Angriff der Empathie-Maschine

Virtual Reality verspricht Erlebnisse, wie sie nie dagewesen sind. Leider sind deren Folgen real. Ist die virtuelle Realität also wirklich so grossartig, wie alle behaupten? Eine reelle Auseinandersetzung.

So werden wir in Zukunft alle rumlaufen. ALLE! JA!

(Bild: Hansjörg Walter)

Virtual Reality verspricht Erlebnisse, wie sie nie dagewesen sind. Leider sind deren Folgen real. Ist die virtuelle Realität also wirklich so grossartig, wie alle behaupten? Eine reelle Auseinandersetzung.

Es ist 2015 und der amerikanische Künstler Chris Milk ist einem grossen Ding auf der Spur. «Dieses Medium kann die gegenseitige Wahrnehmung verändern», erklärt er in seinem Ted-Talk feierlich. Er redet von Virtual Reality, konkreter von einem Film aus einem syrischen Flüchtlingslager, in dem man dank 3D-Brille hautnah bei Sidra sein kann, einem 12-jährigen Mädchen, das seit eineinhalb Jahren im Camp wohnt. Mit dieser Technologie, so Milk, würde die Menschheit zu einer besseren werden: mitmenschlicher, empathischer, näher dran. Er redet von einer «Empathie-Maschine».

Es ist 2015, der Begriff Virtual Reality geistert rum, aber mehrheitlich in Gamer-Sphären, für den Rest der Welt ist diese Idee einfach noch zu abgefahren: Brille aufsetzen und ganz in eine neue, virtuelle Welt abtauchen? Und dazu noch in eine Welt, die uns als Menschen verändern soll? Freaky.

Ganz und gar nicht freakig scheint Milks Pionierarbeit knapp ein Jahr später: Mit HTC ViveOculus Rift von Facebook und Playstation VR lancieren gleich drei Hersteller 3D-Brillen für den Massenmarkt. Sie ermöglichen ein richtiges Abtauchen in die virtuelle Welt – ab sofort ist jeder nur einen (nicht ganz kostengünstigen) Schritt davon entfernt, sich so zu fühlen, als ob er mittendrin im Geschehen wäre.

Dass da nicht nur Gamer und Ideologen wie Chris Milk jauchzen, ist selbstredend: Kommunikationsunternehmen, Ärzte, Marketingunternehmen, Militärorganisationen – es gibt kaum eine Branche, die nicht mit neuen Ideen in diese magische Virtualität drängt. Wenn alles wahr wird, was sich diese Jungunternehmer und Forscher ausdenken, wird die virtuelle Realität unseren Alltag so radikal verändern, wie es das Smartphone getan hat.

Chatten auf Facebook war gestern

Hinter dieser grassierenden Euphorie steckt natürlich weit mehr als Technologie-Enthusiasmus. Für Facebook zum Beispiel ist seine (übrigens mit zwei Milliarden Dollar auch nicht ganz kostengünstige) neue Anschaffung namens Oculus Rift ein irrsinnig lukratives Geschäft. Menschen wollen sich vernetzen – mit dieser simplen Erkenntnis hat es das Unternehmen zum milliardenschweren Welterfolg geschafft. Und es will diesen Menschen jetzt mit Oculus Rift die Möglichkeit bieten, sich quasi vollkörperlich zu vernetzen – indem sie diese Brille aufsetzen und sich in virtuellen Räumen treffen können.

Auch unsere Swisscom will von den Möglichkeiten profitieren. Sie hat bereits ein Pilotprojekt aufgegleist, und zwar in der Augmented Reality. Die erweiterte Realität kann als kleine Schwester der virtuellen Realität betrachtet werden. Dabei taucht man nicht in eine andere Wirklichkeit ein, sondern pflanzt virtuelle Elemente an einen realen Ort.

Swisscom-Techniker etwa müssten bei Kundenbesuchen keine Bedienungsanleitungen mehr lesen, um ein Modem zu installieren, sondern könnten die Informationen als Anleitungsvideo auf einer Brille aufrufen. Amerikanische Firmen machen es vor.

Selbst profanes Möbelkaufen ist im Zeitalter der virtuellen Realität ein digitales Erlebnis: Bei Ikea kann man bereits mittels Augmented Reality seine Wohnung virtuell einrichten, bevor man die Möbel kauft. 

Revolutionärer denkt die Medizin: Ärzte erhoffen sich dank virtueller Realität noch mehr Leben retten zu können. Forscher an der Uni Basel haben erst gerade eine Technologie entwickelt, mit der Chirurgen ein virtuelles Modell ihres Patienten darstellen können. So können sie sich vor einer Operation jedes Blutgefäss, jeden Knochen anschauen und sich ein äusserst präzises Bild machen, bevor sie überhaupt das Skalpell ansetzen. 

