«Vogelgrippe und Sars waren Vorboten von dem, was kommen könnte»

Bis 10. September präsentieren in Basel 1700 Forscher aus 95 Ländern ihre Arbeit an der grössten europäischen Konferenz zu Tropenmedizin und Public Health. Jürg Utzinger spricht im Interview über seinen Start als neuer Leiter des Tropeninstituts und die grossen Herausforderungen im globalen Gesundheitssystem.

Die Fussstapfen sind gross, in die der neue Direktor des Tropeninstituts tritt. «Das Team steht im Vordergrund und nicht ich», sagt Jürg Utzinger.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Bis 10. September präsentieren in Basel 1700 Forscher aus 95 Ländern ihre Arbeit an der grössten europäischen Konferenz zu Tropenmedizin und Public Health. Jürg Utzinger spricht im Interview über seinen Start als neuer Leiter des Tropeninstituts und die grossen Herausforderungen im globalen Gesundheitssystem.

Die Anfrage für dieses Gespräch beantwortet Jürg Utzinger in Hongkong, im Transit zwischen Zürich und Manila. Dort war der neue Leiter des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts (Swiss TPH) zu Gast auf einem internationalen Kongress. Zurück in Basel folgen zwei mit Sitzungen vollgepackte Tage. Die letzte Nachricht unmittelbar vor unserem Treffen schickt Utzinger um halb zwei in der Nacht – mit dem Hinweis, er werde sich nun auch noch einige Stunden hinlegen.

Jürg Utzinger wurde 1968 in Zürich geboren und studierte Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Nach Forschungsarbeiten in der Côte d’Ivoire promovierte er 1999 in Epidemiologie am damaligen Schweizerischen Tropeninstitut (heute Swiss TPH). Es folgte ein Forschungsaufenthalt an der Princeton University in den USA. Ab 2004 leitete er als Professor für Epidemiologie der Universität Basel die Abteilung Ecosystem Health Sciences am Swiss TPH. Utzinger ist ein Experte für Epidemiologie und die integrierte Kontrolle von parasitären Tropenkrankheiten, mit Schwerpunkt Bilharziose und anderen Wurmerkrankungen.
Er übernahm am 1. Juli 2015 die Leitung des Swiss TPH vom ehemaligen Direktor Marcel Tanner.

Am nächsten Morgen sprüht er trotzdem vor Energie, als er mit grosser Begeisterung durch den Forschungstrakt des Swiss TPH führt. Über 600 Menschen aus 60 Ländern forschen hier an Malaria, Wurmerkrankungen, Tuberkulose oder an chronischen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes.

Auf dem Organigramm am Eingang besetzt noch immer Marcel Tanner den Direktorenposten des Swiss TPH, der berühmte Vorgänger Utzingers, der sein Amt vor zwei Monaten abgab. Ganz angekommen in seiner Funktion ist Utzinger noch nicht. Nach wie vor steht der Epidemiologe mit einem Bein in der Forschung und schliesst die Arbeiten seiner letzten Doktoranden ab. Im Direktionsbüro stehen bislang lediglich ein Tisch und vier Stühle. Zum Einrichten hatte er noch keine Zeit. Vielleicht nach dem Megakongress in Basel.

Herr Utzinger, Sie leiten seit zwei Monaten das Swiss TPH. Wie ist es, wenn man vom Forscher plötzlich zum Direktor wird?

Ich hoffe, dass ich auch in Zukunft nicht nur als Repräsentant des Swiss TPH auf Konferenzen eingeladen werde, sondern auch als Forscher, der wissenschaftlich etwas leistet. Aber natürlich merke ich jetzt schon, dass es schwierig wird, neben dem Tagesgeschäft gelegentlich auch noch eigene Feldarbeit zu betreiben. Das war ein wenig wie ein Schalter, der am 1. Juli, meinem ersten Arbeitstag, umgekippt ist. Die Repräsentationsaufgaben haben deutlich zugenommen und die Netzwerkpflege wird natürlich noch wichtiger.

Arbeiten Sie täglich bis um halb Zwei in der Nacht?

Nein, das sind Ausnahmen (lacht). Aber manchmal tue ich das gerne, weil das praktisch die einzige Zeit ist, während der man ungestört Dinge abarbeiten kann. Aber ich werde für mich auch erst noch einen Managementstil finden müssen, der die Arbeitszeit in ein vernünftiges Mass rückt. Das wird sich in den nächsten Monaten legen.

Wie kommt es eigentlich, dass Sie auch Kiswahili sprechen?

