Es ist einer der härtesten Jobs, besonders bei minus acht Grad und eisiger Bise. Auf Tour mit Nic, dem Velokurier.
Der Abend beginnt mit einer Dummheit: Für die Velokurier-Reportage habe ich meine Handschuhe vergessen. Also ziehe ich die dünnen Dinger über, die ich in der Velo-Zentrale finde.
Hier begrüsse ich den Fahrer, den ich einen Abend lang begleiten will. «Ich bin Nic», sagt er. Und wie ich noch herausfinden werde: wohl einer der abgebrühtesten Velo-Fahrer der Stadt.
In Eiseskälte liefert er für Velogourmet warmes Essen aus. Ein Knochenjob. Erst recht an einem der kältesten Tage im Januar, an dem das Quecksilber auf Minus acht Grad fällt und eine frostige Bise ins Gesicht schlägt.
Um 17.30 Uhr beginnt die Schicht. Die erste Adresse, die wir ansteuern, ist das Lily’s am Claraplatz. Nic überfährt beim Schützengraben eine Ampel bei dunkelorange. Ich zögere. Schon ist mir Nic entwischt. Er wartet, ich hole auf, die Kamikazefahrt geht weiter.
Wir schlängeln uns zwischen Auto-Kolonnen hindurch, schlenkern auf der Fahrspur von rechts nach links und wieder zurück. Meine Nase tropft, die Fingerkuppen spüre ich nicht mehr.
In sieben Minuten sind wir am Claraplatz. Aufwärmen, Energie tanken im wohlig warmen Restaurant. Die Kälte sei nicht das Schlimmste, sagt Nic. Wenn die Strasse nass ist oder Schnee liegt, dann müsse er sein Tempo etwas drosseln. «Da wird jede Tramspur, jeder Dolendeckel zur Gefahr.»
Nic erklärt seine Tricks, wie er die Leute zu Trinkgeld animiert. Man müsse nur freundlich und aufgestellt sein. An der Fernsprechanlage sage er manchmal: «Kinder zu Tisch, das Essen ist da!» Oder er rennt die Treppe hoch und sagt: «Ich treibe ja sonst den ganzen Tag keinen Sport.»
In der warmen Zentrale hat Nic gut lachen. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Sein Smartphone piepst. Jetzt heisst es: Essen einpacken, losradeln. Die ersten beiden Adressen liegen im Gellert-Quartier. In weniger als zehn Minuten sind wir da. Nic klingelt. Der Kunde kommt zum Eingang. Keine Sprüche. Der Empfänger gibt trotzdem gutes Trinkgeld. Nic ist zufrieden. Nur: Eine Suppe ist ausgelaufen.
«Schau, ich zeige Dir, wie man das regelt», sagt Nic und klingelt eine Strasse weiter bei der nächsten Kundin. Er rennt die Treppe hoch und bringt seinen Witz. Die Frau lacht und sagt: «Man muss sich ja bewegen bei dieser Saukälte.»
Nic dreht sich mit der Tasche von der Tür weg und fischt die Suppe aus der Wärmebox. Der durchsichtige Plastikbehälter ist immer noch gut gefüllt. Die Frau sieht nicht, dass ein Teil der Suppe in der Box gelandet ist. Sie gibt ebenfalls gutes Trinkgeld.
20 Franken Stundenlohn plus Trinkgeld
Er erhalte etwa fünf Franken Trinkgeld pro Stunde, erklärt Nic, als wir wieder auf der Strasse sind. Mit seinem Stundenlohn kommt er auf etwa 25 Franken pro Stunde. Bei Bestellungen von Prostituierten erhalte er regelmässig am meisten Trinkgeld, erzählt Nic.
Wer viel Trinkgeld gibt und wer geizt, das könne er nach sieben Jahren als Velokurier aber noch immer nicht abschätzen. «Du fährst zu einer schäbigen Wohnung in Kleinhüningen und erhältst fünf Franken. Dann kommst du zu einer Villa auf dem Bruderholz und kriegst – nichts.» Manchmal sei es auch umgekehrt.
Aber die Leute hätten fast immer Freude, wenn das Essen kommt. Denn für die meisten sei es ein Luxus, Essen nach Hause zu bestellen.
