Ein Basler Filmemacher zog aus, um in Finnland das Frieren zu lernen. Was er zurückbrachte, ist diese Reisereportage und ein experimenteller Film: «maavälimaa – shooting a picture».
Die Sonne hüllt sich in ihren blauen Mantel. Der Wind zerrt, rupft und schnaubt wild vor Anstrengung. Doch sie scheint unbeeindruckt, leuchtet gleichmässig in die irrlichternden Wolkenfetzen. Mein langer Schatten verschwindet auf dem Schnee. Ich drehe mich um. Da kommt sie, die blaue Wand. Der Wind schlägt mir seine Aufmerksamkeit ins Gesicht. Im Südwesten verschwinden bereits die Konturen. Eine Trennungslinie zwischen Erde und Himmel ist nicht mehr vorhanden. Das Zwischenland – maavälimaa – manifestiert sich. So fängt das hier an.
Hier heisst 69°18’33’’ nördlich, 21°16’47’’ östlich gute 3400 km nördlich von Basel, fast 500 km oberhalb des Polarkreises, wo die Sonne im Sommer nicht mehr untergeht. Wäre ich die gleiche Distanz nach Süden gereist, sässe ich jetzt mitten in der Sahara in Algerien unweit der Grenze zu Niger und Mali.
Nein, ich quere hier in Lappland die nördliche Flanke des 1245 Meter hohen Govddosgaisi, des dritthöchsten Berges Finnlands. Und des schönsten, wie Einheimische meinen. Mitten in der Tunturi, dieser riesigen Schneewüste, hat er sich mit seinem langen Rücken hingelegt und bewacht den Eingang zur schwer zu durchdringenden Berglandschaft, die dann 50 Kilometer nördlich in Norwegen jäh ins Polarmeer abfällt.
Das Wetter dreht
Ich habe Angst, bin aber keineswegs panisch. Im Gegenteil, was hier mit mir verhandelt wird, ist schlicht und einfach das unmittelbare Verhältnis des Einzelnen zur Welt. Darauf gilt es sich einzulassen, sonst wird es gefährlich. Gestern noch durfte ich im klarsten Sonnenschein bei Windstille mit meinen «Mätsäsukset» den Gipfel besteigen. Der finnische Waldski ist einem Langlaufski ähnlich, nur breiter, und mit seinen 2,80 Metern Länge ermöglicht er ein Fortkommen auch im tiefsten Schnee.
Das Gefühl uneingeschränkter Grösse hat mich hinaufgetragen. Diese grenzenlose Stärke lässt einen das Selbst als integralen Teil dieser Weite fühlen. Der Anstrengung wegen gut erwärmt und bei 30 Grad unter null gemütlich getrocknete Früchte kauend den Blick schweifen lassen und mitfliegen.
Jetzt hingegen hat mich der Wetterumschwung ausgespuckt. Knapp geduldet und eigentlich ein Fremdkörper, komme ich mir klein, sehr klein vor. Ich versuche, die Peilung nicht zu verlieren, richte den Kompass. Ein offenes Tal nach Norden erscheint wie eine Verlockung, wäre aber der Weg ins sichere Aus. Mein Schlitten, auf dem ich die Lebensmittel für die nächsten zwei Wochen transportiere, drückt von hinten. Ich wähle die direkte Abfahrt quer zum Hang.
Schön in den Knien bleiben und zum See hinuntergleiten und vor allem: nicht hinfliegen. Unten bestimme ich meine Position auf der Karte. Die Sicht reicht noch aus, das könnte doch so bleiben bis zum Abend, bin zuversichtlich.
Vor einem Jahr waren wir zu zweit hier oben. Im Gepäck hatte ich meine alte 16-mm-Kamera Bolex H16. Eine Maschine, rein mechanisch, aufziehbar für 28 Sekunden Laufzeit. Batterien würden hier von der Kälte sofort gefressen. Die Annäherung an Licht, Rhythmus und Struktur der Landschaft sind der Boden, auf dem ich versuche, meinen Gefühlen, der Abwehr und dem Gehenlassen in diesem ursächlichen Raum filmischen Ausdruck zu verschaffen.
«maavälimaa – shooting a picture»
Mitgebracht habe ich diesmal den fertigen Film «maavälimaa – shooting a picture». Hannu Rauhala hat sich meine halbstündige Arbeit angesehen. Er, der Material an Touristen wie mich vermietet, diese auch mit Schneemobilen durch die Landschaft fährt und sich bisher wohl eher für Motoren und Getriebe der Schneetöffs begeistert als für Experimentalfilme, meinte: «Interesting, I have to make a call.» Dann geht alles ganz schnell. Er reicht mir das Handy und ich vereinbare ein Treffen mit Tony Mannela. Sie hat in Helsinki als Ethnologin im Museum gearbeitet, bevor sie nach Kilpisjärvi ging, dieser letzten Station am Eingang zur Wildnis, wo sie sich unter den 150 Einwohnern ausgesprochen wohl fühlt. Sie leitet das «Luontotalo», ein Ausstellungshaus zur Kultur, Biologie und Geologie des lappländischen Nordens.