Ich habe längere Zeit in Afrika geforscht. Am intensivsten während meiner Doktorarbeit, als ich drei Jahre lang jeweils während neun Monaten an der Elfenbeinküste gelebt habe. Seit 20 Jahren arbeite ich nun mit dortigen Partnern zusammen und viele meiner Doktoranden kommen aus der Elfenbeinküste. Kiswahili habe ich aber während eines einjährigen Praktikums in Tansania gelernt, als Teil meines Nachdiplomstudiums in Entwicklung und Zusammenarbeit.

«Die Ebola-Krise ist auch eine Chance: Wir realisierten, wie wichtig funktionierende lokale Gesundheitssysteme sind, denen die Menschen vertrauen.»

Sie starten gleich mit der Austragung des «9th European Congress on Tropical Medicine and International Health» in Ihre neue Funktion. Wie wichtig ist dieser Kongress?

Es ist der europaweit grösste Kongress zu Tropenmedizin und internationaler Gesundheit. Das Swiss TPH hat sich bei der letzten Austragung in Kopenhagen vor zwei Jahren darum beworben. Dass der Kongress dieses Jahr zum ersten Mal in Basel stattfindet ist für uns ein Highlight. Über 1700 Wissenschaftler aus 95 Ländern werden während vier Tagen Vorträge halten, ihre aktuelle Forschung präsentieren und auf Diskussionspanels die grossen Herausforderungen des globalen Gesundheitssystems diskutieren.

Solch eine Herausforderung war die vergangene Ebola-Epidemie, die auch am Kongress in Basel mehrfach ein Thema sein wird. Was hat man aus der Krise gelernt?

Der letzte Ebola-Ausbruch war in seiner Intensität und Verbreitung einzigartig. Die Weltgesundheitsorganisation in Genf hat viel zu spät realisiert, welchen Umfang diese Krise hat, obschon zum Beispiel «Médecins Sans Frontières» schon früh auf erste Fälle hingewiesen hat. In drei Ländern ist die gesundheitliche Versorgung und die lokale Wirtschaft daraufhin teils komplett zusammengebrochen. Im Rückblick ist diese Krise aber auch eine Chance: Wir realisierten, wie wichtig funktionierende lokale Gesundheitssysteme sind, denen die Menschen vertrauen. Wenn nämlich ein bereits schwaches Gesundheitssystem mit einer solchen Krise konfrontiert wird, dann zerfällt alles. Das Risiko, an Malaria oder an einer schwierigen Schwangerschaft zu sterben, steigt gleich ungemein.

Und wie stärkt man die lokalen Gesundheitssysteme?

Die Überwachungssysteme müssen verbessert werden. Verdächtige Krankheitsfälle müssen auf lokalen Stationen registriert und die Daten in ein nationales Gesundheitssystem eingespeist werden. So können nationale Institutionen auch frühzeitig internationale Organisationen benachrichtigen, wenn sie Hilfe benötigen.

Wie realistisch ist das denn zum Beispiel für eine kleine Krankenstation in einem guineischen Dorf, das nur zu Fuss erreichbar ist und wo man selbst um saubere Spritzen kämpfen muss?

Das ist natürlich eine Schwierigkeit. Aber mit relativ wenig Aufwand können wir die Qualität eines Gesundheitssystems deutlich stärken. Dafür braucht es keine neuen Röntgengeräte oder weiss ich was. Gut ausgebildetes und regelmässig entlohntes Gesundheitspersonal und ein Minimum an schnellen und kostengünstigen Nachweismethoden und essenziellen Medikamenten würde uns schon einen grossen Schritt weiterbringen.

«Von den parasitären Wurminfektionen, zu denen ich forsche, sind über eine Milliarde Menschen betroffen, also jeder achte. Und trotzdem sind die verfügbaren Forschungsgelder marginal.»

Waren Sie während der Krise selbst in einem der von Ebola betroffenen Länder?

Ja, ich war Mitte Juni, als man wieder einreisen durfte, zum ersten Mal in Guinea, und zwar mit einer kleinen Delegation vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation. Zwar nur in der Hauptstadt Conakry, aber es war unglaublich zu sehen, wie viele internationale Organisationen sich dort in kürzester Zeit niedergelassen haben, wie neue Labore aufgebaut wurden und Experten ausgebildet werden. All diese Anstrengungen werden dafür sorgen, dass es nicht mehr so weit kommt.

War nicht auch eine Ursache für diese Krise, dass kaum Geld in die Ebola-Forschung floss, weil es keinen Markt für die Therapie dieser Tropenkrankheit gab?

