Ahmad Mansour: «Die Handschlag-Debatte ist kein Luxusproblem»

Der arabisch-israelische Jugendarbeiter und Psychologe Ahmad Mansour erklärt, weshalb eine Debatte über die Radikalisierung Jugendlicher weder von Rechtspopulismus noch von Schönfärberei diktiert werden darf.

«Diese Jugendlichen kommen aus allen Schichten und Milieus. Der Versuch, von Versagern und sozial Benachteiligten zu sprechen, greift daher zu kurz und erklärt nicht die Komplexität der Ursachen.»

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Der arabisch-israelische Jugendarbeiter und Psychologe Ahmad Mansour erklärt, weshalb er als Muslim nicht als «Kuscheltier» unter Schutz stehen will. Er findet, dass eine Debatte über die Radikalisierung von Jugendlichen bitter nötig ist. Diese soll weder von Rechtspopulismus noch von Schönfärberei diktiert sein.

Der Psychologe, Jugendarbeiter und Buchautor Ahmad Mansour war am Montag zu Gast in Basel. Er wurde von der GGG Migration eingeladen: An der 4. Fachtagung Integration hielt er ein Referat über den Umgang mit radikalisierten Jugendlichen und die Propagandastrategien islamistischer Gruppen. Mansour ist arabischer Israeli und lebt seit 2004 in Berlin. Dort arbeitet er als Programmdirektor bei der European Foundation for Democracy. Zudem ist er bei Hayat tätig, einer Beratungsstelle für Deradikalisierung. Seine Schwerpunkte sind Präventions- und Aufklärungsarbeit beim Thema Islamismus und Antisemitismus sowie psychosoziale Fragen unter muslimischen Migranten. In seinem aktuellen Buch «Generation Allah» erklärt er, weshalb im Kampf gegen den religiösen Extremismus ein Umdenken erforderlich ist. Kürzlich wurde Ahmad Mansour mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis ausgezeichnet.

Herr Mansour, die Händedruck-Debatte von Therwil hat sowohl in der Region Basel wie auch international hohe Wellen geschlagen. Nun werden die beiden Schüler zum Handschlag gezwungen – unter Androhung einer Busse. Ist diese Massnahme adäquat oder eher kontraproduktiv?

Dieser Fall betrifft nicht nur die Schweiz, sondern ganz Europa. Er betrifft die Werte unserer Gesellschaft. Deshalb finde ich es gut, dass darüber eine Debatte stattfindet. Ob Strafen die richtige Lösung für solche Probleme sind, wage ich aber zu bezweifeln. Trotzdem muss diesen Leuten klar werden, dass die Handschlag-Debatte kein Luxusproblem ist. Es geht um grundlegende Prinzipien der Demokratie und der Gleichberechtigung – darum, dass die Frau als Sexobjekt wahrgenommen wird und nicht als Mensch oder Lehrerin.

Sie haben aber Zweifel am Zwang zum Handschlag.

Ich habe für diesen Fall kein anderes Konzept, das sinnvoller wäre. Die beiden Jugendlichen müssen aber verstehen, dass ihr Verhalten inakzeptabel ist. Da spielt Religionsfreiheit überhaupt keine Rolle. Da geht es um die Wahrnehmung von Menschen.

Oft wird argumentiert, dass gerade ein verordneter Säkularismus die Radikalisierung fördere. Wenn die Grenze bereits mit einer Handschlag-Verweigerung überschritten wird, ist es sehr einfach, in der extremistischen Szene als cool und rebellisch zu gelten.

Hier geht es nicht um eine Rebellion oder Trotzreaktion. Damit jemand dieses Verhalten an den Tag legt, benötigt er eine Ideologie. Das geschieht nicht einfach so von heute auf morgen, sondern hat einen Hintergrund: In der islamistischen – nicht nur in der salafistischen – Szene finden wir eine sehr ungleiche Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Die Art, wie wir mit Sexualität umgehen, wird abgewertet und verteufelt. Das ist der erste Schritt, unsere Gesellschaft abzulehnen, und das dürfen wir nicht akzeptieren. In meinem Buch «Generation Allah» habe ich viel über Zustände in den Schulen geschrieben. Es braucht dort Präventionsarbeit gegen Radikalisierung. Dabei stellt sich die Frage, welches Europa wir wollen: eines, das unsicher und unklar mit solchen Phänomenen umgeht, oder eines, das seine Werte verteidigt und die Jugendlichen für die demokratische Kultur gewinnen kann.

Der arabisch-israelische Psychologe Ahmad Mansour fordert mehr Extremismus-Prävention an den Schulen.

Einer der beiden Schüler von Therwil soll auf seiner Facebook-Seite ein IS-Video geteilt haben. Wie gehen Sie als Mitarbeiter der Beratungsstelle Hayat vor, wenn Sie einen Jugendlichen sehen, der so anfängt?

Damit man sich ein Bild von diesen Jugendlichen machen kann, braucht es viel mehr als bloss einen Facebook-Eintrag. Man muss herausfinden, welche Rhetorik und Argumentation einen jungen Menschen ansprechen, zu welchen Gruppierungen er Kontakt hat und wie er sich zu Hause benimmt. Natürlich kann so ein Video ein Signal sein. Ich bin aber nicht dafür, dass man deswegen in Panik gerät und die Menschen in Schubladen steckt. Es braucht aber professionelle Hilfe und Leute, die deradikalisierend wirken können, seien das Eltern, Lehrer oder Freunde. Wir müssen auch wegkommen von der Debatte über Sicherheit, Terrorismus und den IS – ich bin der Meinung, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Es handelt sich um Probleme, die wir nicht mit dem Sicherheitsapparat erledigen können. Die Lösung muss vor allem in der Pädagogik und der Sozialarbeit liegen.

