Neymar und die Saftpresse Behrami – so erlebten die Basler Brasilianer das Spiel

Das «Viertel» war am Sonntagabend in Gelb-Grün getaucht. Die Brasilianer feierten ihr Team, das Spiel und überhaupt.

Ein Karneval sondergleichen: brasilianische Fans im «Viertel».

Wenn die Schweiz endlich in die WM eingreift, wirds Zeit, sich vor der Haustüre nach dem sportlichen Gegner umzusehen. Feldstudie nennen sie das, oder teilnehmende Beobachtung. Oh süsse Pein, oh Gift im Schweizerfleisch. Der Swissness unter Freunden just dann den Rücken zu kehren, da sie ausnahmsweise en vogue ist, lebbar, heiter, ganz und gar unverdächtig und selbstverständlich daherkommt, das tut weh. Grillabend unter Mitbewohnern, hold my beer.

Wenn die Nation in den Hinterhöfen zusammenrückt, wirds dann draussen ein bisschen kälter? Ich frage herum, konspirative Quellen in knallgelben Trikots versprechen mir Antworten im «Viertel» auf dem Dreispitz, der Hochburg der Brasilianer. An der nahe gelegenen Tramhaltestelle hält eine Stunde vor Spielbeginn die Nummer 11, so etwas wie der Coutinho unter den Tramlinien. Von Coutinho wird man später noch hören, der Taumel beginnt allerdings schon vorher.

Aus dem Tram strömen Scharen in Gelb, um die Hüften haben sie Pauken gebunden, in der Hand tragen sie Rasseln, Agogos, Pandeiros. Ein Karneval sondergleichen.

Die Hymnen erklingen und wie immer wenn man den Text nicht versteht ist das alles nicht so schlimm.

Dort bleiben zuvor hart erkämpfte Liegestühle vor der Grossleinwand auf einmal verwaist zurück. Die «Sambrasileia» erobern das «Viertel» wie Deutschland vor vier Jahren das Finale. Aber darüber mag heute niemand sprechen.

Vor allem João nicht, der sass damals, beim 1:7 im Stadion und weinte. «Das war, als bohrte dir jemand einen Dolch ins Herz und stiesse dann sechs mal nach», sagt João und schlägt mir siebenmal die Faust auf die Brust. «Spürst du das?» Ich spüre Joãos Hand in meinem Nacken und seine stechenden Augen in meinen Augen und die sieben deutschen Tore sind nie lebhafter nachempfunden worden, so viel ist sicher. 

João geht sich ein Bier holen. Deutschland hat vor zwei Stunden mit 0:1 gegen Mexiko verloren.

Bis der Zug beim Eingang ankommt, hat sich der irre Rhythmus dieser Samba-Connection längst bis hinauf auf die Dachterrasse geschraubt.

Bei der Schweiz erhält Zuber den Vorzug vor Embolo, aber auf den Holztreppen vor dem viel zu kleinen Bildschirm haben ohnehin alle nur Augen für einen: Neymar da Silva Santos Júnior. Der erscheint in den folgenden 90 Minuten immer dann in der Totalen, wenn ihn ein Schweizer zu Fall bringt. Gelb für Lichtsteiner. Gelb für Schär. Gelb für Behrami. Alle für ein Foul an Neymar. Hector aus dem St. Johann nimmts gelassen.

«Gerade an den zwei kann man die Verhältnisse gut ablesen», sagt Hector und zeigt auf Neymar und Behrami, der stehend versucht die Verwarnung wegzulachen. «Behrami hat die Beweglichkeit einer Saftpresse, Neymar soll offenbar langsam zerquetscht werden.»

Hector sagt das nicht aggressiv, überhaupt wird hier kaum jemand ausfällig, was auch an der Sprache liegt, die so weich durch die Emotionen mäandert, als wäre das irgendein Sonntagabend und dies nicht das erste Spiel eines Titel-Aspiranten im wichtigsten Turnier der Welt.

Zwar explodiert der Pegel mit Coutinhos Treffer in der 20. Minute in kollektiver Ekstase.

Zwar sinkt die Stimmung mit Zubers Donnerkopfball zum Ausgleich ein wenig. Insgesamt aber herrscht über die 90 Minuten hinweg derselbe ebenmässig ohrenbetäubende Klangteppich.

Mir schwant: Hier gehts gar nicht in erster Linie um Fussball. Hier gehts um Community-Bonding. Paradebeispiel: Hector, ein routinierter Bonder. «Das war kein Foul.» Selfie an den Bruder. «Freistoss wofür? Lächerlich!» Filmchen aufnehmen für die Story auf Instagram. In seinem Chat hagelt es Fotos, Videos, Emojis, dabei stehen die Absender alle rings um ihn herum.

«Es gibt in Basel diesen gigantischen Chat, alles Brasilianer», sagt Hector. «Wenn irgendwo was geht, stehts garantiert dort drin.» Dieser Chat war es auch, der sicherstellte, dass wirklich jeder von der Party im «Viertel» wusste. Und jetzt wird dieses Ereignis hundertfach live mitreflektiert, eine Multiangle-Perspektive auf ein- und denselben Mikrokosmos, wie es das beim Schweizer Fernsehen nie geben wird.

Aber Hector schickt seine Fotos nicht nur an die Tribünennachbarn, er schickt sie auch nach Brasilien. Fotos von sich. Fotos von der jungen Frau neben sich. Fotos von mir. Fotos vom Torjubel. Zurück kommen unscharfe Aufnahmen. Eine Bar in Fortaleza, die Mama, die Cousine, die Fahne. Und immer dieser Hashtag. #RumoaoHexa.

Bloss nicht allein im Hinterhof

Für die Familie in Brasilien sei es wichtig zu wissen, dass er dieses Spiel mit ganz vielen anderen zusammen sehe und nicht womöglich alleine in einem popeligen Hinterhof, erzählt Hector. «Darum tragen auch diejenigen ein Trikot, die mit Fussball gar nichts anfangen können.» Es geht also um den Code, um das Gefühl die Masse noch grösser zu machen. Hector sagt: «Du hast das nicht richtig gemacht mit deinem schwarzen Pullover, das musst du noch mal üben.» Für die Zeitung will er dann lieber doch nicht fotografiert werden.

Und was heisst Rumo ao Hexa? Grosse Uneinigkeit. Marta übersetzt es mit «der Duft der sechs». «Riechst du das?», fragt sie und hält die Nase in die Luft, aber da ist nur das Bratfett von der Wurstbude und Käsedampf und Schweiss und der Geruch von Räucherstäbchen, der den Klamotten der Sambrasileias entströmt. «Das meine ich nicht», sagt Marta, «was ich meine riecht anders, es riecht nach Jubel, nach Freude.»

Hector kommt zum Punkt: «Da hats noch Platz für ’nen sechsten Stern», sagt er und streichelt das Wappen auf seinem Trikot. «Rumo ao Hexa», die Richtung des sechsten Titels.

Aber das 1:1 gegen die Schweiz? Davon will niemand mehr hören. Im Scheinwerferlicht der Motorräder auf dem Parkplatz tanzen sie Samba, schwingen Fahnen, skandieren den Namen ihrer Nation so heiter und ganz und gar unverdächtig.

https://tageswoche.ch/sport/mit-der-lust-an-der-drecksarbeit/

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