerven und welche nicht?

Genau. Ein Geräusch entsteht, wenn der Luftdruck sich verändert. Dieser bringt winzige Haarzellen im Ohr dazu, sich zu bewegen. Der Hörnerv verwandelt diese Bewegung in elektrische Signale. Der auditorische Kortex interpretiert diese Signale und entscheidet, welche Signale wichtig sind und welche nicht.

Und was passiert mit den unwichtigen Signalen?

Die gelangen nicht ins Bewusstsein. Ein Beispiel ist der Cocktaileffekt. Ist man auf einer Party und redet mit einer Freundin, blendet das Hirn alle anderen Stimmen aus. Doch sagt jemand unseren Namen, hören wir ihn aus allen anderen Geräuschen heraus. Weil das Hirn sagt: Das ist wichtig.

Wie weiss das Hirn, was wichtig ist und was nicht?

Das hängt von den Umständen ab. Zum Beispiel schaut man dem Gegenüber während des Gesprächs auf die Lippen.

Augen und Ohren arbeiten also zusammen?

Das Hirn bezieht verschiedene Informationen in die Interpretation einer Situation ein – auch das, was man sieht. Es gibt dazu ein einfaches Experiment: Warten Sie, ich zeige es Ihnen am Computer.
Barkat startet ein Video. Zu sehen ist ein Mann, der «bar-bar-bar» sagt. Barkat kommentiert: Als Nächstes sagt er «far-far-far». Hören Sie es?
Wir hören es, doch Barkat lacht: Er hat gar nicht «far» gesagt, sondern «bar». Wenn Sie die Augen schliessen, hören Sie es.

Wirklich?

Bild und Ton stimmten nicht überein, aber das Hirn hört «far», weil das Auge die Lippenbewegung für «far» sieht. Das nennt man den McGurk-Effekt.

Das heisst: Man kann Sachen hören, die es gar nicht gibt?
Ja, denken Sie an die Schizophrenie. Betroffene hören teilweise Stimmen in ihrem Kopf. Wir wissen aber noch nicht, in welchem Teil des Hirns diese Töne entstehen und weshalb. Das versuchen wir herauszufinden. Dasselbe gilt für den Tinnitus: Dieses Geräusch entsteht auch im Hirn. Es reagiert auf Signale. Wir wissen aber noch nicht, auf welche.

Wie wollen Sie das herausfinden?

Wir schliessen Mäuse an Elektroden an, beschallen sie mit Geräuschen und messen ihre Hirnaktivitäten. Dabei haben wir herausgefunden, dass ein gewisses Mass Geräusche wichtig ist für die Hirnentwicklung.

Inwiefern?

Wenn man junge Mäuse über Wochen nur mit weissem Rauschen beschallt, das alle anderen Geräusche übertönt, bleiben sie in ihrer Entwicklung stehen. Das Hirn braucht Inputs, um zu lernen.

Sind Isolationszellen, in denen es ganz still ist, deshalb so unangenehm?

Ich glaube, das hat auch mit der Gewohnheit zu tun. Taube Menschen, die von klein auf nichts hören, sind in Isolationszellen nicht gestresst.

«Ab einer gewissen Lautstärke schadet Lärm immer.»

Entwickelt sich das Hirn tauber Menschen über andere Inputs?

Genau. Forscher haben taube Mäuse untersucht. Dort zeigte sich, dass diejenigen Neuronen, die normalerweise auf Geräusche reagieren, nun auf Licht reagieren.

Verrückt, wie anpassungsfähig das Hirn ist.

Das Hirn ist plastisch. Das ist auch für die Medizin eine Chance: Es bedeutet, das wir Krankheiten wie Tinnitus vielleicht heilen können, wenn wir wissen, wie sie funktionieren.

Könnte man das Hirn auch an Lärm gewöhnen, sodass man sich weniger nervt?

Eines ist sicher: Ab einer gewissen Lautstärke schadet Lärm immer. Wenn man das Ohr länger als zehn Minuten 100 bis 120 Dezibel aussetzt, gehen die Haarzellen im Ohr kaputt. Dann droht Schwerhörigkeit. So laut ist etwa ein Presslufthammer.

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