Oliver Nachtwey, Ihr Vorgänger Ueli Mäder hat sich aktiv in politische Debatten eingemischt. Werden Sie ihn auch in dieser Hinsicht beerben?
Ueli Mäders Fussstapfen sind zu gross für mich. Als deutscher Staatsbürger möchte ich mich erst in die Schweizer Polit-Debatten einbringen, wenn ich mich hier gut genug auskenne.
Ist es schwierig, die Schweiz zu verstehen?
Ja, es ist eine andere politische Kultur. Allein das Kollegialitätsprinzip in den Regierungen, dass man Politiker verschiedener Parteien hat, die diskret und irgendwie auch vertraulich miteinander umgehen, das ist für einen Deutschen schon überraschend. Allgemein reden in der Schweiz die verschiedenen politischen und sozialen Milieus mehr miteinander. Und es gibt sehr heftige Diskussionen, so wie bei No Billag. Das finde ich wirklich produktiv. Ich glaube, es ist gut für den sozialen Zusammenhalt, wenn man diskutiert. Auch wenn es kontrovers ist. Ressentiments entstehen ja vor allem, wenn man sich gar nicht begegnet.
Kürzlich vertwitterten Sie einen Kommentar aus der «Washington Post» mit dem Titel: «Es ist Zeit, es mit dem Sozialismus zu versuchen.» Sind Sie ein sozialistischer Soziologe?
Von Beruf bin ich Wissenschaftler, da geht es darum, die Realität möglichst adäquat zu verstehen. Ich bin aber auch Sozialist und interessiere mich von daher etwa für Fragen der Ungleichheit aus einer anderen Perspektive. Eine wertneutrale Forschung gibt es in den Gesellschaftswissenschaften nicht, deshalb mache ich meine Werthaltung klar. Aber mir geht es darum, eine gute Soziologie zu machen, die einen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft liefert.
«Hinter der freundlichen Start-up-Fassade verbirgt sich eine knallharte wirtschaftspolitische Agenda.»
Sie erforschen momentan eine Wirtschaftswelt, die weit weg von Basel ist: das Silicon Valley. Dort entwickeln digitale Eliten Technologien, die den Staat obsolet machen sollen. Wie relevant ist dieser Geist für Europa?
In den meisten Industriegesellschaften findet der Geist des Silicon Valleys starken Widerhall. Emmanuel Macron sagte kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten: «Wir sollten Frankreich führen wie ein Start-up.» Das ist schon ein erheblicher Kulturwandel für die Grande Nation.
Klingt nach jungen Typen in Sneakers, die wenig vom Leben wissen und sich verhalten, als ob die Welt ein Game wäre.
Tragischerweise sind die Konsequenzen sehr ernst. Ich habe mir einige Start-ups angeschaut. Natürlich gibt es dort für junge Menschen relativ attraktive Arbeitsbedingungen: keine direkten Vorgesetzten, weniger Hierarchie, ein Fussballkasten…
Das haben junge Redaktionen auch. Und Freibier!
Hinter der freundlichen Start-up-Fassade verbirgt sich eine knallharte wirtschaftspolitische Agenda. Wenn sich der Chef duzen lässt und er nach einem langen Arbeitstag mal Pizza für alle bestellt, vergisst man schneller, dass man mehr als die gesetzlich geregelte Arbeitszeit erledigt. Und so meint es auch Macron. Er möchte den Arbeitsmarkt systematisch liberalisieren und historische Gewerkschaftsrechte abschaffen.
Das wollen auch Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände in der Schweiz. Sie haben mittels mehrerer parlamentarischer Vorstösse einen Grossangriff auf den Arbeitnehmerschutz gestartet und versprechen dafür «Autonomie». Die Gewerkschaften protestieren dagegen.
Gewerkschaften oder Arbeitnehmervertreter sind in der Start-up-Welt nicht vorgesehen. Im gesamten Silicon Valley laufen Arbeitnehmerrechte unter ferner liefen.
Es klingt auch viel cooler, die Welt mit Apps zu verbessern statt auf der Strasse mit Megafon und Leuchtwesten.
Doch die Unterwelt des Silicon Valleys wird dabei vergessen. Es gibt ja nicht nur die Google-Programmierer von der Stanford University, sondern auch das Dienstleistungspersonal, das sich wegen der Gentrifizierung die Wohnungen im Valley nicht mehr leisten kann. Es muss von weither mit dem Bus anreisen, um den Programmierern die Häuser zu putzen, das Essen zu kochen, die Wäsche zu waschen.
Das kritisiert auch der Schweizer Buchpreisgewinner Jonas Lüscher.
