Eine Volksinitiative ist ein Antrag in Form einer Frage – aus dem Volk an das Volk mit dem Anspruch auf eine Antwort in Form des Ergebnisses einer Volksabstimmung. Wer diesen Prozess optimieren will, muss sorgfältig prüfen, ob seine Vorschläge nicht zu Verschlimmbesserungen verkommen.
In der laufenden Diskussion um die Reform der Volksrechte (Vergleiche die Beiträge hier und hier) werden auch Vorschläge geäussert, welche die Stellung des Parlamentes im Prozess einer Volksinitiative aufwerten wollen. Diese Vorschläge zielen auf eine Domestizierung der Volksinitiative und zu einer Gewichtsverlagerung zugunsten des Parlamentes, was den Kern der direkten Demokratie nicht stärkt, sondern bedroht. Um dies zu begreifen, hilft ein genauer Blick auf die gegenwärtige und sehr sachdienliche Interaktion zwischen direkter und indirekter Demokratie.
In der Schweiz spielt die direkte mit der indirekten Demokratie zusammen; anders als in den US-Bundesstaaten, wo sie sich fast feindlich gegenüberstehen. Das tut der Sache und damit allen Bürgerinnen und Bürgern gut. Denn eine Volksinitiative geht nicht einfach am Parlament vorbei oder darüber hinweg, sondern wendet sich durch das Bundeshaus hindurch via Bundesrat und Parlament an alle Stimmberechtigten.
Via Bundeshaus zum Volk
So werden die notwendigen Unterschriften nicht in einer Art Volkskanzlei, sondern in der Bundeskanzlei abgegeben, gewissermassen das Sekretariat des Bundesrates und der Bundesverwaltung. Diese prüft, ob die betreffende Volksinitiative rechtmässig zustande gekommen ist, und reicht sie dann weiter an das zuständige Departement, welches das Anliegen aus allen möglichen Blickwinkeln ausleuchtet und beurteilt.
Der Bundesrat diskutiert das Volksbegehren und stellt der Bundesversammlung einen Antrag, ob es dem Volk Zustimmung oder Ablehnung empfehlen oder einen Gegenvorschlag zur Volksinitiative vorlegen wolle. Das dauert meist etwa ein Jahr. Etwas mehr als ein weiteres Jahr nehmen die parlamentarischen Beratungen in Anspruch. National- und Ständerat setzen sich in ihren Kommissionen und Sessionen insgesamt gegen zehn Stunden lang mit dem Inhalt der Volksinitiative auseinander, meist nach Anhörung von Vertretern des Initiativkomitees, betroffenen Interessengruppen und wissenschaftlichen Experten.
Ja oder Nein oder Ja, aber
Entscheidend ist, dass die Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht abschliessend über eine eidgenössische Volksinitiative zur Änderung der Bundesverfassung entscheiden dürfen. Ihre Aufgabe ist das erste öffentliche Nachdenken und die Beratung der Initiative gleichsam auch zur Einstimmung der interessierten Bürgerschaft auf die Sache sowie eine Empfehlung an die Stimmberechtigten.
Dabei hat die Bundesversammlung für den Fall, dass sie mehrheitlich das von der Initiative aufgeworfene Anliegen teilt, es anders aber glaubt besser umsetzen zu können, die Möglichkeit, den Stimmberechtigten einen direkten oder indirekten «Gegenvorschlag» zu unterbreiten. Im Falle eines direkten Gegenvorschlags kommt dieser zusammen mit der Initiative zur Abstimmung, die Stimmenden haben dann also die Auswahl zwischen drei Optionen: Status quo, Änderung der Verfassung im Sinne der Initiative oder Verfassungsänderung im Sinne der Mehrheit der Bundesversammlung. Seit 1987 können die Reformer unter den Stimmenden in einer Stichfrage auch ihre Präferenzen zum Ausdruck bringen.
Von einem indirekten Gegenvorschlag ist dann die Rede, wenn die Mehrheit der Bundesversammlung meint, dem Anliegen der Initianten könne auch ohne Revision der Bundesverfassung entsprochen werden; die Änderung eines Gesetzes sei ausreichend. Die Initianten können in diesem Fall auf einer Volksabstimmung über ihre Initiative bestehen oder mit dem Rückzug ihrer Initiative warten, bis eine möglicherweise durch ein Gesetzesreferendum ausgelöste Volksabstimmung über den «indirekten» Gegenvorschlag positiv ausgegangen ist.
Jede zweite Initiative zeigt Wirkung
Dieses mittlerweile fein austarierte vielgleisige Zusammenspiel zwischen den Akteuren der indirekten und der direkten Demokratie leistet einiges und ist die Zeit wert, die es in Anspruch nimmt. Es integriert nicht nur das offene System, erhöht die Intensität und die Reichweite der Diskussion und gibt dem Allgemeinwohl mehr Chancen, sondern erhöht auch die Einflussmöglichkeiten der Initianten. Deren vollumfängliche Erfolgschancen, das heisst der Gewinn einer Mehrheit der Stimmenden und der Stände bei einer Volksabstimmung, liegen bei nur etwa zehn Prozent.
40 Mal sind den 180 seit 1980 zustande gekommenen Volksinitiativen von der Bundesversammlung direkte Gegenvorschläge mitgegeben worden, worauf 26 Initiativen zurückgezogen und sechs weitere in der Volksabstimmung von einer Mehrheit der Stimmenden und der Stände angenommen wurden. Berücksichtigt man auch die indirekten Gegenvorschläge, so lässt sich sagen, dass dank diesem Zusammenspiel fast die Hälfte der Initiativen in ihrem Sinne die Gesetzgebung und die Lebenswirklichkeit in der Schweiz beeinflussen können.
Hätten die Initianten Vertrauen ins Parlament, würden sie auf eine Volksinitiative verzichten.
Den meisten Volksinitiativen liegt eine Kritik am Parlament zugrunde. Sie monieren, dass das Parlament es vergessen, verdrängt oder sonst unterlassen habe, ein Problem so wie sie es für richtig halten anzugehen. Hätten die Initianten Vertrauen ins Parlament, dann würden sie auf den mühsamen Weg der Volksinitiative verzichten und einen Parlamentarier von einem entsprechenden Vorstoss überzeugen.
Deshalb wird die an sich auch mögliche direktdemokratische Handlungsoption, die Volksinitiative in Form der allgemeinen Anregung und der Hoffnung, das Parlament würde dann schon den richtigen Weg zur Realisierung dieses Anliegens finden, nur ganz selten ergriffen; von den über 300 seit 1891 lancierten Volksbegehren hatten nur elf die Form der allgemeinen Anregung, wovon wiederum nur vier zur Volksabstimmung kamen, die letzte von ihnen 1976!
Deshalb widerspricht der Reformvorschlag der deutschstämmigen Fribourger Professorin und designierten Rektorin Astrid Epiney, inskünftig nur noch Volksinitiativen in Form der allgemeinen Anregung vorzusehen und deren Schicksal dem Parlament zu überlassen, völlig der direktdemokratischen Kultur, wie sie sich in den letzten 100 Jahren entwickelt und nach Ansicht der meisten Kenner bewährt hat. Epineys Vorschlag würde auf eine Domestizierung der Volksinitiative durch das Parlament hinauslaufen, welche nur noch jenen engagierten Bürgerinnen und Bürgern entsprechen würde, die dem Parlament vertrauen – doch dies sind genau nicht jene, die seit 124 Jahren 98 Prozent der Volksinitiativen verantwortet haben.