Es geht schon vor der Geburt los: Die Suche nach einem Betreuungsplatz in Basel ist ein einziger, langer Chrampf. Denn das System ist nicht auf berufstätige Eltern ausgerichtet.


Basel sieht sich punkto Kinderbetreuung als Luxuskanton. Für Eltern fühlt sich das aber nicht so an. Die TagesWoche hat mit zwölf Familien geredet. Fazit: Die Organisation der Kinderbetreuung ist ein riesiger Stress.

Das Basler System ist ein Flickenteppich aus verschiedenen Betreuungsangeboten wie Tagesheim, Tagesstruktur oder Mittagstisch mit und ohne Nachmittagsbetreuung sowie Tagesferien (siehe Glossar am Ende des Artikels). Einen Überblick zu bekommen ist eine Kunst für sich.

Durch den Betreuungsdschungel

Wir haben einen Weg durch das Dickicht geschlagen und die Erfahrungen der Familien zusammengefasst. Wir spielen sie an einem prototypischen Paar durch – in Form eines Logbuchs, mit allen Hindernissen im Betreuungsdschungel, von der Schwangerschaft bis zum Eintritt in die Primarschule.

Unser Paar bilden Laura und Philipp. Sie arbeitet als Physiotherapeutin in Basel. Er als pendelnder Marketingfachmann in Zürich. Ihr Spiessrutenlauf beginnt an einem Frühlingstag mit einem Toilettengang und zwei roten Strichen:

März 2011: Laura ist schwanger, juhee!

Juni 2011: Philipp googelt «Kinderbetreuung Basel» und landet auf der Seite der kantonalen Fachstelle Tagesbetreuung. Nach 20 Minuten Suchen findet er das Anmeldeformular für einen Kita-Platz und schreibt sich für zwei vom Kanton subventionierte Tagesheime ein, die von der Familienwohnung aus in zehn Minuten per Velo erreichbar sind. Wunschdatum: 1.Juli 2012, also in einem Jahr.

Mit dem Kinderglück fängt auch der Spiessrutenlauf an.

Dezember 2011: Autsch, die erste Wehe. Ab ins Spital, Mia kommt zur Welt. Juhee, juhee, juhee!

Februar 2012: Philipp ruft wieder einmal bei der Fachstelle Tagesbetreuung an: «Wie sieht es aus mit dem Tagiplatz?» Die Dame am Telefon vertröstet ihn. Nein, sie habe noch keinen Platz für sein Baby, «aber bis zum 1. Juli ist ja noch Zeit».

April 2012: Immer noch keine Nachricht. Laura ist langsam gestresst, der Juli naht. Sie ruft erneut an. Antwort: «In den zwei angegebenen Tagis ist nichts frei.» Aber vielleicht sehe die Situation im August anders aus.

https://tageswoche.ch/gesellschaft/kinderbetreuung-ohne-konzept-basels-angebot-gehoert-aufgeraeumt/

Der erste Wutanfall

«Aaaaaaaah!» Philipps Wutanfall dauert zehn Minuten. Dann schaut er sich die Liste mit den subventionierten Tagis im Quartier an und ruft das erstbeste, nennen wir es Bebbi-Tagi, an. «Ja, wir haben noch Plätze frei, wollen Sie morgen vorbeikommen und sich alles ansehen?»

Ein Tag später: Der Tagiplatz im Bebbi-Tagi ist reserviert, ab Juni finden regelmässige Besuche statt, damit Baby Mia sich angewöhnen kann. Der Plan: Mia ist zwei Tage im Tagi, zwei Tage schaut Laura, ein Morgen Philipps Mutter und am Nachmittag Philipp selber.

1. Juli 2012: Lauras erster Arbeitstag nach der Geburt. Puh, ist arbeiten erholsam!

Weniger erholsam ist es morgens und abends. Das Tagi öffnet um 7 Uhr und schliesst um 18.15 Uhr. Laura muss Mia jeweils bringen und holen. Wenn sie einen Abendtermin hat, übernehmen die Grosseltern den Abholdienst. Pendler Philipp geht morgens um 7 Uhr aus dem Haus und kommt erst um 18.30 Uhr wieder in Basel an. Er fällt als Baby-Chauffeur aus.

Auf einmal wird das Tagi teurer

Herbst 2012: Die Steuerveranlagung liegt im Briefkasten. Kurz darauf ein Brief vom Tagi: Per sofort bekommen Laura und Philipp weniger Subventionen für die Kinderbetreuung. Der Grund: Die Fachstelle hat erstmals die Steuerveranlagung als Grundlage für die Berechnung der Betreuungstarife genommen. Bislang stützte sie sich auf aktuelle Lohnauszüge.