Ich finde Jonas Lüscher ganz grossartig. Es ist fast ein bisschen ärgerlich: Der hat jetzt in seinem Roman «Kraft» so viel aufgeschrieben, worüber ich gerade forsche.
«Die Soziologie muss sich wieder stärker sozialen Fragen widmen.»
Und Lüscher wird gehört, zumindest im deutschsprachigen Raum. Sind Romane eine wirksamere Form der Kapitalismuskritik?
Nun, die ist ja nicht neu. Es gab schon immer Schriftsteller, die soziale Missstände beschrieben. Aber klar, die alte Sozialkritik ist schwach geworden. Während den 1930er-Jahren waren die Arbeiterklasse und ihre Lebensbedingungen ein Hauptthema der Soziologie. Aber seit den Neunzigern erntet diese Forschung mehrheitlich Naserümpfen, im Stil von: «Ach, schon wieder ein männlicher Soziologe, der nur über männliche Industriearbeiter schreibt.»
Stimmt ja auch. Frauen, Migranten, Homosexuelle, sie alle waren nebensächlich.
Dieser Vorwurf war durchaus richtig. Auch die feministische Kritik war völlig gerechtfertigt. Doch die berechtigte Kritik mündete schliesslich in einer liberalen Identitätspolitik.
Ist das schlecht, wenn man sich gegen die Diskriminierung von Transmenschen und anderen Minderheiten einsetzt?
Ich sage nicht, wir brauchen weniger Identitätspolitik. Wir können das eine tun, ohne das andere zu lassen. Geschlechterfragen etwa sind in der Regel auch Klassenfragen – und umgekehrt. Die Soziologie muss sich einfach wieder stärker sozialen Fragen widmen.
«Ich glaube nicht, dass Banker ein besonders schöner Beruf ist.»
Also Fragen wie: Wer hat wie viel Geld?
Viele Filme und Studien erzählen von Bankern und wie viel die arbeiten müssen. Ich glaube auch nicht, dass Banker ein besonders schöner Beruf ist, da man – zumindest bis man in den höheren Etagen angekommen ist – ein anomisches Leben leben muss: kein Privatleben mehr, Freundschaften können nicht gepflegt werden, man muss ständig Sport machen, einer ästhetischen Norm entsprechen. Aber von den Leuten, die in der Nacht in den Bankgebäuden sind, die putzen und Essen bringen, redete lange niemand.
Über Banker schreiben ist sexy, über Putzpersonal eher weniger. Ist im Journalismus auch so, dünkt es mich.
Das ist Teil der neoliberalen Ideologie: Erfolg ist sexy, Verlierer sind es nicht. Heute geht es nicht mehr um Leistung, wie mein Kollege Sighard Neckel herausgearbeitet hat, es geht um Erfolg. Deshalb beschäftigen sich Forscherinnen und Journalisten viel mehr mit Erfolgreichen als mit Verlierern. Und jetzt reiben sie sich alle die Augen wegen Trump in den USA, der AfD in Deutschland, der FPÖ in Österreich oder dem Front National in Frankreich.
In der Schweiz ist die SVP schon länger ein Thema.
In vielen europäischen Ländern repräsentieren die Sozialdemokratien nicht länger das soziale Unten, sondern die soziale Mitte. Sie sagen, wir brauchen Personenfreizügigkeit und freie Märkte. Doch die kommen vor allem den Eliten zugute und haben Arbeitnehmerfreizügigkeit zu einem Mittel eines «Race to the Bottom» gemacht, zum Beispiel in der Schlachtindustrie.
Was heisst das?
Es gibt fast keine betrieblich organisierten Belegschaften mehr. Die Arbeit wird von rumänischen Gastarbeitern gemacht, die in Deutschland rumänische Löhne bekommen und wie moderne Lohnsklaven in Kasernen in Schichten untergebracht werden.
«Die meisten rechtspopulistischen Parteien entwickelten sich von einst neoliberalen zu wohlfahrtschauvinistischen Parteien.»
Wie früher die italienischen Saisonniers in der Schweiz.
Das hat dann bei den deutschen Arbeitern Ressentiments geschürt…
Im Stil von: Die drücken uns die Löhne, nehmen uns die Jobs weg und können nicht mal unsere Sprache?
Da konnten dann die rechtspopulistischen Akteure ansetzen. Die meisten rechtspopulistischen Parteien Europas haben ja als neoliberale Parteien angefangen. Doch sie haben sich jetzt durch die Krise der sozialdemokratischen Parteien sukzessive zu wohlfahrtschauvinistischen Parteien entwickelt, die den neoliberalen Weg verlassen haben. Die NZZ schrieb sogar, der Front National habe ein linksextremes Wirtschaftsprogramm.
