Seit 45 Jahren unterwegs: Diese Brüder haben noch keine Fasnacht verpasst

Seit bald einem halben Jahrhundert bestreiten die Gebrüder Gaugenrieder zu zweit die Fasnacht. Während sich die Fasnacht laufend verändert, bleibt bei den Gaugenrieders alles gleich. Doch wie lange noch?

«Wir sind niemandem Rechenschaft schuldig»: Die Gebrüder Gaugenrieder sind passenderweise als Pfauen verkleidet – die sich nicht nur im Zoo frei um die Käfige bewegen dürfen.

Im Restaurant Schlüsselzunft an der Freien Strasse sitzen die Gebrüder Gaugenrieder, der jüngere Reto und der ältere Hansruedi, in einer Nische unterhalb der grossen Treppe, die ins Scheiaweia hochführt. Sie trinken schweigend ihren Weisswein, und im Schweigen hören sie den Trubel bald nicht mehr.

«Schlüssel» – «Schnabel» – «Harmonie» und die Gassen dazwischen: Seit 1973 ist das die gemeinsame Fasnachtsroutine, 45 Jahre lang sind sie zusammen unterwegs. Gewohnheiten legt man nie schnell genug ab, doch im Fall der Gebrüder Gaugenrieder hat sich die Gewohnheit irgendwann in etwas Kostbares, Versöhnliches verwandelt. So wie aus Harz nach langer Zeit Bernstein wird.

Jahr für Jahr reiben sich Cliquen an den Verhältnissen. 2018 traten die Olymper in offenen Protest gegen die Regulierungsmacht des Comités, des Hüters über die Ordnung an der Fasnacht. Beim Aufbegehren geht es oft auch um fehlende Anerkennung und um die Frage, wer wie viel Anteil hat am Gesamtkunstwerk Fasnacht.

Dazu wird immer wieder die Tradition auf die Probe gestellt: Wilde Cliquen und Solonummern testen, wie weit man sich von der Fasnacht entfernen kann, ohne sie zu verlassen.

https://tageswoche.ch/stadtleben/anderschtfasnacht-mit-dem-fasnachts-comite-auf-der-wettsteinbruecke/

Die Gaugenrieders sind im flackernden Fasnachtskosmos dagegen ein Beispiel der Beständigkeit: Sie machen immer dasselbe. Nach dem Morgestraich spielen sie bis zum Mittag. Danach gingen sie früher zur Mutter an den Steinengraben, die gekocht hatte. Irgendwann brachten sie das Essen selber mit. Mittlerweile gehen sie nach Hause für eine kurze Verschnaufpause.

Ihr Fasnachtsterrain hat sich all die Jahre nie verändert. Das Kleinbasel meiden sie konsequent. Nicht aus Ressentiments gegen das mindere Basel, sondern aus künstlerischen Gründen: «Auf der Mittleren Brücke würde unser Piccolospiel vom Wind verweht», erklärt Hansruedi. Das leuchtet ein, wirft aber doch die Frage auf, warum es diesen Unterbruch in ihrem Spiel nicht vertragen kann.

Die Antwort darauf ist nicht so einfach zu geben. Vielleicht liegt sie in einem anderen Verständnis von Fasnacht, einer Fasnacht, die nicht ans Publikum gerichtet ist.

Die Brüder verliessen eine Spielart der Fasnacht und fanden sich in einer anderen wieder, wo man sich selber genügen muss.

Das Duo begann, als Reto wieder solo war. 1973 hatte der jüngere Bruder genug von der Spale-Clique. Seit Jahren bestritt er die künstlerischen Arbeiten im Alleingang, kümmerte sich um Larven und Laterne. «Das wurde mir zu viel, also ging ich», sagt Reto. Und von diesem Jahr an zog er mit seinem Bruder durch die drei Tage. Hansruedi entdeckte nur Vorteile: «Man wartet auf niemanden, der noch seinen Weisswein austrinken muss.»

Der Rückzug der Gaugenrieders entpuppte sich schnell als Emanzipierung. Sie verliessen eine Spielart der Fasnacht und fanden sich in einer anderen wieder, wo man sich vor allem selber genügen muss.

