Warum soll man da noch wählen gehen?

Nichtwähler werden in den Medien regelmässig schlecht gemacht. Zu Unrecht. Denn wahrscheinlich ist die schweigende Mehrheit nicht desinteressiert, sondern einfach nur desillusioniert.

Der letzte Ausweg eines verzweifelten Wählers: ein Verzicht auf die Wahl. (Bild: Nils Fisch)

Nichtwähler werden in den Medien regelmässig schlecht gemacht. Zu Unrecht. Denn wahrscheinlich ist die schweigende Mehrheit nicht desinteressiert, sondern einfach nur desillusioniert. Und realistisch, auch wenn das eine traurige Erkenntnis ist.

Ich ging immer. Bei Wind und Wetter. Ebenso wie nach den langen Nächten mit wilden Festen in früheren Jahren und später mit schreienden Kindern. Immer. Und zwar dorthin, wo schon Generationen vor mir gegangen sind, um zukunftsweisenden Ideen zum Durchbruch zu verhelfen und Unsinn zu verhindern: an die Urne.

Am 9. Juni würde ich nun aber zum ersten Mal lieber daheim bleiben, als an einer Regierungswahl teilzunehmen, die einem gar keine richtige Wahl lässt.

In neun von zehn Fällen entscheiden die Parteien von Anton Lauber (CVP) und Thomas Jourdan (EVP) genau gleich. Persönlich wären mir Lauber und Jourdan zwar noch sympathisch. Nachdem sie mir in den vergangenen Wochen immer und überall von den Plakaten entgegengrinsten, muss ich die beiden aber nicht auch noch unbedingt in der Regierung sehen.

Christlich! Tatsächlich?

Hinzu kommt, dass ich meine Stimme eigentlich weder der CVP noch der EVP geben möchte, diesen beiden angeblich so christlichen Werteparteien, die auch der x-ten Verschärfung des Asylgesetzes zustimmen, ohne sich ernsthaft Gedanken über die Auswirkungen auf die betroffenen Menschen zu machen. Und die sich – wie im Falle der CVP – sogar über die Grundrechte hinwegsetzen, wenn es darum geht, mit ihrer populistischen Forderung nach einer Einführung einer DNA-Datenbank für «gewisse Asylbewerber» zu punkten.

EVP-Politiker Thomas Jourdan macht es sich dabei etwas gar einfach, wenn er Religion zur «Privatsache» erklärt, sobald er auf seinen eigenen Glauben und seine Begeisterung für eine charismatisch evangelische Bewegung aus den USA angesprochen wird.

Immer die gleichen Leute im Hintergrund

Anders verhält sich die Sache mit Lauber. Über sein Umfeld weiss man mehr, als einem lieb ist: Hinter dem Anwalt und Gemeindepolitiker steht die mächtige Wirtschaftskammer und die ihr zugewandten Verbänden, die fast jeden in die Regierung bringen, notfalls auch mit masslosen Übertreibungen und einer Diffamierungskampagne gegen den politischen Gegner.

Da würde der deutlich jüngere Jourdan wohl noch etwas mehr Unabhängigkeit versprechen. Und überraschendere Ideen auch. Doch das hat man sich auch schon beim Grünen Isaac Reber gedacht, der sich nach seiner überraschenden Wahl im Frühjahr 2011 dann aber so rasch und so gut in sein neues Amt eingelebt hat, dass man ihn kaum noch von den Wirtschaftskammer-Leuten in der Regierung unterscheiden kann.

Der Nichtwähler hat recht

Der chancenlose Jourdan gegen den übermächtigen Lauber, das ist auch nach dieser Erfahrung eine Ausgangslage, bei der man die sonst so viel kritisierten Nichtwähler zu verstehen beginnt. Vielleicht ist diese schweigende Mehrheit nicht bloss desinteressiert, wie ihr immer nachgesagt wird. Sondern ganz einfach desillusioniert. Und sehr viel realistischer auch als ein unverbesserlicher Nostalgiker, der immer noch zur Urne geht, anstatt seine Stimme bequem brieflich abzugeben.

Politik ohne Alternative

Vielleicht handelt es sich bei dem ganzen Problem keineswegs nur um ein Baselbieter Phänomen. Der in Flensburg und St.Gallen lehrende Sozialpsychologe Harald Welzer hat diese Woche in einem fulminanten Essay aus der Sicht des Deutschen und des Europäers erklärt, warum er nicht mehr wählt (online leider nicht verfügbar). Früher habe er sich jeweils noch für das kleinere Übel entschieden, schreibt Welzer. Doch das erübrige sich heutzutage, da sich alle Parteien nur noch nach irgendwelchen Sachzwängen richteten und dem «Druck der Märkte» beugten, sobald sie an der Macht seien. Eine wirkliche Alternative gebe es heute nicht mehr, trotz der immensen Probleme – Finanzkrise, Massenarbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung. Darauf müssten die Menschen reagieren, indem sie den Parteien die Zustimmung entziehen. Und öffentlich über seinen Unmut sprechen, meint Welzer.

Was ich hiermit getan hätte. Doch ob es mir auch tatsächlich gelingt, eine Wahl zu boykottieren?

Ich bezweilfle es.

Möglicherweise schreibe ich einfach Thomas Lauber auf den Wahlzettel. Oder Anton Jourdan.

 

Lesen Sie auch die Replik von Matieu Klee auf den Kommentar von Kollege Rockenbach.

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