«Meret wuchs einigen über den Kopf»

Am 6. Oktober würde Meret Oppenheim 100 Jahre alt. Wie war die berühmteste Künstlerin der Schweiz privat? Adrian Bühler, ihr Neffe, gewährt Einblicke in ihr Leben.

Die Tante in guter Erinnerung: Meret Oppenheims Neffe Adrian Bühler. (Bild: Nils Fisch)

Adrian Bühler ist der Neffe der berühmtesten Künstlerin der Schweiz. Im Interview spricht er über die resolute Tante mit dem starken Willen – und gewährt uns einen Einblick in Meret Oppenheims Familienleben.

Wer Meret Oppenheim hört, denkt zuerst an die berühmte Pelztasse, die sie im Kreise der Surrealisten schuf. Will man mehr über die Künstlerin wissen, bietet sich ein Gang ins «Manger & Boire» an. Die Basler Beiz gehört Adrian Bühler, einst Taxifahrer und Nachtportier, gelernter Biologe – und Neffe von Meret Oppenheim.

Wir haben den Wirt bei einem Kaffee und einem Glas Roten getroffen und mit ihm in seinen Erinnerungen an die berühmteste Künstlerin der Schweiz gestöbert. Entstanden ist das Bild einer resoluten, aber warmherzigen Frau, die bis hin zur Namensgebung für Nachfahren immer ihren Willen durchsetzte.

Adrian Bühler, wie erinnern Sie sich an Meret Oppenheim – als Fami­lienmitglied oder als Künstlerin?

In erster Linie war sie meine Tante. Sie hatte ein enges Verhältnis zu meiner Mutter und war oft für ein paar Tage bei uns zu Besuch. Es gibt aber auch viel, das ich über sie gelesen habe. Und dann erkenne ich sie darin.

Zum Beispiel?

Max Ernst war ja ein enger Vertrauter. Und er schrieb einmal, das «Meretlein» sei ihm und seinen Freunden über den Kopf gewachsen. Das kann ich mir bei meiner Tante sofort vorstellen. Sie war extrem kreativ und wuchs mit ihrer Fantasie wohl schon so einigen über den Kopf – im besten Sinne. Das ist es, was sie so besonders macht. Künstler haben immer Ideen, die sie realisieren wollen. In der Umsetzung spalten sie sich in zwei Lager: Die einen, die mit enormem technischem Aufwand arbeiten, und die anderen, die mit den einfachsten Mitteln die tollsten Ideen verwirklichen. Meret gehörte zu Letzteren.

Basel feiert Meret Oppenheim 

Am Sonntag, 6. Oktober 2013, würde Meret Oppenheim
100 Jahre alt. Ihr zu Ehren findet im Museum Tinguely ein Geburtstagsfest statt (Beginn 11.30 Uhr). Um 15 Uhr wird eine Geburtstagsrede und -torte serviert.

Weitere Aktionen in Basel zum Jubiläum von Meret Oppenheim finden Sie hier.

Wie war das Verhältnis zu ihren Eltern?

Sehr gut, sie hat ihren Eltern oft Briefe geschrieben, auch von Paris aus, wo sie mit 20 hinzog. Dass man sein Mädchen einfach so ziehen lässt, war damals nicht üblich. Aber mein Grossvater war ein sehr toleranter, weitsichtiger Mensch, der erkannt hatte, dass man seine Kinder nicht an die kurze Leine binden und ihnen Freiraum für ihre Gedanken geben muss. Er hat gesagt, wenn sie das machen wolle, dann solle sie. Wahrscheinlich hat er sie auch finanziell unterstützt. Ein bisschen erinnert mich das auch an die Geschichte meiner Tochter, die mit 16 beschloss, nach Kuba zu gehen, um Spanisch zu lernen. Mit 16 nach Kuba, sowas macht nicht jeder. Aber sie hatte es sich in den Kopf gesetzt und zog los.

Das Prinzip «Mit dem Kopf durch die Wand» liegt also in der Familie?

Ja. Auch meine Mutter machte immer, was sie wollte. Bei uns Kindern ist es dasselbe. Aber es gab auch andere. Der Vater von Meret sagte einmal in einem Film: «Ich habe drei Kinder: eine Schöne, eine Intelligente und einen Lieben.» Die Schöne war Meret, die Intelligente meine Mutter und der Liebe mein Onkel.

Ihre Mutter und Meret standen sich sehr nah. Wie äusserte sich das?

Sie freute sich, dass ihre Schwester kriegte, was ihr zustand, dass sie sich als Künstlerin durchsetzen konnte und erfolgreich wurde. Beide Frauen waren sich sehr ähnlich. Es waren sehr bestimmende Menschen. Aber ohne dominant zu sein. Vielmehr resolut, mit einer Prise Zynismus. Sie wussten genau, was sie wollten. Die beiden gingen auch zusammen in die Ferien.

Wurde Meret durch ihren Ruhm mit den Jahren zum Alphatier der Familie?

Keineswegs. Jeder hatte seinen Raum. Meine Mutter war Grafo­login und Psychologin, der Bruder Jurist. Wenn sie vorbeikam, war es einfach die Tante, die Kunst machte. Mit uns war sie energisch, aber immer sehr warmherzig.

Wie zeigte sich diese resolute Warmherzigkeit?

Es war für uns Familienmitglieder obligatorisch, unsere Töchter nach Meret zu benennen. Kurz vor der Geburt meiner Tochter fragte sie mich, wie das Kind heissen sollte. Ich sagte Colette, und sie fragte: «Colette, und wie noch?» Ich sagte nichts und sie sagte, deine Tochter muss Colette Meret heissen. Und genau so haben wir sie genannt. Meine Schwester hiess auch Meret, ihre Tochter heisst Noemie Meret. Meret bestand darauf. Ich weiss nicht, wieso. Sie selbst hatte ja keine Kinder.