Was treibt aber die jungen Leute zum Extremismus? Sie sagen, dieser ist sehr anstrengend und seelisch belastend: keiner Frau in die Augen schauen, um fünf Uhr morgens zum Gebet aufstehen und eine strikte Verbotsliste …

Manche Experten sagen, Rassismus und Diskriminierung treibe die Muslime in die Radikalisierung. Das spielt sicher eine Rolle, doch nicht die entscheidende. Es gibt auch psychologische, soziale und theologische Faktoren.

Zum Beispiel?

Ob Jugendliche nun in den Krieg ziehen oder hier missionieren: Sie finden die Ideologie attraktiv, weil sie ihnen eine Aufgabe gibt. Sie bekommen das Gefühl, zu einer Elite zu gehören. Sie sagen, sie seien «die Besseren». Die Jugendlichen fragen sich daher: Soll ich 1500 Euro im Monat verdienen oder bei der Schlacht aller Schlachten mitmachen? Ein österreichischer IS-Kämpfer schrieb im Internet Folgendes: «Es gibt zwei Arten von Menschen: solche, die Nachrichten lesen, und solche, die Nachrichten machen – wir machen Nachrichten.» Das ist Narzissmus. Er glaubt, für eine gute Sache zu kämpfen.

Was spielt sonst noch eine Rolle?

Sie bekommen klare Regeln im Alltag, können Verantwortung abgeben und erhalten eine Identität – jeder, der sie auf der Strasse sieht, weiss, dass sie nicht zu unserer Gesellschaft gehören wollen. Bei denjenigen, die ausreisen, spielen noch radikalere Tendenzen eine Rolle und die Sehnsucht nach Gewalt – eine psychopathische Persönlichkeitsstruktur. Hinzu kommt, dass man sich abgrenzen kann. Das macht den Islamismus attraktiv: Er jagt allen anderen Angst ein. Zudem sind Salafisten «die besseren Sozialarbeiter»: Sie gehen auf Jugendliche zu und nutzen das Internet geschickter als andere Muslime – geben Sie nur mal bei Google das Stichwort «Islam» ein und schauen Sie, welche Gruppen am aktivsten sind …

Haben all diese Faktoren überhaupt noch etwas mit Religion zu tun? Schliesslich sagen Sie, dass Jugendliche in einer Sinnkrise genauso gut von einer anderen Ideologie wie dem Rechtsextremismus abgeholt werden können.

Das hat viel mit Religion zu tun, allerdings nicht mit jedem Verständnis davon. Ich rede daher bewusst nicht von Islam, sondern von Islamverständnis. Wir müssen schauen, welche Inhalte die Radikalisierung begünstigen.

«Wir müssen auch weg von der Debatte über Sicherheit, Terrorismus und den IS – ich bin der Meinung, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist.»

Das Schlagwort Islamophobie wird auch vom Islamischen Zentralrat Schweiz (IZRS) gebraucht. Bei seiner Propaganda argumentiert dieser manchmal auch mit den Begriffen Rechtsstaat, Pluralismus und Toleranz.

Das ist hoch problematisch. Das sage ich aufgrund der Aussagen vom IZRS auf Facebook. Der Kampf gegen den Islamismus ist der Kampf gegen jeden, der in dieser Gesellschaft lebt und unsere Werte ablehnt. Der vielleicht demokratisch argumentiert und rhetorisch begabt ist und versucht, alles irgendwie mit unserer Verfassung zu erklären – aber immer mit dem Hintergedanken, die Gesellschaft abzuwerten. Der IS überspitzt Inhalte, wie sie leider auch bei vielen Islamisten, etwa beim IZRS, vorhanden sind. Daher müssen wir wachsam sein, um die jungen Menschen zu erreichen, bevor islamistische Gruppierungen das tun.

Der IZRS schafft es aber, sehr viel Lärm zu machen: Jede polemische Aussage kommt in die Schlagzeilen von «Blick» und «20 Minuten» und seine Vertreter werden in TV-Sendungen wie die «Arena» eingeladen.

Diese Gruppe repräsentiert nicht einmal die Minderheit der Muslime. Medien müssten verantwortungsbewusster sein und nicht nur diejenigen, die Krawall machen, sondern auch vernünftige muslimische Stimmen einladen. Auch eine innermuslimische Debatte ist nötig: Wir müssen in der Lage sein, ein Alternativangebot zu machen, um den Medien und den Menschen zu zeigen, dass wir unsere Religion auch so leben können, dass sie mit unserer Demokratie vereinbar ist. Doch so lange man sich nur an Einschaltquoten orientiert, gibt man Gruppierungen wie dem IZRS mehr Macht.

Ausser dem IZRS ist hier in der Region auch die Koran-Verteil-Aktion «Lies!» aktiv. Wie ordnen Sie diese Gruppe ein?

Ein grosser Teil der Menschen in Deutschland, die nach Syrien und Irak ausreisten, waren bei «Lies!» aktiv. Es geht dabei nicht nur um Missionierung, im Hintergrund wird Werbung für den IS gemacht. Deshalb muss man sich kritisch mit diesen Gruppen befassen. Ob man das allerdings verbieten kann oder soll, muss juristisch entschieden werden.

Eine weitere Debatte dreht sich um das Burkaverbot…

Das ist nicht einfach, aber ich wäre für ein Burkaverbot. Ich glaube, dass es problematisch ist, wenn Leute auf der Strasse unterwegs sind, ohne dass man ihre Identität kennt. So hat sich zum Beispiel ein Erzieher aus einer Berliner Kita bei mir gemeldet, weil Verschleierte ihre Kinder abholen und er nicht feststellen kann, ob es wirklich die Mütter sind.

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