Steuern werden aufgrund des Verdienstes im Vorjahr berechnet – damals arbeitete Philipp 100 Prozent und Laura 80 Prozent. Nach Mias Geburt hat er aber auf 90 und sie auf 60 Prozent reduziert – sie verdienen also weniger als im Steuerjahr und zahlen zu viel.

Laura ruft bei der Fachstelle an und schickt ihr aktuelle Lohnauszüge. Antwort der Fachstelle: «Wir passen die Subventionen wieder an, aber es gilt eine Übergangsfrist von drei Monaten.» In diesen drei Monaten müssen Philipp und Laura den zu hohen Betrag zahlen.

«Die Tagesstruktur ist ausgebucht. Sie müssen selber eine Lösung für Mia suchen.»

Zeitsprung in den Dezember 2013: Happy Birthday! Mia feiert ihren zweiten Geburtstag. Laura ist wieder schwanger. Telefon ins Bebbi-Tagi: Ja, sie reservieren einen Platz für das Ungeborene.

März 2013: Herzlich willkommen auf der Welt, Sanna.

Wenn die Tagesstrukturen ausgebucht sind, müssen sich die Eltern selber um die Betreuung ihrer Kinder kümmern.

1. Oktober 2013: Laura geht wieder arbeiten. Morgens und abends geht es noch wilder zu und her – zwei Kinder anziehen, füttern und ins Tagi chauffieren. Philipp pendelt weiter nach Zürich.

Zeitsprung zum Februar 2015: Läck, wie die Zeit vergeht. Mia ist jetzt vier Jahre alt, sie kommt im August in den Kindergarten. Philipp und Laura melden sie für die Tagesstruktur an. Dort soll Mia nach dem Kindsgi Zmittag essen und den Nachmittag verbringen.

April 2015: Telefon aus dem Erziehungsdepartement: «Die Tagesstruktur ist ausgebucht. Sie müssen selber eine Lösung für Mia suchen.» Laura fragt: «In welchen Kindsgi kommt denn Mia? Dann suchen wir ein Tagi in der Nähe.» Antwort: «Das kann ich Ihnen nicht sagen, alle Eltern erfahren den Standort gleichzeitig im Mai.»

Der zweite Wutanfall

Laura sucht im Netz nach Angeboten für Kindsgikinder im Quartier. Sie sieht: Es gibt nebst der Tagesstruktur auch Mittagstische – manche sind nur über Mittag offen andere auch am Nachmittag. Dazu kommen diverse Tagis.

Mai 2015: Brief aus dem Erziehungsdepartement: Mia kommt in einen Kindergarten ganz in der Nähe des Bebbi-Tagis. Das ist ein Glück für Mia, sie kann ihren Tagiplatz weiterhin behalten und den Nachmittag in vertrauter Umgebung verbringen. Weniger toll ist das fürs Familienbudget: Das Tagi kostet dreimal mehr als die Betreuung in der Tagesstruktur.

August 2015: Erster Kindsgitag, juhee! Laura stockt gleichzeitig ihr Pensum von 60 auf 70 Prozent auf. Mehr Geld fürs Ausbildungskonto der Mädels.

Herbst 2016:  «Aaaaaaaah!» Erst kommt die Steuerveranlagung, dann ein Brief aus dem Tagi. Der Bescheid: keine Subventionen mehr. Der Grund: Lauras höheres Pensum. Was sie zusätzlich verdient, geht also gleich wieder für die Tagesbetreuung und Steuern drauf. Lauras Wutanfall dauert 20 Minuten. Dann tröstet sie sich mit der Altersrente: «Wenigstens spare ich mehr Pensionskassengelder an.»

Eltern, Kita, Grosseltern – die vielen Wechsel der Betreuungspersonen bringen Unruhe.

Betreuungslücke in den Ferien

März 2017: Sanna wird vier, die Eltern melden sie für einen Kindergarten mit Tagesstruktur an. Und Mia soll in die Schule kommen. Das Prozedere wiederholt sich: Anmeldung für ein Schulhaus mit Tagesstruktur. Es klappt, beide Kinder bekommen einen Platz.

Juli 2017: Philipp und Laura üben mit Sanna den weiten Weg in den Kindergarten mit dem Velo. Vor allem der Weg über die grosse Kreuzung ist gefährlich. Zwar gäbe es Kindergärten, die näher bei ihrer Wohnung wären, aber die haben keine Tagesstruktur. Das ist auch der Grund, dass Sanna nicht mit den Nachbarskindern in den Kindsgi kommt.

