Dem Parlament wird beim US-Steuerdeal die Beschränktheit der eigenen Möglichkeiten schmerzlich aufgezeigt.
Immer wenn Susanne Leutenegger Oberholzer einen ihrer seltenen Siege erringt, werden ihre Augen leicht feucht. Umringt steht sie an diesem Mittwoch in der Wandelhalle. Kameras sind auf sie gerichtet, Mikrofone der Radiomenschen, die Kollegen von den Tageszeitungen strecken Diktafone Richtung Leutenegger. Die Baselbieter SP-Nationalrätin steht im Zentrum des nationalen Interesses.
Leuteneggers Freude über ihren angenommenen Ordnungsantrag, mit dem die Beratungen des US-Steuerdeals «so lange ausgestellt werden», bis das Parlament über mehr Informationen verfügt, hatte etwas Zärtliches. Wer sie fragte, ob sie mit einem Sieg gerechnet hatte, erhielt das herzlichste und offenste Lächeln, das man sich bei ihr vorstellen kann. Und zur Antwort ein «Nein, wirklich nicht.»
Ohne Einfluss
Faktisch ändert der Sieg der SP nichts am Prozedere im Parlament. Die Wirtschaftskommission wird die Vorlage mit den ihr zur Verfügung stehenden Informationen beraten und sie danach wohl noch in dieser Session dem Nationalrat weiterleiten.
Der Ordnungsantrag ändert allerdings etwas am emotionalen Gefüge innerhalb der Sozialdemokraten. Wie verschiedene Beobachter vermuten, könnte die nun eingelegte Schlaufe als Vorwand dienen, um auf ein Ja zum Steuerdeal einzuschwenken und mit einem etwas weniger schlechten Gewissen abzusegnen, was ohnehin unvermeidlich ist.
Der Grüne Fraktionschef Antonio Hodgers brachte es am Mittwoch in bemerkenswerter Realitätsnähe auf den Punkt: «Wir haben keinen Einfluss drauf, was in den USA geschieht. Das tut weh, ja. Aber das ist das Leben.»
Die Stunde der Aufplusterer
Hodgers war mit seiner Einsicht in dieser Woche im Bundeshaus sehr alleine. Die einstündige Debatte über die Ordnungsanträge der SVP und der SP zeigte eindrücklich, woran dieses Parlament leidet. SVP-Mann Thomas Aeschi beschwor seine Kollegen regelrecht. Er erinnerte sie an ihren Eid vor Gott, er erinnerte sie an die Bundesverfassung und an ihr Gewissen.
Christoph Blocher polterte wie in seinen besten Tagen im Albisgüetli: «Das ist reine Erpressung! Angstmacherei! Ein Brotkrieg wie im Mittelalter! Sollen die Banken ihr Problem selber lösen!» Tiana Moser (GLP) beklagte, dass man auf Druck von Aussen das eigene Verfahren anpassen müsse und auch Susanne Leutenegger Oberholzer bemühte den Pathos: «Wir haben mit unserem Gelübde oder unserem Eid versprochen, nach unserem Gewissen zu entscheiden. Aber das kann ich nur, wenn ich weiss, worüber ich entscheide.»
Es war eine Stunde der Aufplusterer und Grossredner. Und es war eine Stunde voller Seelenhygiene: Die Parlamentarier versicherten sich und ihresgleichen die eigene Wichtigkeit und Bedeutung.
Am Ausgang dieser Geschichte ändern aber weder die Freude von Susanne Leutenegger Oberholzer noch die grossen Worte im historischen Saal etwas. Gewisse Schweizer Banken haben sich in den Vereinigten Staaten kriminell benommen und erhalten nun die Quittung dafür. Ob das Parlament dem von den USA diktierten Vertrag zustimmt oder nicht, spielt für das amerikanische Justizministerium keine Rolle. Sie sitzen am längeren Hebel und werden die Bussen von den Schweizer Banken so oder so eintreiben. Was das Parlament tun wird: Es ist bedeutungslos.
Vorstellung und Wirklichkeit
Das zu realisieren, tut tatsächlich weh. Die Debatte im Nationalrat vom Mittwoch steht dabei exemplarisch für eine schon länger dauernde Entwicklung. Unberührt durch den Zweiten Weltkrieg hat die Eidgenossenschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts einen beispiellosen Aufschwung erlebt, der uns Schweizerinnen und Schweizern vorgaukelte, in der Welt viel bedeutender zu sein, als wir es tatsächlich waren. Seit ein paar Jahren wird die Lücke zwischen unserer angenommenen Bedeutung und der Realität immer kleiner.
Dieser Prozess wird begleitet von sinnlosen Rückzugsgefechten. Trotzig lancieren die bürgerlichen Parteien um SVP-Mann Thomas Matter eine Volksinitiative, um das Bankgeheimnis in der Verfassung zu verankern. Dabei ist spätestens seit dem aktuellen Streit mit den USA offensichtlich, dass das Bankgeheimnis als Geschäftsmodell ausgedient hat. Trotzig rufen die Nationalräte «Erpressung» und werden dem Vertrag dann doch knurrend zustimmen, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Trotzig schrauben die Finanzdirektoren an den Unternehmenssteuern herum, bis es der EU wieder zu bunt wird.
Die Schweiz, so hat man in diesen Tagen das Gefühl, versucht mit aller Kraft ihren Status als Sonderfall zu verteidigen. Bloss nicht zugeben, dass man immer gewöhnlicher wird. Zu schön war es, sich als etwas Besonderes zu fühlen. Verantwortlich höchstens noch gegenüber Gott und der eigenen Verfassung.
Quellen
Die Ordnungsanträge von Thomas Aeschi (SVP) und Susanne Leutenegger Oberholzer (SP).
Die Vorlage in der Geschäftsdatenbank des Parlaments.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.06.13