Wohlfahrtschauvinistisch?
Der Front National will den Sozialstaat selektiv ausbauen und erhalten. Aber nur für Franzosen, nicht für Immigranten.
Die Sozialdemokraten und Gewerkschaften in der Schweiz setzen sich für flankierende Massnahmen gegen Lohndumping ein, die SVP will sie streichen.
In Deutschland haben Sparmassnahmen überhaupt erst zum Aufkommen der AfD geführt. Das innenpolitische Sparprogramm läuft seit 2001. Viele Menschen in den Kommunen erleben das so: Die Schwimmbäder gehen kaputt und werden geschlossen, die Strassen werden nicht erneuert, die quasi privatisierten Züge werden nicht instandgehalten, jetzt kommen sie häufig zu spät. Basel ist nicht nur so schön, weil die Stadt schön gebaut ist, sondern auch, weil alles instandgehalten wird. Gehen Sie in Deutschland an die Uni, sind da viele Gebäude in keinem guten Zustand. Die Regierung sagt immer: «Wir haben kein Geld, es gibt keine Alternative.» Dabei wird ignoriert, dass man seit den 80er-Jahren systematisch die Steuern senkt.
«Die Willkommenskultur war echt, und zwar über alle Schichten hinweg.»
Und das macht die Leute in Deutschland sauer?
Es gab zwei Schlüsselmomente. Einer ist die Finanzkrise von 2007/2008. Immer hatte es geheissen: Deutschland hat kein Geld. Und als die Deutsche Bank in der Krise war, gab es über Nacht plötzlich Geld wie Heu. Danach sind die Occupy-Bewegungen entstanden.
Der zweite Schlüsselmoment war die Flüchtlingskrise?
Genau, auch da gab es viel Geld.
Und eine Willkommenskultur.
Die Willkommenskultur war echt, und zwar über alle Schichten hinweg. Das war ein richtiger zivilgesellschaftlicher Aufbruch, es gab eine soziale Bewegung, die keine war. Eine Do-it-yourself-Bewegung.
Jeder wurstelt selbst?
Bei einer normalen sozialen Bewegung gibt es zumindest eine gemeinsame Koordination und Kommunikation. Hier gibt es keine Vernetzung, nur Individuen, die sich verpflichtet fühlen. Aber es gab auch Widerstand.
Weil es für die Flüchtlinge Geld gab, für die Probleme im Land aber nicht?
Ja, da hätten die Sozialdemokraten kommen müssen und sagen: «Wir machen Schluss mit der Sparpolitik, wir schaffen eine gerechte Gesellschaft für alle. Wir helfen natürlich den Flüchtlingen, aber wir erhöhen auch die Steuern für die oberen zehn Prozent, um mehr Gerechtigkeit für alle zu schaffen und die Kommunen zu sanieren.» Das blieb aus und die AfD konnte ihre Ressentiments verbreiten.
«In Deutschland nehmen psychische Probleme unter Studierenden stark zu. Fast ein Viertel geht zu einer Beratung.»
Sie sagen also unter dem Strich: Sowohl die Intellektuellen als auch die linken Politiker haben den Kontakt zu den Armen verloren.
Ja. Allerdings hat es sich in den vergangenen fünf Jahren unter den Intellektuellen ein wenig geändert: Soziologen beschäftigen sich mit dem Dienstleistungsprekariat. Damit, dass Leute plötzlich absteigen. Junge Leute, die eigentlich weltoffen sind, sehen sich ihrer Aufstiegsperspektiven beraubt und verstehen die Welt nicht mehr.
In Jonas Lüschers Roman nimmt sich der Absteiger Kraft am Ende das Leben. Kein optimistischer Schluss.
Ich glaube, in der Realität beginnen die Leute, nachzudenken. Ich sehe das an der Uni: In Deutschland gibt es einen massiven Anstieg an psychischen Problemen unter den Studierenden. Fast ein Viertel geht deswegen zu einer Beratung.
Die haben eine riesen Zukunftsangst.
Das war früher anders. Der deutsche Kabarettist Rainald Grebe scherzte über die Studentenbewegung: «68, das war Revolution bei Vollbeschäftigung.» Bei mir war das auch so. Ich komme auch aus einem Aufsteigerhaushalt. Mein Grossvater arbeitete in der Fabrik, hat dann aber einen kleinen Handwerksbetrieb aufgemacht. Mein Vater wurde Elektriker, ging dann aber zur Bundeswehr, um sich die Abendschule zu finanzieren und Ingenieur zu werden. Am Ende wurde er Geschäftsführer eines städtischen Versorgers. Eine Karriere.
«Vielleicht finden die Studierenden und die Dienstleister in Zukunft wieder in Gewerkschaften zusammen.»
