Harmos: klingt famos. Nur ein Buchstabe fehlt für ein «harmlos». Zudem tönt die «interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule», die holprig voranschreitende Vereinheitlichung des Schweizer Schulwesens, in ihrer Kurzform nach Harmonie. Richtig gutes Marketing.
Dass die schulische Realität nicht selten anders aussieht als die von Schreibtischpädagogen erdachte, das zeigt sich derzeit in Basel-Stadt.
So liegt die Gymnasialquote – der Prozentsatz der Sek-Schüler, die vom so genannten «P»-Zug, sprich Progymnasiasten, ins Gym übertreten werden – in Basel-Stadt neu bei rekordhohen 45 Prozent (die TagesWoche berichtete). Dabei wollte das Erziehungsdepartement (ED) die Quote eigentlich senken – ursprünglich auf 30 Prozent, neu fände man auch 35 bis 40 Prozent nett.
Ausbaden müssen es die Schülerinnen und Schüler
Der Plan zur Senkung ist also gründlich missraten. Ulrich Maier, Leiter Mittelschulen und Berufsbildung im Kanton Basel-Stadt, hielt Mitte Mai korrekt fest, es sei nicht mit einem «Quantensprung an Intelligenz» an den Gymnasien zu rechnen, nur weil sich die Zahl der Gym-Schüler vervielfacht. Verbockt haben es die Schulen, nicht die Schüler: Ein Notenschnitt von über 5.0 an den Progymnasien mutet zwar wie ein schlechter Schülerwitz an, ist in Basel-Stadt aber eine von Schulen und Lehrern gemachte Realität.
Ausbaden müssen das nun die Schülerinnen und Schüler. Dies mit zwei neuen Massnahmen: Erstens soll der Progym-Notenschnitt massiv nach unten gedrückt werden. Das wird hart für alle, die derzeit noch als genügend bis gut gelten.
Andererseits wird der Zugang zum P-Zug erschwert. Vom Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe sollen neu die letzten zwei statt nur eines der Zeugnisse über die weitere Schullaufbahn bestimmen. Wer nicht in beiden Zeugnissen einen Schnitt von 5,25 oder höher macht, verpasst das Progym. Der Flaschenhals wird doppelt verengt. Und das, sollte der Regierungsrat dem Bildungsrat folgen, möglicherweise schon nach den Sommerferien.
Schülerinnen und Schüler werden nicht dumm gemacht, sondern für dumm verkauft.
Mit dieser Massnahme bringt das ED die im Zuge von Harmos hochgehaltenen Prinzipien der individuellen Förderung und der Chancengleichheit ironischerweise einmal mehr selbst ins Wanken. Und führt die im Lehrplan geforderten «Kompetenzen» (eine «Kompetenz» bildet sich laut Pädagogen angeblich aus den drei Pfeilern Wissen / Können / Wollen, im Zentrum steht die Anwendung von Wissen, so, dass Aufgaben gelöst werden können) gleich mit ad absurdum.
Schülerinnen und Schüler werden nicht dumm gemacht, sondern für dumm verkauft, denn Wissenszuwachs und besonders der Fleiss werden nicht mehr honoriert. Dabei ist die neue Schulstruktur durch ihre flächendeckenden Checks gerade darauf ausgerichtet, Leistung abzurufen: «Teaching to the test» heisst die Methode – Kinder büffeln, um mit dem Gelernten kurz zu glänzen und es danach schnell wieder zu vergessen.
Nicht nur wirklichkeitsfremd, sondern destruktiv
Die «historisch hohe Gymnasialquote» zeigt nur, dass man die Zahl der im neueren Sinne kompetenten und lernwilligen Schülerinnen und Schüler massiv unterschätzt hat. «Wissen erwerben und auch anwenden», heisst die Hauptmaxime des neuen Lehrplans 21. Das Resultat: Schülerinnen und Schüler knien sich rein und erreichen die Höchstnote dann, wenns zählt. Und nun soll da plötzlich alles gar nicht mehr so gemeint gewesen sein. Stattdessen sollen jetzt Konstanz und Zuverlässigkeit zählen – wie man es von pubertierenden Jugendlichen ja erwarten kann.
Das ist nicht nur wirklichkeitsfremd, sondern destruktiv. Wer sich kein mittelmässiges oder sogar schlechtes Zeugnis leisten kann, wird nie den Ehrgeiz entwickeln, die eigene Leistung zu verbessern. Und wer im zweitletzten Primarzeugnis keinen 5,25-Schnitt macht und eigentlich ans Progym wollte, der verliert jede Motivation und jede Hoffnung, das mit dem letzten Zeugnis noch irgendwie zu schaffen.
Im Schuljahr 2015/16 hatten 32 Prozent der Basler Primarschüler zweimal hintereinander einen Schnitt von über 5,25. Weitere 10 Prozent der Kinder erreichten die Note nur einmal und hätten – nach der neuen Regelung – den P-Zug verpasst, wie das ED auf Anfrage mitteilt.
Chancengleichheit oder Bildungsadel
So wird nicht zuletzt die angeblich angestrebte Chancengleichheit bei Harmos noch weiter infrage gestellt. Besserverdienende werden sich von der neuen Hürde nicht abschrecken lassen, ihre Kinder weiterhin ins Gymnasium zu fördern – das Geld für Nachhilfestunden oder eine Privatschule ist vorhanden.
Mit den erhöhten Anforderungen wird eine gute Schulausbildung nicht an Attraktivität verlieren. Ein Abschluss auf progymnasialer Stufe macht auch den meisten Lehrmeistern mehr Eindruck als ein entsprechender Ausweis der unteren Leistungszüge. Selbst von Kindergärtnern wird heute eine Matur erwartet.
«In der obligatorischen Schule erwerben und entwickeln alle Schülerinnen und Schüler grundlegende Kenntnisse und Kompetenzen sowie kulturelle Identität, die es ihnen erlauben, lebenslang zu lernen und ihren Platz in der Gesellschaft und im Berufsleben zu finden», heisst es im Harmos-Bildungsauftrag.
Mit den Entscheiden aus dem ED macht man allerdings weitere Schritte in Richtung eines neuen Bildungsadels, wo bereits ein Blick ins Zeugnis der Eltern genügt, um den eigenen Platz in Gesellschaft und Berufsleben zu finden.