Zwei paar Handschuhe und das Halstuch bis über die Nase gezogen: Das muss sein bei der Kälte. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Wir fahren weiter.
Nic lehnt sich zu mir rüber und sagt: Sein Job, das sei doch «es fucking Pläuschli!» Überhaupt sei es total friedlich, durch die Stadt zu «drücken» – ein Wort, das Nic in jedem zweiten Satz benutzt.
Klar, er fahre Velo wie ein Krimineller. «Aber ich bin immer voll bei der Sache. Das ist die Hauptsache.» Es herrsche kein Krieg auf der Strasse, wie es oft heisst. Das Bild vom Velokurier als militanter Auto-Hasser stimme nicht. Er selbst fährt Auto, Velo und Töff. «Wenn jeder etwas Respekt hat, dann geht es gut.»
Nächste Station: ein Restaurant in der Innenstadt. Nic sagt: «Die hauen jede Menge Glutamat ins Essen. Wir haben viel bessere Restaurants als dieses in unserem Angebot. Die Leute wissen einfach nicht, was Qualität ist.» Im Restaurant angekommen, steigt das Smartphone aus. Dem Handy geht es wie mir: Es ist einfach zu kalt.
Von der Innenstadt müssen wir nach Binningen: 4,4 Kilometer, 61 Meter Höhendifferenz.
(Bild: Google Maps)
Was Google Maps mit 19 Minuten anschreibt, schaffen wir in zwölf. Ich schwitze, die Kälte zieht langsam den Rücken hinauf. Nic sagt: «Bis jetzt habe ich noch keinen Tropfen geschwitzt.»
Der Mann, der die Speisen entgegen nimmt, findet: «Im Sommer macht der Job bestimmt mehr Spass.» Wir täuschen Munterkeit vor. Dieses Mal gibt es kein Trinkgeld.
Als wir weiterfahren, sagt Nic: «Der Typ gibt fast hundert Franken für ein Essen aus, wir fahren bei minus acht an den Arsch der Welt – und er gibt kein Trinkgeld?!»
Früher habe er sich über solche Leute genervt, heute sei es ihm egal. Trotzdem schiebt Nic ein Schimpfwort nach.
Velokurier als Nebenjob
Auf dem Weg zum nächsten Restaurant treffen wir Fahrer von anderen Lieferanten. Nic ruft ihnen einen lauten Gruss zu. «Du fährst ohne Licht», sagt er zu einem der Fahrer. Dieser reagiert nicht. Wir fahren weiter.
Velogourmet ist einer der wenigen Auslieferer in der Schweiz, der seit Jahren aufs Fahrrad setzt. 2006 wurde der Lieferservice gegründet, damals noch als Teil der Kurierzentrale. Heute ist Velogourmet ein eigenständiger Betrieb, der zu einem Teil der Kurierzentrale gehört.
Mit eat.ch und diversen Eigenlieferanten von Restaurants nimmt die Konkurrenz im Kuriergeschäft zu. Nic, der eigentlich Jus studiert, ist überzeugt: Velogourmet ist der professionellste und schnellste Velo-Lieferant. «Deshalb werden wir auch langfristig überleben.»
Der Velokurier fährt dem Reporter davon. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Wir steuern in Richtung Paulus-Quartier, wo die nächste Ladung wartet. Obwohl es bergab geht, tritt Nic kräftig in die Pedale. Jeder Meter wird für mich zur Qual.
Es ist 20 Uhr. Ich mache schon jetzt Feierabend, weil meine Beine nicht mehr mittun. Nic fährt noch zwei Stunden weiter. Er wird an diesem Abend 60 Kilometer fahren – mehr als an anderen Abenden, wie Nic am nächsten Tag schreibt.
Die Handschuhe gebe ich Nic mit. Er winkt ab, ich soll sie doch mitnehmen und in den Briefkasten legen, er würde sie am nächsten Tag dort abholen. Nein, sage ich. «Das schaffe ich schon.»
Zum Abschied sagt Nic: «Hast gut mitgehalten.» Ich denke: «No way.» Und radle nach Hause.
Etwas Spass hat es trotz Minusgraden und Muskelkater schon gemacht. Aber nach einer halben Schicht ist meine Karriere als Velokurier abgeschlossen. Für immer, vermute ich.