Mai 2018: Die Sommerferien stehen an. Dann ist nicht nur schulfrei, auch die Tagesstruktur hat sechs Wochen lang geschlossen. Laura und Philipp organisieren die Ferienbetreuung. Der Plan: Zwei Wochen verreisen sie als Familie. Zwei Wochen sind die Mädchen bei den Grosseltern. Zwei Wochen wollen sie die Kinder in Tagesferien (siehe Glossar) schicken. Dabei gibts zwei Probleme: Erstens, Mia will nicht. «Dort kenne ich gar niemanden.» Zweites Problem: Die Angebote sind schon ausgebucht.

Der dritte Wutanfall

«Aaah», der gemeinsame Wutanfall von Philipp und Laura dauert eine halbe Stunde. Dann treffen sie eine Entscheidung: Laura reduziert ihr Pensum auf 40 Prozent, Philipp stockt auf 100 Prozent auf. Wenn sie arbeitet, schauen die Grosseltern zu den Kindern. Damit ist das Betreuungsproblem auch in den Ferien gelöst. Finanziell macht es keinen grossen Unterschied, Laura verdient zwar weniger, zahlt dafür aber auch nichts mehr für die Betreuung.

Doch ist Laura glücklich damit? Und ist dieses Modell im Interesse von Wirtschaft und Gesellschaft? Laura zahlt weniger Rente ein und schmälert ihre Karrierechancen. Das kann im Fall einer Scheidung auch für Philipp zur Hypothek werden. So werden Kinder vom grössten Geschenk im Leben zu einem organisatorischen Albtraum.

Die News zum Thema

https://tageswoche.ch/politik/kanton-soll-betreuungs-chaos-beenden/

Glossar

Tagesheime (Kitas)

Tagesheime (Tagis/Kitas) können Kinder ab drei Monaten besuchen. Die Kleinen werden im Tagi ganztags betreut und verpflegt. Eltern können wählen, wie oft sie ihr Kind ins Tagi schicken möchten. Die Vollzeitbetreuung kostet bis zu 2200 Franken pro Monat und wird von den Eltern finanziert. Je nach Einkommen erhält man Subventionen vom Kanton. Der Tagi-Platz für das Kind wird in den meisten Fällen von der Fachstelle Tagesbetreuung vermittelt. Betrieben werden die Tagesheime von Privaten.

Tagesstrukturen 

Sobald das Kind in den  Kindergarten kommt, steht das Angebot der Tagesstrukturen der Primarschulen zur Verfügung. Tagesstrukturen ergänzen den regulären Unterricht über Mittag und nachmittags. Das Kind isst, spielt oder bastelt in der Tagesstruktur. Zudem erhält es Hilfe  bei den Hausaufgaben. Die Tagesstrukturen an der Primarstufe sind von Montag bis Freitag von 12 bis 18 Uhr geöffnet, an manchen Orten auch von 7 bis 8 Uhr. Wer sein Kind in eine Tagesstruktur schicken möchte, muss es für mindestens vier Module (acht Stunden) pro Woche und Schuljahr anmelden. Als Eltern bezahlt man Kostenbeiträge. Pro Angebotsstunde betragen diese 5.50 Franken. So kostet ein Mittagsmodul von 12.15 bis 14 Uhr mit Essen 14.65 Franken und ein langes Nachmittagsmodul von 15.45 bis 18 Uhr 12.40 Franken. In den Schulferien sind die Tagesstrukturen geschlossen. Tagesstrukturen werden vom Erziehungsdepartement selber oder von Institutionen wie den Robi-Spiel-Aktionen betrieben.

Mittagstische

Mittagstische richten sich an Kinder des Kindergartens und der Primarschule. Sie ergänzen den obligatorischen Unterricht über Mittag. Das Kind wird dort primär verpflegt. Einige Mittagstische bieten aber auch nachmittags Betreuung für Hausaufgaben an. Mittagstische werden von Institutionen im Auftrag des Erziehungsdepartements betrieben. Sie kosten pro Modul genauso viel wie Tagesstrukturen über Mittag: 14.65 Franken. Während der Schulferien sind die Mittagstische zu.

Tagesferien

14 Ferienwochen hat ein Kind pro Schuljahr. In dieser Zeit stehen die Tagesferien zur Verfügung. Tagesferien werden wochenweise gebucht und dauern jeweils von Montag bis Freitag. Sie widmen sich meistens einem Motto (Natur, Spiel, Sport). Kostenpunkt pro Woche inklusive Verpflegung: 200 Franken. Die Tagesferien werden von Einrichtungen wie den Robi-Spiel-Aktionen im Auftrag des Erziehungsdepartements durchgeführt – und sie sind meistens sehr schnell ausgebucht.

Nächster Artikel