Mein letzter Wochenkommentar, der sich mit Israel befasste, liegt etwa ein halbes Jahr zurück. Anlass war der 50. Jahrestag des Sechstagekrieges von 1967. Termin und Thema waren sozusagen von der Geschichte gegeben. Für meine damaligen Ausführungen erhielt ich Anerkennung auch von Menschen, die mit Israel besonders verbunden sind.
Diese hier vorweg abgegebenen Erklärungen klingen nach Rechtfertigung. Und Rechtfertigung muss sein, denn ich stehe unter strenger Beobachtung eines in Basel wohnhaften und in der BaZ vom Leserbriefschreiber zum regelmässigen Mitarbeiter aufgestiegenen Israelspezialisten. Einmal hat er mir vorgeworfen, ich sei auf «Israelkritik» abonniert, und ehrbeleidigend beigefügt, dass diese «nicht selten die Grenze zum Antisemitismus überschreitet».
Also sollte man die weiteren Zeilen mit höchster Vorsicht lesen. Denn ich komme wieder kritisch auf Israel zu sprechen. Es geht aber nicht um den von Donald Trump unterstützten israelischen Alleinherrschaftsanspruch auf Jerusalem. Den habe ich hier ausgelassen.
Ein historisch belasteter Begriff
Anlass ist jetzt der in der «Basler Zeitung» publizierte Artikel eines Mitarbeiters der «Jerusalem Post», der meinte, den deutschen Aussenminister Sigmar Gabriel mit zahlreichen Vorwürfen eindecken zu müssen, die ihn mehr oder weniger direkt bezichtigen, Israel zu delegitimieren und den Antisemitismus zu begünstigen. Gabriel hat sich nämlich erlaubt, die israelische Präsenz im Westjordanland als «Apartheid-Regime» zu bezeichnen. Seine Äusserungen konnten leicht schon darum als israelfeindlich eingestuft werden, weil sie von Israels tatsächlichen Feinden, namentlich der Hamas, beklatscht wurden.
Delegitimiert wird israelische Politik nicht durch das Wort Apartheid, sondern durch die von ihr zu verantwortende Praxis.
Bei Interventionen wie dem in der BaZ Anfang Januar publizierten Artikel geht es darum, die Verwendung des historisch belasteten Begriffs Apartheid zu tabuisieren, weil das Wort für ein verwerfliches System steht, das sich in Südafrika als unhaltbar erwiesen hat und darum von der Geschichte überrollt worden ist. Delegitimiert wird israelische Politik aber nicht durch ein Wort, sondern durch die von ihr zu verantwortende Praxis. Wichtig ist dann aber auch, dass das treffende Wort verwendet werden kann.
Statt einzig über das Wort sollte man auch über das damit bezeichnete System reden, also über die von Israel geschaffenen Realitäten. Eine Leserbriefschreiberin, die entschieden gegen die Verwendung des A-Worts ist, verwies auf die Verhältnisse im Spital von Haifa, wo vom Oberarzt über die Röntgentechniker zu den Schwestern und Pflegern bis zum Reinigungspersonal Araber fast in der Mehrheit seien. Solche Einwände übersehen, dass Gabriel nicht vom israelischen Staats-, sondern vom israelischen Besetzungsgebiet gesprochen hat.
Die Diskriminierung rekurriert auf das Argument, lediglich Sicherheit gewährleisten zu wollen.
Es ist schon erstaunlich, wie man sich überhaupt dagegen verwahren kann, dass die Verhältnisse in den besetzten Gebieten als zutiefst geprägt von einem Apartheid-Konzept bezeichnet werden. Das beginnt mit der Parallelität der Rechtsordnung für Besetzer und Besetzte und endet in der den Alltag bestimmenden Verkehrsordnung. Wer dazu Belege braucht, schaue doch beispielsweise den Dokumentarfilm «The Law in these Parts» von Liran Atzmor, der 2011 am Jerusalem Film Festival ausgezeichnet worden ist.
Im Gegensatz zu Südafrika liegt die Rechtfertigung für die Diskriminierung nicht in einer offen deklarierten, ideologisch-rassistischen Begründung, sondern rekurriert auf das scheinbar anfechtbare Argument, lediglich Sicherheit gewährleisten zu wollen.
Israelische Stimmen gegen Apartheid
Vor Gabriel haben es schon andere gewagt, zur Charakterisierung der Besatzungsverhältnisse das A-Wort zu verwenden. Das bekannteste Beispiel dürfte der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter mit seinem Buch «Palestine Peace Not Apartheid» von 2006 darstellen. Die angesehene «New York Review of Books» wies damals bei der Besprechung dieses Buches darauf hin, dass bereits 2002 in «Haaretz» («Israel’s most respected newspaper») Michael Ben-Yair erklärt hatte, die Apartheid habe 1967, nämlich am «siebten Tag» unmittelbar nach dem Sechstagekrieg begonnen. Derselbe Mann, in den 1990er-Jahren israelischer Generalstaatsanwalt, forderte 2014 das EU-Parlament auf, Palästina als Staat anzuerkennen, um so die A-Herrschaft einem Ende entgegenzuführen.
