Die Schachmeister von der Tankstelle im Sankt Johann

Zu Besuch in einem bemerkenswerten Basler Bistro, wo wenig konsumiert und sehr viel geschwiegen wird.

Zentrum beherrschen, Figuren entwickeln, rochieren: Im Tankstellen-Bistro am Kannenfeldpark wird jeden Tag Schach gespielt.

Die drei Männer am Tisch sind die letzten Gäste in der Avia-Tankstelle am Kannenfeldplatz. Es ist 20 Uhr, draussen minus 12 Grad. Ich frage, ob ich mich dazusetzen kann. «Klar», sagt derjenige mit Brille und dem schütteren Haar. Dann sitzen wir zu viert da, reglos, wortlos, die Gedanken irgendwo zwischen Bauer e2 und Turm d8.

Die Tanke mit den wenigen Tischen und Bistro-Angebot hat sich in den letzten Jahren zu einem regelrechten Schachtreffpunkt gemausert. Man kann vorbeischauen, wann immer man will: Es sitzen Männer vor ausgeklappten Schachfeldern aus Karton, die Figuren im Blick, die Zeit vergessen.

«Schach», unterbricht der 65-Jährige, der sich später als «Anthroposoph» vorstellen wird, die Stille und rückt den Turm auf die Grundlinie. Sein Gegner hält drei Figuren umklammert, die er nervös aneinander reibt. Er seufzt, greift zum König und schiebt ihn hinter einen Bauern. Es ist aus, Fatma weiss das. Er, der hier von allen nur «der Afghane» genannt wird, hat die Partie verloren.

«Willst du?», fragt Magnus, der Anhtroposoph, der wirklich wie der bekannte norwegische Schachspieler heisst. Seine zusammengekniffenen Augen schauen mich auffordernd an. «Klar», sage ich und setze mich auf den freigewordenen Platz.

Es wird eine kurze Partie. Meine Springer, Läufer und Bauern wirbeln über das Brett, zerstieben unter den Angriffen meines Gegners. Am Ende bleiben drei, vier Bauern und der König, das Matt ist nur noch wenige Züge entfernt. Mein Gegner lächelt. 

«Ich komme fast jeden Tag hierher – je nachdem, wie grosszügig meine Frau gerade ist.»

Magnus, Schachspieler und Anthroposoph.

«Spielt ihr immer so schnell?», frage ich verlegen. «Das ist Blitzschach», sagt Georges, der dritte im Bunde, der nur zuschaut und Kommentare abgibt. 

Fatma und ich wechseln die Plätze und spielen nun im Zehnminutentakt gegen Magnus. Der gewinnt jedes Spiel – mit unbescholtener Leichtigkeit. Ab und zu betritt ein gestresster Autofahrer von draussen den Tankstellen-Shop. Wir nehmen das aber kaum noch wahr. Für uns besteht die Welt nur noch aus schwarzen und weissen Feldern. 

Bis um 21 Uhr 40. Dann sagt der Tankstellenwart den Satz, den die Schachspieler vom Kannenfeldplatz jeden Abend um diese Zeit hören: «In 15 Minuten kein neues Schach anfangen», sagt er. «Ja, ja, gut», murmeln wir und stellen die Figuren noch einmal auf.

Draussen sagt Magnus zu mir: «Es ist wie eine Sucht. Ich komme fast jeden Tag hierher – je nachdem, wie grosszügig meine Frau gerade ist.» Dann geht er in die kalte Nacht hinaus.

Zeljko schreibt auch Gedichte: «Vom Schachspielen können wir auch für das Leben lernen», sagt er.

Wie kommt es, dass hier so viele Männer wie Magnus fast wie aus dem Nichts zusammenfinden, um Schach zu spielen? Wenn man sich im Lokal umhört, hat sich das einfach so ergeben. Man sei anderswo rausgeflogen, sagen die Spieler, die hier regelmässig aufkreuzen. Also habe man einen neuen Ort gesucht, an dem man ungestört spielen konnte und möglichst wenig konsumieren musste. Besonders für den Winter, wenn es zu kalt ist, um im Park zu spielen.