Wobei sie auch nicht immer unter sich blieben. Eine Weile lang waren sie mit einem anderen Grüppchen unterwegs. Sie begegneten sich zufällig im «Schlüssel», beschlossen ohne viele Worte, gemeinsam auf Tour zu gehen. Abmachungen wurden nie getroffen, und als die Gefährten einmal nicht mehr im «Schlüssel» auftauchten, reagierten die Gaugenrieders gleichmütig. Fasnacht wurde wieder zu ihrer eigenen, zweisamen Angelegenheit.

Belastete Beziehung

Ihre Geschichte kehrt immer wieder zurück zum Ankerpunkt, dem Restaurant Schlüsselzunft. Die Gaugenrieders erzählen von Fasnächtlern, die sie seit Jahrzehnten knapp grüssen, wenn man sich trifft. Es sind Bekanntschaften, die sich auf die Fasnacht beschränken, die aber schon im Kindesalter begonnen haben, als sie von ihren Müttern nach dem Cortège im «Schlüssel» aufgesammelt wurden. «Wir waren alle Schlüsselkinder», flachst Hansruedi.

Doch die Beziehung zum Stammlokal ist belastet. «Der neue Wirt macht nach Mitternacht Scheiaweia», klagt Reto. «Hier im ‹Schlüssel› haben wir unsere ersten Schnitzelbängg gehört», sagt Hansruedi. Jetzt meiden sie das Lokal, wenn dort Schlag zwölf auf Landfasnacht umgestellt wird. Eine feine Veränderung in ihrer Routine, aber eine, welche die Gebrüder spürbar verstimmt.

Die Gebrüder Gaugenrieder haben beide ihren Beruf mit in die Pension genommen.

Und Verstimmungen sind selten in ihrem Leben. «Wir streiten nicht, haben nie gestritten», sagt Hansruedi. Nicht nur an der Fasnacht ziehen sie Seite an Seite umher, auch ihr Berufsleben – selbst wenn es komplett unterschiedlich verlaufen ist – weist eine seltsame Parallelität auf: Beide haben ihren Beruf mit in die Pension genommen.

Hansruedi arbeitete als Telexist bei einer Bank, er tippte wichtige Meldungen in einen Apparat, der diese praktisch zeitgleich in einer anderen Filiale wieder ausspuckte. «Ich war das Internet von früher», sagt der ältere Gaugenrieder.

Bruder Reto war Steinlithograf. Er erstellte für die grössten Künstler seiner Zeit Abdrucke ihre Arbeiten. Warhol, Dalí, Kokoschka liessen sich von ihm ihre Werke vervielfältigen. Dazu übertrug er die Vorlage auf den zuvor aufwendig präparierten Stein, mit dem dann Kopien erstellt werden konnten. Jahrhundertelang war der Steindruck die präziseste und effizienteste Methode, hochwertige Reproduktionen herzustellen. Dann kam der Offsetdruck und verdrängte das alte Kunsthandwerk.

«Pfyyffe braucht Luft»

Als alles gesagt ist, setzen Reto und Hansruedi ihre Larven wieder auf. Sie ziehen das Piccolo aus dem Umhang, klopfen einmal mit den Fingern über die Tasten. Draussen ist es plötzlich taghell. Ein Konvoi aus Lieferanten schiebt die letzten Cliquen vor sich her. Wie lange sie es noch machen? Reto zuckt mit den Schultern: «Wir sind niemandem Rechenschaft schuldig.» Hansruedi sagt: «Pfyyffe braucht Luft.»

Nur eines ist sicher: Ins Publikum werden sie nie wechseln. Schon als Baby schob ihn seine Mutter kostümiert an den Cortège, erzählt Reto. Keine Fasnacht hat er seit der Geburt verpasst, keine ohne Kostüm bestritten. «Wenn das mit uns vorbei ist», sagt Reto Gaugenrieder, «dann werde ich weggehen aus Basel.» Nur während der Fasnacht, aber auf etwas anderes kommt es ja auch nicht an.

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