Es gibt demnach ernst zu nehmende israelische Stimmen, die sich ihrerseits nicht scheuen (und auch weniger scheuen müssen), die israelische Apartheid-Politik zu kritisieren. Zum Beispiel Uri Davis mit seinem Buch «Apartheid Israel: Possibilities for the Struggle Within» von 2003, das auch vom israelischen Historiker Ilan Pappé gelobt wurde. Ich habe es vor Jahren in einem südafrikanischen Museums-Shop erstanden.
«Apartheid und Demokratie können nicht unter einem Dach existieren.»
Alon Liel, ehemaliger Generaldirektor des israelischen Aussenministers und, was in diesem Fall noch bedeutsamer ist, ehemaliger Botschafter in Südafrika, hielt es offenbar für nötig, dem vom Basler Blatt verbreiteten Angriff auf den deutschen Aussenminister Gabriel entgegenzutreten und dem Gescholtenen für seinen Mut zu danken («Basler Zeitung» vom 10. Januar 2018). Bezogen auf die von Gabriel schon 2012 speziell angesprochenen Verhältnisse in Hebron räumte er «mit Trauer, Wut und Scham» ein, dass dort tatsächlich Apartheid herrsche. Liel gratuliert Gabriel dafür, dass er eine einfache Wahrheit ausspreche: «Apartheid und Demokratie können nicht unter einem Dach existieren.»
Der israelische Ex-Diplomat appellierte an alle, «die unser Land lieben», sich mutig gegen die neuen Verhältnisse zu stellen. «Nur wenn diese gefährliche Entwicklung gestoppt wird, auch mithilfe öffentlicher Figuren wie Gabriel, wird es uns möglich sein, die Existenz Israels zu sichern: als eines Staates, auf den das jüdische Volk stolz sein kann und den auch unsere deutschen Freunde unterstützen können.»
Alon Liel meldet sich nicht zum ersten Mal zu Wort, er tut es immer wieder konsequent. Zum Beispiel 2011 in der «Süddeutschen» oder 2015 im «Tages-Anzeiger». 2017 brachte er gegenüber «Le Temps» sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass «wir» keinen Mandela haben und seit einiger Zeit Ultranationalisten, die Orthodoxen und Siedler das «israelische Haus» verwalten würden; die ursprünglichen Ideale seien völlig an den Rand gedrängt worden («Le Temps» vom 6. Juni 2017).
Palästinensischer Mandela im israelischen Gefängnis
In einem Punkt muss diese Erklärung relativiert werden. Einen Mandela braucht es nicht auf der israelischen, sondern auf palästinensischer Seite. Und es gibt ihn: Er sitzt, wie einst Mandela, seit Jahren im Gefängnis. Der 58-jährige Marwan Barghouti, Führer der zweiten Intifada, ist von der israelischen Justiz zu fünfmal lebenslänglicher Haft und weiteren vierzig Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Vorwurf: mehrfacher Mord bei Anschlägen, die Barghouti als Anführer von palästinensischen Terrororganisationen zu verantworten habe. Barghouti wird als potenzieller Nachfolger von Präsident Abbas gehandelt, er kritisiert aber auch die Korruption im palästinensischen Machtapparat.
Das Apartheid-Regime in Hebron und allgemein in der Westbank wird mit Hilfe der israelischen Armee aufrechterhalten. Diese Militärdienste sind für manche Israeli eine grosse moralische Belastung. Wie in der TagesWoche bereits berichtet, ist aus den schrecklichen Erfahrungen die Organisation «Breaking the Silence» erwachsen, die sich im Juni 2015 mit einer Ausstellung auch in der Schweiz (in einem reformierten Kirchgebäude) präsentiert hat. Zu den angeblichen Schandtaten, die dem deutschen Aussenminister in der BaZ vorgeworfen werden, gehört auch, dass sich Gabriel mit dieser israelischen NGO getroffen hat.
Die Kontroversen um den seit Jahrzehnten andauernden Konflikt sollten nicht als Debatte verstanden werden, die zwischen Juden und Nichtjuden, Israeli und Nichtisraeli, Arabern und Nichtarabern, Amerikanern und Nichtamerikanern etc. geführt wird, sondern zwischen Menschen, denen Menschenrechte und demokratische Werte unterschiedlich wichtig sind.
Sollte man bis hierher gelesen haben, darf man nochmals an den Anfang zurückkehren und sich fragen, wie sehr der Beitrag einmal mehr die Grenzen des Antisemitismus überschritten hat.
Der Autor war 1995–2016 Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus und hat 2000–2005 im Auftrag des Bundesrats und des Schweizerischen Nationalfonds die Arbeiten geleitet, welche die Schweizerischen Beziehungen zu Apartheid-Südafrika untersuchten. Georg Kreis ist Mitglied des Patronatskomitees des NIF (New Israel Fund).