«Es war für uns obligatorisch, unsere Töchter nach ihr zu benennen.»

Vielleicht aus diesem Grund?

Ja, das kann gut sein. Mit dem Weitergeben des Namens hat sie sich eine Verbundenheit geschaffen, eine Erinnerung an sie.

Wollte sie denn keine Kinder?

Ich weiss es nicht. Sie lebte sehr frei. Mit ihrem Ehemann Wolfgang La Roche führte sie eine offene Beziehung, vorher hatte sie Beziehungen mit Max Ernst, Alberto Giacometti und André Breton. Auch nachdem La Roche 1967 gestorben war, hatte sie Beziehungen, auch mit Frauen. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter einmal nach Paris fuhr, um eine Freundin Merets aus ihrer Wohnung zu schmeissen, weil diese sie misshandelt hatte.

Wie bleibt Ihnen Meret Oppenheims überraschende Fantasie in Erinnerung?

Einmal war sie mit einer Freundin in Lugano. Meret war etwas hörbehindert. Nachdem ihre Freundin sie gefragt hatte, ob sie das Bahnbillett habe, sagte Meret: «Was? Fasanenfilet?» Schon allein die Idee! Dass man von einem Bahnbillett auf ein Fasanenfilet kommt – das zeugt doch von genau dieser kuriosen ­Kreativität, die ihr innewohnte. Ironischerweise wurde bei ihrer Abdankung Fasanenfilet aufgetischt, obwohl kaum jemand von der Geschichte wusste. Es war ihr kleiner Abschiedsgruss.

Stimmt es, dass sie ihren Tod bereits früher einmal in einem Traum vorausgesehen hatte?

Ja. Als sie 36 war, hatte sie einen Traum: Sie sass in einem Raum an einem Tisch, eine Figur kam herein, und sie dachte, das ist der Tod. Er kam an den Tisch und kehrte eine Sanduhr um, welche auf dem Tisch stand. Sie interpretierte dies als Halbzeit. Anfang 1985, dem Jahr ihres 72. Geburtstags, sagte sie: «Dieses Jahr werde ich nicht überleben.» Im November starb sie.

Eine starke Vorahnung.

Ja, Meret hatte einen unangreifbaren Willen. Nicht einmal beim eigenen Tod liess sie sich auf Kompromisse ein. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass es mit 72 zu Ende sein würde, und so kam es auch.

Was ist passiert?

Kurz vor ihrem Tod hatte sie in der Galerie Fanal im St. Alban-Tal einen leichten Herzinfarkt. Im Krankenwagen griff sie dem Sanitäter an den Arm und sagte: «Hören Sie, ich will keine Musik und keinen Pfarrer.» Und als am nächsten Tag der Herzchirurg nach der Untersuchung ­sagte: «Au revoir Madame Oppenheim», sagte Meret: «Je ne crois pas.» Zehn Minuten später hatte sie den nächsten Herzinfarkt und starb.

Er hatte nicht mit ihrem Willen gerechnet.

Genau. Sie hatte geahnt, dass sie sterben würde. Bei meiner Schwester, die ebenfalls Meret hiess, verlief es ähnlich: Sie hatte Krebs und sagte irgendwann, jetzt sei Feierabend. Zwei Tage später war sie tot.

Meret Oppenheim kam als Kind nach Basel und kehrte nach ­ihrer Zeit in ­Paris noch einmal kurz zurück. Wie war ihr Verhältnis zu Basel?

Gar nicht gut. Sie fühlte sich vernachlässigt. Heute reden die Basler immer von «unserer Meret», dabei hat das Kunstmuseum zeit ihres Lebens nur ein Bild gekauft. Nachdem sie gestorben war, bekam das Berner und nicht das Basler Kunstmuseum einen Drittel ihres Nachlasses.

«Meret fühlte sich in Basel vernachlässigt.»

Immerhin verlieh ihr die Stadt Basel 1975 den Kunstpreis.

Stimmt. Aber der Preis kam ziemlich spät in ihrer Karriere. Dazu hielt sie eine Brandrede, in der es um die ­untergeordnete Stellung der Frau in der Kunstszene ging. Sie sagte: «Die Freiheit muss man sich nehmen, sie wird einem nicht gegeben.» Und diese Freiheit nahm sie sich – und ging nach Bern.

Heisst das, dass die Kunstszene in Basel damals eine Männerdomäne war, in der sie sich nicht akzeptiert fühlte?

Es waren meines Erachtens nicht die Männer in der Kunstdomäne, eher die der Finanzdomäne, welche damals zu Unrecht postulierten, dass Frauen hinter dem Herd stehen und sich nicht mit Fisimatenten wie Kunst beschäftigen sollten. Das war nicht nur in Basel der Fall, es war eigentlich weltweit so.

In Bern steht seit 1983 ein Brunnen von ihr. Ein anderer wurde eben in Basel aufgestellt. Macht Sie das stolz?

Mir gefällt der Brunnen, und ich ­finde es schön, dass in Basel etwas von ihr gezeigt wird. Aber darum muss kein grosses Trara gemacht werden, und ich will mich auch nicht mit fremden Federn schmücken. Wenn das andere Leute machen ­wollen, sollen sie das. Meret hat es in jedem Fall verdient. Aber mit mir hat das nichts zu tun.
 
 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26.07.13

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