Sie sind kein Bildungsbürger? Hatten Sie dann nicht immer das Gefühl, Sie seien der Dümmste unter den Studierenden?
Doch, natürlich.
Und trotzdem wurden Sie Professor. Oder gerade deswegen?
Man entwickelt einen Ehrgeiz. Ich wollte etwas Interessantes machen. Bei uns zu Hause gabs ein paar Stones-Platten, aber vor allem Schlager. Doch mein Vater las täglich die Zeitung, ich wurde dann manischer Zeitungsleser und wollte als Journalist zum «Spiegel». Das hat nicht geklappt, also schrieb ich eine Doktorarbeit und ging nach England, um zu forschen. Das war für meine Eltern ein bisschen unheimlich, dass ihr Sohn ins Ausland ging. Aber heute ist das ja ein Muss für die Studierenden. Die empfinden das gar nicht als Freiheitsmoment. Die haben viel mehr einen Plan vor sich und wissen, wenn ich jetzt eine Stelle finden will, muss ich ins Ausland.
Und mehrere Praktika in guten Firmen machen.
Genau. Aber Praktika sind teuer. Das können sich nur noch Mittelstandskids leisten, Kinder von Arbeitern nicht.
Und aus diesem Leiden der Studierenden und der Arbeiterkids erhoffen Sie sich sozialen Widerstand?
Es ist kein Leiden. Aber viele Studierende wollen heute nicht mehr interessante Jobs. Sie wollen lieber in den öffentlichen Dienst, einen sicheren Arbeitsplatz. Sie sagen: Bevor ich mich kaputt mache, habe ich doch lieber gute Freunde und schaue ein bisschen Netflix und pflege Eskapismus.
«Schauen Sie nach Grossbritannien: Dort konnte ein alter Linker die Jungen für die Labour Partei mobilisieren.»
In meiner Familie gibt es Köche und Serviceangestellte. Die arbeiten auch 14 Stunden, und das zehn Tage am Stück, ohne Aussicht auf Sicherheit.
Vielleicht finden die Studierenden und die Dienstleister in Zukunft wieder in Gewerkschaften zusammen. Viele Studierende, zum Beispiel Leute von der Occupy-Bewegung, gehen wieder in die Gewerkschaften und modernisieren sie von innen. Ich sage nicht, dass wir an der Schwelle zu einer neuen sozialen Bewegung stehen, aber die Menschen sind offener für Diskussionen. Schauen Sie nach Grossbritannien: Dort konnte ein alter, authentischer Linker wie Jeremy Corbyn die Jungen für die Labour Party mobilisieren.
Hier in der Schweiz hat eine junge, liberale Operation Libero 2016 die Durchsetzungsinitiative der SVP zu Fall gebracht und jetzt erfolgreich No Billag mitbekämpft.
Es ist eine Umbruchsphase.
Ist es denn möglich, den Kapitalismus zu überwinden?
Warum nicht? Historisch betrachtet, ist der Kapitalismus ein junges System, 250 Jahre alt. Ich glaube, dass wir mit der Digitalisierung an einer Schwelle stehen. Aber was jetzt manche ökonomische Kollegen über die Automatisierungswelle schreiben…
Dass über die Hälfte der Jobs verloren gehen wird?
Da habe ich grosse soziologische und wirtschaftshistorische Skepsis. Eigentlich sind mit jeder technologischen Revolution mehr Jobs entstanden. In den 30er-Jahren gab es eine einschneidende politische Situation: den Faschismus in Deutschland und den New Deal in den USA. Der US-Präsident hat seine Bürger aufgefordert, in eine Gewerkschaft einzutreten. Der Mindestlohn galt in Deutschland als Teufelszeug, aber die USA führten ihn 1936 ein und fuhren ganz gut damit. Es gab eine sehr, sehr hohe Besteuerung und eine stärkere Demokratisierung der Gesellschaft.
Das heisst, man kann den Kapitalismus auch verbessern?
Ja, es gab immer wieder Schübe und Ansätze, den Kapitalismus zu reformieren. Ich wünsche mir, dass wir eine gerechtere Gesellschaft hinbekommen, und ich möchte meinen Beitrag dazu leisten. Wenn das im Kapitalismus stattfindet, freue ich mich. Wenn man sogar eine neue, gerechte Gesellschaftsordnung hinbekommt: grossartig.
Dienstag, 13. März, 18.15 bis 20 Uhr hält Oliver Nachtwey seine Antrittsvorlesung: «Die solutionistische Ethik und der neue Geist des digitalen Kapitalismus», in der Aula des Naturhistorischen Museums, Augustinergasse 2.