Die Filmpremiere soll am Freitag in zwei Wochen sein. Tony verabschiedet mich herzlich, auf dass ich ja pünktlich zurückkomme. Sie werde die Flyer für die Premiere übrigens laminieren. «It is sometimes very stormy here!»
Wo schlafen?
Mittlerweile beginnt die Dämmerung, das Zwielicht wird in den nächsten zwei Stunden anhalten, während sich die Dunkelheit ganz sorgfältig über das Land legt. Der Wind hat wieder aufgedreht, aber es ist wärmer, knapp 20°C unter null, Schneefall setzt ein. Die Orientierung entlang eines Felsbandes scheint einfach, obwohl die Sicht kritisch ist. So in fünf Kilometern, also anderthalb Stunden Laufzeit, müsste ich auf eine Hütte treffen. Diese «Autiotuvat» stellt der finnische Staat zur Verfügung. Sie sind immer offen, haben Holz, einen Ofen, und bieten in der Regel bis zu acht Reisenden Schutz und Geborgenheit.
Ich verabschiede mich von den wegweisenden Steinen, um nordöstlich einen gefrorenen kleinen See zu queren. Die Hütte müsste auf dem ansteigenden Hang am anderen Ufer liegen. Das ist der Gang ins weisse Nichts. Ich bin müde, zögerlich. Nach zehn Stunden draussen Unterwegssein. Trotzdem ziehe ich los. Doch das Unbehagen wächst, ich kann nicht mit absoluter Gewissheit feststellen, ob ich schon am anderen Ufer angekommen bin. Von einer Hütte weit und breit keine Spur. Suchen bis zur Erschöpfung, oder … – der Entscheid ist jetzt zu treffen.
Ich halte, lege den Rucksack ab, schnell die Daunenjacke angezogen, um nicht auszukühlen, denn wenn sie dich hier hat, die Kälte, ist sie fast nicht mehr zu vertreiben. Ich nehme meine Schaufel und hebe einen Graben fürs Zelt aus. Immer ein beklemmendes Gefühl. Ob der Platz wohl freundlich ist? Die Befürchtungen weichen dem wohligen Gefühl der Wärme im Schlafsack. Draussen tobt es, der Schneefall wird stärker. Das Zelt ruckelt. Ich schlafe ein.
Zehn Tage später fahre ich gut gelaunt und pünktlich, voller Energie auf meinen Ski bei Tony im Naturhaus vor. Leider spreche ich kein Finnisch. Aber Tony schreibt mir die Sätze auf, die ich auf Finnisch zur Begrüssung sagen will. Das sei nun wirklich nicht nötig, aber ich beharre darauf. Gut, ich sei ja Ausländer, dann ginge sowas. Das Publikum klatscht aufrichtig nach der finnischen Einleitung. Ich hoffe, dass «maavälimaa – shooting a picture» gleichermassen berührt.
Gekommen sind 20 Leute und ein finnisches Fernsehteam, das auf dem Weg ist, um eine Serie zur Kultur des Nordens – Schwerpunkt Eisfischen – zu drehen. Heute Morgen noch war ich in der Wildnis, dem Schauplatz von «maavälimaa», jetzt zeige ich ihn als Destillat. Im Hüttenbuch las ich unseren alten Eintrag, auf den Tag genau vor einem Jahr, 20. März 2012: «… taking picture made by heart and now we will enjoy beers!»
Nur kurz war Zeit, sich den Veränderungen des verflossenen Jahres zu stellen, auf dem Weg zurück zur Zivilisation in den tiefen Spuren meiner Vorgänger. Ich wollte eigentlich nicht hinter mich schauen, blöder Aberglaube. Dort scheint die Sonne in aller Pracht in den Tag zu treten. Die Wasserkristalle blinkten in den Windböen. Die Neugier gewinnt, ich drehe mich um: Da steht er am Horizont, der zweifache Regenbogen.
Die Schneewüste als Bühne
Mein Film ist ohne Ton, während der Vorführung ist nur der Wind draussen zu hören. Einmal klingelt noch ein Handy mit dem Ruf der Schneetaube. Der Applaus erlöst mich. Die Diskussion ist sehr angeregt, kreist auch um die Frage, ob für mich die «Tunturi» im Film eine Bühne sei. Ein schönes Bild.
Am nächsten Tag werde ich fast nicht von Kilpisjärvi wegkommen, möchte mich verabschieden. Typisch untypisch finnisch reiht sich ein Gespräch an das andere. Schliesslich meint Tony Mannela lächelnd: «This place hugs you. You will come back».
Unten sehen Sie einen Auszug aus Biehlers Film «maavälimaa – shooting a picture». Der ganze Film wird am 1. Juni, 22 Uhr, an einem WG-Fest am Bläsiring 86, Basel, ausgestrahlt. Keine Bange, Sie haben keine Tomaten auf den Ohren – es handelt sich um einen Stummfilm.