Der Gurken-Terror ist grosser Wahnsinn

Der Überwachungs- und Kontrollwahn sollte uns weit mehr alarmieren, als er es tut.

Die Gurke des Grauens: Die zunehmende Überwachung treibt uns in den Wahnsinn.

(Bild: Walter Fisch)

Der Überwachungs- und Kontrollwahn sollte uns weit mehr alarmieren, als er es tut.

Die spinnen, die Briten. Und erst die Japaner. Und die Amis sowieso! Kindergärtnerinnen, die als Staats-Spitzel Kinderzeichnungen interpretieren, Kids verhören und Familien zu Terrorverdächtigen machen, totale Überwachung und Steuerung aller Bürger zur Profitmaximierung am Arbeitsplatz: Was unlängst noch als düstere Science-Fiction-Story durchging, ist nun Realität.

Man mag dazu neigen, solche Geschichten kopfschüttelnd wegzuklicken. Daran, dass dem eigenen PC und Telefon nicht zu trauen ist, hat man sich dank der staatlichen Buchstabensalat-Truppen (CIA/NSA/GSHQ, etc.) und der wirtschaftlichen Wohlklang-Giganten (Amazon/Apple/Facebook/Google/Yahoo, und so weiter) schon fast gewöhnt. Doch Kontrollmechanismen dringen in immer mehr Lebensbereiche ein und haben ein bedrohliches Ausmass erreicht. Auch in Gesellschaften, die offiziell als liberale rechtsstaatliche Demokratien gelten.

Doch man kann nicht mehr hämisch über die Verhältnisse in Amerika, Japan oder Grossbritannien spotten: Derselbe Irrsinn macht sich auch bei uns breit. Und das nicht nur, weil wir mit dem NDG-Ja staatliche Überwachungsmöglichkeiten demokratisch legitimiert haben, die schon rein juristisch viele rote Linien überschreiten.

Grosser Wahnsinn im Kleinen

Der Wahnsinn fängt schon im vermeintlich Kleinen an.

Neu locken auch Schweizer Krankenkassen neue Kunden mit Prämien-Rabatten bei Zusatzversicherungen an. Der Deal ist simpel: Versicherte übermitteln der Kasse die Daten ihrer digitalen Fitness-Tracker. Gehen sie dazu pro Tag noch mindestens 10’000 Schritte, sparen sie ein paar Franken Prämie im Monat.

Die Diagnose des Schweizer Psychoanalytikers und Autoren Peter Schneider:


Zum Schreien. Aber bekloppt ist schon das System selbst. Für die Kassen ist es nur ein erster kleiner Schritt: Das erklärte Zwischenziel ist ein Angriff auf die Grundversicherung – auch hier sollen diejenigen mehr bezahlen, die sich nicht ausspionieren lassen und gewisse körperliche Anforderungen nicht erfüllen, wie ein CSS-Abteilungsleiter schon 2015 sagte.

Er sprach von «Solidarität» unter Versicherten in der Grundversicherung – eine perverse Umdeutung des Solidaritätsprinzips, besteht dieses in Sozialversicherungen doch gerade darin, dass die Prämie zwingend für alle gleich viel kosten muss. Dank der digitalen Überwachung werde es «möglich, dass sich die Bevölkerung wieder mehr bewege», schwärmte der Leiter Versicherungstechnik und Informatik vor über einem Jahr im «Sonntagsblick» weiter.

Solche Aussagen müssen zu denken geben. Nicht nur, weil verschiedene Studien zeigen, dass Fitness-Tracker weder zu gesünderem Verhalten noch zu Gewichtsverlust führen (im Gegenteil). Nicht nur, weil private Krankenversicherungen mit dem Gadget- und Daten-Hype kaum an das Wohl der Menschheit, sondern an möglichst viele neue junge (und damit gesündere und günstigere) Kunden denken.

Nein, nüchtern betrachtet werden hier totalitäre Ideologien als Fortschritt verkauft. Was sonst ist die Schwärmerei für den Einsatz digitaler Überwachungsgeräte mit dem Ziel der leiblichen Ertüchtigung des Volkskörpers?

Grösserer Wahnsinn

Wohin das führen kann, das zeigt ein Blick ins Ausland: In England und den USA ist man mit der Realisierung dieser Idee schon ein paar Schritte weiter. Grossbritanniens Gesundheitsminister Jeremy Hunt verkündete im September, sein Ministerium plane direkte Schnittstellen zwischen Fitness-Apps privater Firmen und dem britischen staatlichen Gesundheitsdienst – etwa sollen «Gesundheitsdaten direkt in die Gesundheits-Dossiers transferiert» werden. Hunt verkaufte die landesweite Kontrollmassnahme als Mittel, das dem Bürger «die Kontrolle über seine Gesundheitsvorsorge» zurückgebe.

In den USA lassen manche Firmen ihre Angestellten bereits digitale Tracker tragen, damit sie sich regelmässig bewegen – weil die Firmen Versicherungskosten sparen können, wenn die Angestellten sich an «Fitness-Ziele» halten. «Bessere Konditionierung» der Mitarbeiter erreichen Firmen mit kleinen Preisen oder internen Schritt-Ranglisten. Wer würde schon eine «Gratis»-Apple-Watch ablehnen, für etwas Bewegung. Und sämtliche Daten?

Die echte Gurke des Grauens: Diese Kinderzeichnung brachte eine Familie in England unter Terrorverdacht.

Denn Agamben hielt in seiner Athener Vorlesung weiter fest: «Wenn eine Regierung darauf abzielt, die Effekte, und nicht die Ursachen zu lenken, wird sie Kontrollmechanismen erweitern und multiplizieren müssen. Ursachen verlangen danach, erkannt zu werden, während Folgen nur beobachtet und gelenkt werden können.»

Wenig erstaunlich, dass die, die beim Aufdecken von Missständen erwischt werden – gerade wenn diese Missstände Überwachung an sich betreffen – besonders hart verfolgt werden. Für Whistleblower ist in diesem System kein Platz, erhält doch die Öffentlichkeit dank ihrer Enthüllungen – geschehen etwa im Fall Edward Snowden – einen Blick auf die Wirkungsweise des Überwachungsapparats.

In der Schweiz sind Whistleblower rechtlich noch immer nicht explizit geschützt. Und das, obwohl entsprechende Bemühungen in Bundesbern seit 2003 am laufen sind. Dabei sollte man Agambens Warnungen nicht auf die leichte Schulter nehmen: Seine Hypothese besagt nichts weniger, als dass die angeblich liberalen Demokratien, die sich mit Dauer-Symptom-Bekämpfung und Dauer-Kontrollmechanismen «unter das Zeichen der Sicherheit stellen, die Domäne der Politik verlassen haben».

Laut Agamben ist damit nicht weniger als die liberale, rechtsstaatliche Demokratie an sich in ihren Grundfesten bedroht. Auch das ist keine Science-Fiction – sondern ein realistisches Szenario.



Wenn wir das mit der totalen Kontrolle weiter so vergurken, kommt es am Ende ganz übel raus.

Wenn wir das mit der totalen Kontrolle weiter so vergurken, kommt es am Ende ganz übel raus. (Bild: Hans-Joerg Walter)

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