Seit etwa sieben Jahren kommen die Schachmeister nun zum Kannenfeldplatz. Der Tankstellen-Leiter, Thomas Kura, kann damit gut leben. «Wir sind hier nie alleine, so ist es fast unmöglich, unsere Filiale zu überfallen», sagt er. Dass manche Spieler innerhalb von mehreren Stunden nur einen Pfefferminztee zahlen, daran hat sich Kura gewöhnt. «Wir fragen immer wieder nach, ob sie etwas trinken wollen, aber wir schmeissen keinen raus.»

Wenn Schach in der Tanke eine Sucht ist, dann packt sie erbarmungslos zu. Zwei Tage später sitze ich bereits wieder an einem Tisch. Dieses Mal mit Zeljko und Dusan, der von sich behauptet, er sei der Trauzeuge von  FCB-Legende Admir Smaijc. Die beiden spielen etwas langsamer, aber nicht weniger effizient. 

«Mit meinen Beziehungen im Schachsport konnte ich Geiseln aus dem ehemaligen Jugoslawien befreien.»

Vjekoslav Vulevic, ehemaliger Schweizermeister im Blitzschach.

Als Dusan kurz rausgeht, eine rauchen, erklärt mir Zeljko die «drei goldenen Regeln» im Schach: Zentrum beherrschen, Figuren entwickeln, rochieren. Dann wirds grundlegend: «Vom Schachspielen können wir auch für das Leben lernen», meint Dusan. «Zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, darum geht es doch auch im Leben, oder?» 

Im echten Leben arbeitet Zeljko bei Weleda, führt nebenbei einen Schachclub und schreibt Gedichte. Einen Band über die Liebe habe er veröffentlicht. Und einen voller Aphorismen. «Ein ganzes Buch über Wasser und Wein», wie er sagt.

Am Nebentisch hat sich eine neue Gruppe formiert. Vier Männer, mehr oder weniger reglos, stumm, Starrblick aufs Schachbrett. «Die sind immer hier», sagt Zeljko, der Dichter. «Ich weiss nicht, ob sie arbeiten.»

Dusan ist von seiner Zigarettenpause zurück und schaut zu, wie wir noch eine Partie spielen. «Siehst du», sagt Zeljko zu ihm, «er spielt schön!». Zeljko gewinnt klar. Wir fachsimpeln noch ein bisschen über Eröffnungen, dann gehen die beiden.

«Hier hat keiner eine Chance gegen mich» – Vjekoslav Vulevic ist der König des Schach-Bistros.

Ich spreche den Mann an, der allein in der Ecke sitzt. «Ich bin der wohl bestinformierte Ausländer in diesem Land», stellt er sich scherzend vor. Er lese hier jeden Tag Zeitung. Schach spielen – das tue er auch. 

Vjekoslav Vulevic ist sein Name. Über 40 Titel im Schach will er gewonnen haben, die meisten im Blitzschach. Er habe auch schon an Welt- und Europameisterschaften mitgespielt und 1988 gegen den damaligen Weltmeister, Maxim Dlugy, im Blitzschach verloren.

Vulevic zählt weitere Höhepunkte aus seinem bewegten Leben auf, spricht über Tricksereien an Turnieren, über Fussball, aber vor allem über eins: seine eigenen Erfolge im Schach. Solche habe er auch neben dem Spielbrett erlangt. Seine Beziehungen durch den Schachsport hätten ihm dabei geholfen, Geiseln aus dem ehemaligen Jugoslawien zu befreien. «Prüfen Sie das, es stimmt!», sagt Vulevic. «Und ich habe dafür bis heute kein ‹Dankeschön› gehört.»

Der gebürtige Montenegriner stellt die Figuren auf, er spielt gegen einen bärtigen Mann, den sie hier «den Kurden» nennen. «Hier hat keiner eine Chance gegen mich», sagt Vulevic. Es mache ihm trotzdem Spass, gegen die Tankstellen-Gegner zu spielen.

Manchmal gebe er hier einem Studenten auch Schachunterricht. «Wissen Sie, was ich dafür als Lohn erhalte?», fragt Vulevic. «Ein Getränk.» Er lächelt, als wäre ihm gerade ein feiner Zug geglückt.

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