Die aktuelle Hitze ist uns willkommener Anlass zum Small Talk. Aber die ständig neuen Hitzerekorde sind uns letztlich egal. Wirbelstürme, steigende Meere? Wissen wir, aber das scheint weit weg. Dass küstennahes Grundwasser versalzt, Permafrost auftaut, Gletscher davonschmelzen, während anderswo zunehmende Dürren lokale Gesellschaften destabilisieren, radikalisieren, Konflikte schüren und zu Migration bewegen – wir wollen es schon nicht mehr hören. Haben wir doch unsere eigenen Bedürfnisse: ein noch schnelleres Strassennetz, mehr Platz für Frachtschiffe und grössere Flughäfen.
Die Schweiz hat in Europa die stärkste Fahrzeugflotte – ob Autos pro Kopf oder bei den PS unter der Haube. Auch sind wir Europameister in der Vielfliegerei. Gerade Gutgebildete fliegen auch privat besonders häufig in der Weltgeschichte herum. Steht uns das denn nicht zu?
Axel Schubert ist Stadtplaner, Nachhaltigkeitskritiker, Dozent, Projekt- und Co-Studienleiter des MAS Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung an der Hochschule Luzern.
Am 7. August, um 20 Uhr, hält Schubert einen Vortrag am Basler Klimacamp.
Es ist zehn nach zwölf. Seit Stockholm 1972, der ersten UN-Umweltkonferenz, wurde viel geredet, vereinbart und beschlossen. Doch seit dem Nachhaltigkeitsgipfel von Rio sind die Treibhausgas-Emissionen global um gut 50 Prozent gestiegen – beim Konsum der Schweiz um 17 Prozent. Wir befinden uns offensichtlich auf einem falschen Entwicklungspfad. Mit Paris 2015 gilt nun sogar ganz offiziell das Ziel, die Temperaturerhöhung auf «deutlich unter zwei Grad» zu begrenzen, besser auf 1,5 Grad. Aber ist das realistisch? Offensichtlich produzieren wir leichter heisse Luft, als wir ihrer Erhitzung wirksam Einhalt gebieten.
Es ist zehn nach zwölf. Finden Sie das zu pessimistisch? Sie hielten gern die Hoffnung aufrecht, eine Trendumkehr in letzter Sekunde liege noch drin? Sie fänden es aus Gründen der Motivation wichtig, man würde sagen: «Es ist fünf vor zwölf»?
Nun, mit solchem Optimismus können wir uns nichts kaufen. Vielmehr ist diese Art Optimismus mit dafür verantwortlich, warum die Sozialwissenschaft den Umgang mit dem Klimawandel als «super wicked problem» beschreibt, als ein besonders vertracktes, fieses und bösartiges Problem. Besonders bösartig gerade auch deswegen, weil mit diesem Optimismus mitschwingt, künftiges Handeln werde rational sein. Künftig werde tatsächlich umgesetzt, was sich Politik und Gesellschaft als Ziele stecken.
Wie naiv.
Das Leid kommt verzögert
Man könnte nun entgegnen: «Ja, wenn es schon zehn nach zwölf sein soll, dann hätte doch bereits die grosse Klimakatastrophe über uns hereinbrechen müssen!»
Nein, sich den Klimawandel als solch ein singuläres Ereignis vorzustellen, ist fatal. Er kommt nicht über Nacht. Der Klimawandel schleicht sich vielmehr an, er bringt sein Leid verzögert, und er bringt es verstärkt in die Regionen, die besonders verwundbar sind.
Doch wie weit ist der Klimawandel heute schon fortgeschritten? Die globale Mitteltemperatur ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts um knapp 1 Grad gestiegen. Über den Landmassen schneller als über dem Meer – so in der Schweiz um 2,0 Grad. Doch kann aus der erhöhten Treibhausgas-Konzentration nicht strikt auf das Mass der Erderhitzung geschlossen werden. Die Klimawissenschaft arbeitet hier mit Wahrscheinlichkeiten. Und dass wir bis 2100 die globale Temperaturerhöhung – gemessen ab Beginn der Industrialisierung – noch auf 1,5 Grad Celsius begrenzen können, das ist gemäss den wissenschaftlichen Modellrechnungen eben äusserst unwahrscheinlich.
