Ein Blick in den blinden Alltag

Mit 14 Jahren wurde Julia König vollständig blind – ein harter Schlag. Doch sie fing sich und erzählt heute gerne aus ihrem Leben und von ihrer Arbeit als Kellnerin.

Portraet Julia Koenig, die als sehbehinderte Kellnerin in der Blinden Kuh arbeitet. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Mit 14 Jahren wurde Julia König vollständig blind – ein harter Schlag. Doch sie fing sich und erzählt heute gerne aus ihrem Leben: Vom Velofahren, der Arbeit als Kellnerin in völliger Dunkelheit und dem Pendeln zwischen Stuttgart und Basel. Nebenbei räumt sie mit ein paar Klischees über Blinde auf.

Es gibt nur einen Moment, als das Gespräch mit Julia König an Fahrt verliert – diesmal lässt sie sich Zeit mit den Antworten. Sie erzählt von dem Tag, als sie von heute auf morgen komplett erblindete. «Es war ein beschissenes Gefühl.» Damals war sie vierzehn Jahre alt und hatte anderes im Kopf. Dennoch wusste sie, dass dies irgendwann geschehen würde.

König leidet an Retinitis Pigmentosa Nitritis, einer komplizierten erblichen Augenkrankheit, die sie selbst so erklärt: Man kommt mit einem kleinen Sehrest auf die Welt, doch die meisten Zäpfchen und Stäbchen der Netzhaut sowie viele Sinneszellen im Auge sind zerstört. Meistens fallen die verbleibenden davon in der Pubertät ganz aus – man erblindet völlig. Als dies bei König geschah, hat sie sich erst einmal fünf Wochen lang «komplett verkrochen» und war für «niemanden mehr ansprechbar».

Doch König fing sich wieder, wiederholte ihren deutschen Hauptschulabschluss – diesmal in Blindenschrift – und hatte gute Noten. Sie machte wie viele andere Sehbehinderte eine Ausbildung zur Telefonistin und zusätzlich dazu eine Büroausbildung.

Doch lange arbeitete sie nicht im Büro – ihr fehlte der Kontakt mit Menschen. Über den Blindenverband erfuhr sie vom Restaurant blindekuh in Basel, in welchem Sehbehinderte servieren und die Gäste in völliger Dunkelheit speisen. Sie fühlte sich sofort wohl in der Rolle als Kellnerin, doch Basel ist viereinhalb Stunden von ihrem Wohnort Stuttgart entfernt – man wollte sie hier und schliesslich entschied sie sich dafür.

Sucht König Hilfe, ist sie wirklich nötig.

Seit fünf Jahren pendelt sie nun zweimal die Woche zwischen den beiden Städten – und dies ohne Begleitung im Zug. Den Bahnhof Stuttgart kennt die 31-Jährige gut, schliesslich hatte sie dort ein Mobilitätstraining. Dabei zeigen ausgebildete Sehende sehbehinderten Menschen die Umgebung. Dennoch ist der Bahnhof gerade eine grosse Herausforderung, da es überall Baustellen gibt. Helfen ihr die Durchsagen mal nicht, fragt sie andere Pendler. Oft wird ihr dabei geholfen, doch manchmal wird sie ignoriert. «Meist dann, wenn ich wirklich Hilfe brauche», sagt König.

Für die Reise nach Basel muss sie zweimal umsteigen. Das klappt auch, weil die Umsteigezeiten ausreichen. Es gäbe eine schnellere Verbindung, doch da müsste sie in Karlsruhe in vier Minuten von Gleis 2 auf Gleis 10 wechseln – eine schiere Unmöglichkeit für König. In Basel angekommen, helfen ihr die Blindenbeschriftungen an den Geländern der Geleise, etwas, was an vielen deutschen Bahnhöfen noch fehlt.

Den Weg in die «blindekuh» auf dem Gundeldinger Feld kennt sie gut – auch hier hatte König ein Mobilitätstraining. Sollte sie sich dennoch mal verlaufen, versucht sie sich mit ihrem Stock an Tafeln, Ampeln und den unterschiedlichen Untergründen wieder zurechtzufinden. Hilft auch das nicht, fragt sie nach – wie schon am Bahnhof.

König ist froh um ihren Stock, Tiere mag sie nicht.

König ist froh um ihren Stock. Wenn sie keine Lust hat, kann sie ihn einfach in die Ecke stellen. Bei einem Blindenführhund wär dies anders: Sie müsste sich um ihn kümmern. Dabei sei sie kein Tiermensch. Für die Führung des Hundes müsste sie zahlreiche sogenannte Hörzeichen lernen. Bei den Hunden der Schweizerischen Schule für Blindenführhunde in Allschwil sind das dreissig Befehle, die den Hunden allesamt auf Italienisch beigebracht werden. Dies, weil sich Italienisch mit seinen zahlreichen Vokalen für die Hunde leichter vom Deutschen unterscheiden lässt und für sie so im Stimmengewirr des Alltags besser erkennbar ist.

Von Mittwoch bis Sonntag serviert Julia König in der «blindenkuh». Gerade ist im Restaurant wegen der «Baselworld» viel los. Während der Arbeitstage schläft König in der Restaurant-eigenen Wohnung im Gundeli. Nach Feierabend geht sie gerne Joggen – zum Beispiel auf dem Gundeli-Trail. Dafür begleitet sie jeweils jemand vom Lauftreff Basel – ihre Begleitung und sie halten sich zur Orientierung mit einem Schnürchen aneinander.

König läuft immer wieder auch an Wettkämpfen – letztmals am Basler Stadtlauf. Sie fährt auch sehr gerne Tandem, dabei begleiten sie verschiedene «Piloten», wie sie sie nennt. Bleibt sie mal zu Hause, liest König gern – Bücher in Blindenschrift oder am Computer mit ihrer sogenannten Braillezeile. Ein Gerät, das ihr in Blindenschrift übersetzt, was auf dem Bildschirm steht.

Seit dem Verlust ihrer Sehkraft haben sich Königs vier andere Sinne stark weiterentwickelt, wie sie erzählt. Bei der Frage, ob Blinde Farben spüren können, lacht König herzlich ­– daran glaubt sie nicht. Dennoch spürt sie manchmal einen «Gefühlssinn», wie sie ihn nennt. Sie spürt dann die Gefühle der Menschen, vor allem wenn sie sich zurücknehmen muss.

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