Doch eindeutig. Ich forsche ja ebenfalls an vernachlässigten Tropenkrankheiten, und es ist tatsächlich sehr schwierig, Gelder für neue Diagnostika und Behandlungen zu finden. Erst als Ebola ausbrach, wurden plötzlich Gelder in einem Masse freigesetzt, wie man es vorher niemals für möglich gehalten hätte. Zum Beispiel von der EU, die sonst eher als träger Apparat bekannt ist. Innerhalb von wenigen Tagen wurden Millionen für die Entwicklung einer neuen Impfung bereitgestellt.

Dass Industrie und Geldgeber solche Tropenkrankheiten vernachlässigen, ist das ein allgemeines Problem?

Ja, und am Ende ist das auch unerhört! Von den parasitären Wurminfektionen, zu denen ich forsche, sind über eine Milliarde Menschen betroffen, also jeder achte. Und trotzdem sind die verfügbaren Forschungsgelder marginal – vor allem im Vergleich zu Geldern, die zum Beispiel in die Krebsforschung fliessen.

In letzter Zeit konnte man viel darüber lesen, dass Resistenzen in der Medizin zu einem immer grösseren Problem werden. Macht sich das auch in der Tropenmedizin bemerkbar?

Wir beobachten das zum Beispiel bei der Malariabekämpfung im Mekong-Delta. Die effizientesten Gegenmittel sind die Kombinationsbehandlungen auf der Basis von Artemisinin, einer Heilpflanze aus dem chinesischen Raum. Diese wirkte lange Zeit schnell und gut. Nun beobachten wir aber erste Resistenzen. Und wir haben praktisch keine Alternativen dazu. Bei Antibiotika ist das Problem der Resistenzen sogar noch ausgeprägter. Denn Bakterien reproduzieren sich schneller, weshalb früher Resistenzen auftreten. Es gibt heute schon Gebiete, wo Tuberkulose-Behandlungen nicht mehr wirksam sind, die früher erfolgreich waren. Nicht mal mit Medikamentenkombinationen hat man dort noch Erfolg. Da werden riesige Probleme auf uns zukommen!

«Viele global tätige Ärzte wehren sich gegen das unsolidarische Verhalten gegenüber Flüchtlingen. Wir dürfen da nicht einfach unbeteiligt zuschauen.» 

Woher kommen diese Resistenzen?

Je flächendeckender neue Wirkstoffe eingesetzt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Resistenzen. Es reicht eben nicht, nur ein Medikament oder einen Impfstoff zu entwickeln. Wir müssen mehrere Werkzeuge sinnvoll miteinander kombinieren, um Resistenzen und die Abhängigkeit von einem Werkzeug alleine zu reduzieren. Deshalb plädieren wir für integrierte Kontrollansätze.

Wie muss man sich einen solchen «integrierten Ansatz» vorstellen?

Nehmen wir Malaria: Wir haben einen Wirkstoff für die Therapie; in naher Zukunft vielleicht auch einen Impfstoff. Hinzu kommen Insektizid-behandelte Mückennetze, um Menschen vor Stichen zu schützen. Und ein Gesundheitssystem, das eine rasche Behandlung erlaubt. Vielleicht werden sogar Brutstätten von Mücken entwässert. So sähe ein integrierter Ansatz aus.

Was bei der Durchsicht des Kongressprogramms überrascht: Ein Panel widmet sich der aktuellen Flüchtlingskrise im Mittelmeer. Weshalb ist Migration auch ein Gesundheitsthema?

Ich bin froh, dass Sie das ansprechen. Ich bin mir nämlich sicher, dass diese Session sehr emotional wird. An der Konferenz nehmen viele praktizierende und global tätige Ärzte teil. Sie wehren sich zunehmend gegen das unsolidarische Verhalten gegenüber den Flüchtlingen. Und gegen Regierungen, die ihre Augen vor einem riesigen Problem verschliessen. Wir dürfen da nicht einfach unbeteiligt zuschauen.

Aus welchem Blickwinkel setzen sich die Ärzte mit der Flüchtlingskrise auseinander – aus einem moralischen?

Ja, denn es geht um den Schutz von Leben und um Menschenrechte. Das sind Menschen wie Sie und ich. Die reisen ja nicht einfach aus Vergnügen, sondern fliehen in den allermeisten Fällen aus Kriegsregionen und vor der Armut. Die gewagte Reise übers Mittelmeer erscheint als letzter Hoffnungsschimmer. Vom moralischen Aspekt einmal abgesehen, erfordert die Krise natürlich auch gesundheitspolitische Entscheidungen. Zum Beispiel wäre es sinnvoll, wenn Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Europa einige gesundheitliche Schnelltests durchführen würden, damit sie entsprechend behandelt werden könnten. Aber auch, damit möglicherweise eingeschleppte Krankheiten frühzeitig erkannt würden. So wäre den Flüchtlingen und uns geholfen. Am Ende könnten wir auch unsere Gesundheitskosten entlasten, indem wesentlich aufwendigere spätere Checks wegfallen.