Schon das wesentlich laschere «2 Grad»-Ziel wäre, sofern eine darauf zielende Klimapolitik konsequent umgesetzt würde, mit bloss einer Wahrscheinlichkeit von 45 Prozent zu erreichen, besagen die Szenarien der Internationalen Energieagentur IEA. Der IPCC, der «Weltklimarat» der Vereinten Nationen, geht davon aus, dass zwischen 2011 und 2100 nur noch 1000 Gigatonnen CO₂ emittiert werden dürfen, um das nach heutigem Stand zu verhaltene «2 Grad»-Szenario mit mittlerer Wahrscheinlichkeit zu erreichen. Zieht man hiervon die Emissionen der letzten Jahre ab sowie Rückstellungen für Landveränderungen (Rodungen) und die Zementproduktion für eine nachholende Entwicklung der «Entwicklungsländer», so bleiben Ende 2018 gerade noch 510 Gigatonnen übrig.
2000 Gigatonnen hat die Menschheit seit 1750 emittiert, davon den grössten Anteil seit den 1960er-Jahren. Jährlich werden global ungefähr 35 Gigatonnen Treibhausgase ausgestossen. Ohne sofortige und radikale Trendumkehr könnten wir mit den 510 Gigatonnen noch 15 Jahre so weitermachen. Doch es ist völlig illusionär, danach abrupt auf Null zu fallen. Und selbst mit einem steten Absenken auf Null müssen wir noch vor 2050 alle CO₂-Emissionen eingestellt haben.
Von 20 Tonnen auf Null
Als Rettungsanker rechnen die meisten Klimaszenarien schon heute fest mit Technologien, mit denen CO₂ gebunden und auf ewig eingelagert werden kann – wie einst durch Öl und Gas, das wir heute verbrennen. Dass diese Technologien risikobehaftet sind und noch gar nicht zur Verfügung stehen, schmälert unsere (männlichen) Allmachtphantasien, die Natur beherrschen und durch Geo-Engineering global gestalten zu können, freilich nicht.
Und wie unermesslich die vor uns liegende Aufgabe ist, zeigt allein schon der Blick in die Schweiz. Betrachtet man auch die im Ausland für die Schweiz entstehenden Emissionen, so verantwortet im Schnitt jede hier lebende Person knapp 14 Tonnen CO₂ pro Jahr. Zudem kommen für alle Pensionskassenversicherten nochmals 6,4 Tonnen – durch die für sie im Ausland getätigten Aktienanlagen. Keinerlei Grund also, das Kehren vor der eigenen Haustür noch weiter hinauszuzögern. Von 20 Tonnen auf Null in einer Generation.
Doch mit welchen Besen fegen wir? Nicht nur muss das Konzept der 2000-Watt-Gesellschaft recht entschieden nachlegen, sieht es doch vor, dass 2050 jährlich noch zwei Tonnen CO₂ pro Person emittiert werden dürfen und 2100 noch eine. Damit sind die Zielwerte von Paris nicht zu schaffen. Auch die «Energiestrategie 2050» bleibt hier allzu vage und die bisherigen Versprechungen des Bundesrats zielen mit bis 1,5 Tonnen im Jahr 2050 auf klar zu hohe Emissionswerte.
Dabei auch noch auf Emissionshandel zu setzen, um sich von Reduktionspflichten freizukaufen und mit eigenen Massnahmen länger abwarten zu können, ist hochproblematisch. Wie lange wollen wir dieses Spiel spielen? Denn in einer Null-Tonnen-CO₂-Gesellschaft können auch von anderen Ländern keine Kontingente mehr bezogen werden.
Das ist der zweite fiese Punkt des «super wicked problem»: die extreme Dringlichkeit zu handeln. Dabei gilt es zu beachten, wie extrem langlebig CO₂ ist. Ein transatlantischer Flug, der mit 3 Tonnen CO₂ pro Person zu Buche schlägt, ist daher in einer dekarbonisierten Zukunft um 2050 genauso schlimm wie heute. Doch unser heutiges Handeln verantworten wir auch heute. Da hilft kein Verweis auf künftige Technik, mit der (vielleicht) irgendwann eine massentaugliche Fliegerei wieder möglich werden könnte.
50’000 Jahre zur nächsten Eiszeit
Wir rasen auf eine Welt zu, wie es sie erdgeschichtlich noch nicht gegeben hat. Diese Welt hinterlassen wir wissentlich unseren Kindern und Kindeskindern. Allein bis heute haben wir die CO₂-Konzentration in solch einem Ausmass erhöht, das dem zwischen den letzten Warm- und Eiszeiten entspricht. Doch auf eine kühlende Eiszeit können wir nicht hoffen, denn bis zur nächsten dauert es noch etwa 50’000 Jahre. Wir steuern damit direkt in eine Heisszeit. Mit all ihren unabsehbaren Folgen.
Es ist zehn nach zwölf, doch einschränken wollen wir uns nicht. Wer hält uns auf?
Dies ist die dritte Eigenart des Klimawandels als «super wicked problem»: Es gibt keine politische Instanz, die imstande und ausreichend kompetent wäre, dieses Problem von globaler Reichweite irgendwie zu lösen. Und selbst dort, wo Kompetenzen bereits geregelt sind, heisst das noch lange nicht, dass adäquate Veränderungen auf den Weg gebracht werden.
Jede und jeder, der zur Lösung des Problems beitragen könnte, ist gleichzeitig auch Mitverursacher des Problems.
Die in den Schweizer Energiestädten für Energie zuständigen Exekutivmitglieder etwa gaben in einer nicht publizierten Umfrage von 2017 grossmehrheitlich zur Auskunft: Die Bedeutung der Energiepolitik nehme dann zu, wenn entsprechende Erwartungen in der Bevölkerung vorliegen und öffentliche Anforderungen aus der Gesellschaft gestellt würden.
Wenn aber die Gesellschaft erst wollen muss, dass die Politik bereit wird, zu handeln, dann müsste die Politik eigentlich so handeln, dass die Gesellschaft bereit wird, zu wollen. Anders gesagt: Wo bleiben die Kampagnen, die uns die Dramatik des Klimawandels vor Augen führen? So erschütternd sie auch sein mögen!
An deren Stelle wird weiter zum Träumen angeregt. Ein Artikel, in dem ein «sportliches» Auto getestet wird hier, eine Werbeanzeige für das ferne Tourismusziel dort, eine für das günstige Weekend in Barcelona und noch eine für das saftige Steak aus Argentinien.
Damit zur letzten Eigenschaft des Klimawandels als «super wicked problem»: Jede und jeder, der zur Lösung des Problems beitragen könnte, ist gleichzeitig auch Mitverursacher des Problems (wenngleich in recht unterschiedlichem Masse!). Denn fast alles, was wir tun, hinterlässt heute eine CO₂-Spur.
Fragen über Fragen
Das ist ein Prüfstein für die (direkt-)demokratische Verfasstheit: Was braucht es, damit ich in solidarischer Verantwortung votiere, auch wenn dies Einschnitte in meine eigenen Besitzstände bedeutet? Was kann mich davon abbringen, meine individuelle Autonomie in reaktionärer Weise zu verteidigen?
Wie beantworte ich die Frage nach dem rechten Handeln? Wie als Konsument, als Expertin, als Abstimmender, als Wählerin, Lobbyist, Tourist, als Politikerin oder als Eltern? Und welche neuen Antworten hält die Gesellschaft bereit?
Welches Handeln, welche Werte und Überzeugungen werden ideell anerkannt und materiell durch Recht, Preisstrukturen oder den gebauten Raum nahegelegt? Welche Leitvorstellungen geben die Richtung vor? Sind wir mit Nachhaltigkeit, 2000-Watt und smarten Städten tatsächlich auf dem rechten Weg?
Wie gewinnen wir Mut, um uns und damit auch die Gesellschaft neu zu erfinden?
Wie werden entsprechende Leitbilder an die Dramatik des höchst ambitionierten Ziels von 1,5 Grad Celsius angepasst? Was bewirken sie in der Gesellschaft? Helfen sie denen, die den Kopf beherzt aus dem Sand gehoben haben, nun klarer zu sehen? Oder beschwichtigen sie, indem sie suggerieren, der Lösung ganz nahe zu sein? Rütteln sie wach oder lenken von der enormen Handlungsdringlichkeit ab und sind nicht selbst Sand in den Augen?
Wo sind die gesellschaftlichen Akteure, die mit allem gebotenen Nachdruck auf unsere Fehlanreize, Irrwege und fossilistischen Sackgassen hinweisen? Wie gewinnen wir Mut, um uns und damit auch die Gesellschaft neu zu erfinden?
Wissen an uns heranlassen ist ein erster möglicher Schritt. Sich nicht allein auf diesen Weg zu begeben, ein notwendiger zweiter. Setzte die Friedensbewegung auf aktives Verweigern («Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin»), so muss jede Klimabewegung auf aktives Verändern zielen: «Stell dir vor, es ist Klimawandel und alle bieten Einhalt.»
Und dies macht gemeinsam mehr Spass. Denn so oder so liegt kein Sonntagsspaziergang vor uns. Erst recht nicht, solange anstelle gesellschaftlicher Bereitschaft und Entschiedenheit die Haltung vorherrscht, die anstehende «Grosse Transformation» würde sich so nebenher, primär durch andere und vor allem technisch erledigen lassen. Wie angemessen ist unser massives Verharrungsvermögen um 10 nach 12?