Müssen wir uns durch zunehmende Migration und Mobilität auch auf neue Krankheiten in Europa und der Schweiz gefasst machen?

Absolut! Alles hängt global zusammen, die Geschwindigkeit im Güterhandel, in der Migration und die Mobilität nehmen zu. Das führt zu globalen Problemen, wie wir sie bislang nicht kannten.

Gibt es bereits Beispiele dafür?

Die Vogelgrippe und Sars waren sicher Vorboten von dem, was auf uns zukommen könnte. Bei der Schweine- oder Vogelgrippe hatten wir Glück, dass der Übersprung vom Tier auf den Menschen nicht in dem Mass stattfand, wie wir befürchtet hatten. Wie verheerend eine solche Zoonose sein kann, hat die spanische Grippe von 1918 mit über 25 Millionen Toten gezeigt. Die Herde von neuen Pandemien liegen oft im asiatischen Raum, wo die Bevölkerungsdichte gross und die Mensch-Tier-Interaktion sehr eng ist. Wir müssen da sehr vorsichtig sein und die gesundheitliche Überwachung verstärken.

Ist es also nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder mit unbekannten und nicht behandelbaren Viren konfrontiert werden?

Ja, die enorme Mobilität von Menschen, Tieren und Gütern haben dieses Risiko stark erhöht. Lange gab es Wissenschaftler, die meinten, das Kapitel der übertragbaren Krankheiten sei abgeschlossen. So weit werden wir noch in Jahrzehnten nicht sein. Forschung, Entwicklung und globale Partnerschaften zur Bekämpfung von Pandemien sind deshalb enorm wichtig.

Ein weiteres Thema der Konferenz ist der Klimawandel. Welche Folgen hat er auf Public-Health-Systeme?

Es ist durchaus möglich, dass wir durch die neuen klimatischen Bedingungen bald auch in der Schweiz mit Krankheiten konfrontiert sind, die bislang nur im Mittelmeerraum auftauchten. Vor allem wenn die Wintertemperaturen plötzlich so hoch sind, dass Parasiten überwintern können. Zudem könnten Hitzewellen zunehmen, wie im Sommer 2003, als alleine in der Schweiz fast 1000 Menschen aufgrund der hohen Temperaturen starben. Das bedingt Adaption und Mitigation in vielen Bereichen. Da sehen wir derzeit erst die Spitze des Eisbergs.

«Vielleicht kommen die wichtigen Entwicklungen künftig nicht mehr aus den USA und Europa, sondern aus den Schwellenländern selbst.»

Was bedeuten diese neuen Rahmenbedingungen für die Tropenmedizin und das Swiss TPH?

Gesundheitsexperten alleine werden keine Lösungen für diese Probleme finden. Wir brauchen neue Partnerschaften und intersektorale Kollaborationen, wo sich Menschen aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten treffen. Das ist gerade erst am entstehen. An der Konferenz in Manila, die ich kürzlich besuchte, waren solche Trends bereits spürbar. Vielleicht kommen die wichtigen Entwicklungen künftig auch nicht mehr aus den USA und Europa, sondern aus den Schwellenländern selbst.

Eine letzte Frage noch: Ihr Vorgänger, Marcel Tanner, verkörperte das Swiss TPH während 18 Jahren in der ganzen Welt. Haben Sie manchmal Angst davor, nicht aus seinem Schatten heraustreten zu können?

Nein, wirklich nicht. Wir werden auf dem internationalen Renommee des Swiss TPH aufbauen, das mein Vorgänger uns hinterlassen hat. An der Konferenz in Manila kannte ich nicht viele Leute. Trotzdem empfingen sie mich schon alleine deswegen mit viel Goodwill, weil sie Marcel Tanner und das Swiss TPH kannten. Das ist das Grossartige, wenn man hier arbeitet.

Umso grösser muss der Druck sein, in seine Fusstapfen zu treten?

Schauen Sie: Ich habe hier am Swiss TPH 600 Mitarbeiter. Natürlich bin ich der Direktor, der eine gewisse Ausstrahlung hat. Aber wir sind ein Institut; das Team steht im Vordergrund und nicht ich. Wir werden den guten Ruf des Swiss TPH pflegen und weiter ausbauen. Da bin ich komplett relaxed. Die Grundvoraussetzungen könnten nicht besser sein!

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9th European Congress on Tropical Medicine and International Health, 6. bis 10. September 2015, Basel.

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