Uni Basel machts möglich: Ärzte schneiden sich in der virtuellen Realität durch echte Patienten

Auch die Forensik ist voll dabei beim Virtual-Reality-Hype. Die Justiz hofft mit virtueller Realität pädosexuelle Täter besser erkennen zu können. Die Uni Basel arbeitet an einer entsprechenden Studie, in Kanada ist bereits eine Forschungsarbeit zum Thema erschienen.

Virtuelle Realität soll aber nicht nur dabei behilflich sein, Übeltäter zu schnappen, sondern auch jeden Menschen besser machen. Psychologische Experimente zeigen, dass das funktionieren könnte: Personen, die in immersiven Computerspielen die Figur eines freundlichen Superhelden spielten, waren nachher eher als andere bereit, jemandem beim Aufräumen zu helfen. 

Ganz klar: Je körperlicher die virtuelle Erfahrung, desto eindringlicher reagieren wir auf sie. Unser Körper verinnerlicht diese Erlebnisse, lernt aus ihnen. Psychologen machen sich das sogar zunutze, um Spinnenphobie oder Höhenangst zu therapieren.

Wer könnte all dies nicht wollen? Viele

Leben retten, Menschen verbessern, Verbrecher überführen: Die virtuelle Realität verspricht die reale Welt zu einem besseren Ort zu machen. Alles super also?

Natürlich nicht.

Es ist so, wie es immer ist, wenn es um neue Technologien geht: Während die einen euphorisch daran glauben, dass diese Technologie alles besser macht, gibt es auch die anderen, die davor warnen, dass wir nicht gerüstet sind, um mit den Veränderungen umzugehen.

Dabei ist es wohl kein Zufall, dass die Kritiker dieses neuen Mediums aus der Philosophie kommen – eine der wenigen Disziplinen, die nicht mithecheln muss im Wettbewerb darum, den Markt zu revolutionieren oder mit Innovation zu glänzen. Philosophen haben noch Zeit, nachzudenken und sich Sorgen zu machen. Zwei stechen heraus aus der breiten Masse der Kritiker: Michael Madary und Thomas Metzinger.

An erster Stelle: das Militär

Die beiden forschen an der Universität Mainz zu virtueller Realität und haben letztes Jahr eine Übersichtsstudie herausgegeben. Ihre Sorge: «Die virtuelle Realität könnte es möglich machen, Menschen auf neue und mächtige Arten mental zu manipulieren und sie dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern.» Politische, religiöse oder wirtschaftliche Kräfte könnten versuchen, so ihre Interessen durchzusetzen. Etwa, um zu töten.

So vermutet Madary: «Sehr wahrscheinlich stecken Militärorganisationen bereits heute viel Geld in die Entwicklung von virtuellen Kriegstechnologien.» Ein mögliches Szenario sei, dass man gar keine Soldaten mehr in den Kampf schicke, sondern nur noch Roboter – kontrolliert von Militärs, die in einem virtuellen Raum, der exakt dem Kriegsgebiet nachgebaut ist, «Krieg spielen».

Das klingt erstmal positiv: Je weniger Soldaten sterben, desto besser. Doch was ist mit der Zivilbevölkerung? Am Schluss bekämpfen Roboter Roboter, und die Einzigen, die dabei noch sterben, sind die Menschen, die im Kriegsgebiet leben. Die virtuelle Realität der Kriegsparteien überlagert ihre Wirklichkeit.

Noch perfidere Werbung

Ein weiteres Beispiel für den möglichen Missbrauch der Technik ist die Werbung. Bereits heute lässt die Firma Coca Cola ihren Santa Claus in virtueller Winterlandschaft herumfliegen. Das mag toll aussehen, hat aber eine ungemütliche Seite: 3D-Brillen zeigen uns nicht nur eine Traumwelt, sie vermessen dabei auch die reale Wirklichkeit – und zwar uns Menschen.



Völlig aus dem Häuschen: Oculus-Erfinder Palmer Luckey im Rift-Rausch.

Völlig aus dem Häuschen: Oculus-Erfinder Palmer Luckey im Rift-Rausch. (Bild: Hansjörg Walter)

So gibt es erste Versuche, mit 3D-Brillen unsere Augenbewegungen und Gesichtsausdrücke aufzunehmen und unsere Emotionen zu messen. «Firmen könnten so analysieren, wie wir auf verschiedene Produkte reagieren», sagt Madary. Die personalisierte Werbung würde so noch perfider und dem Kaufzwang zu widerstehen noch schwieriger.

Grosses Interesse an solchen persönlichen Informationen hätten auch Geheimdienste und andere Überwachungsmaschinerien. Wer die individuellen Bewegungsmerkmale einer gesuchten Person kennt, braucht keine Fingerabdrücke mehr, um sie zu identifizieren. 

Für Philosoph Madary ist deshalb klar: Einfach wild drauflosforschen und -entwickeln geht nicht. Er appelliert an Wirtschaft und Wissenschaft, über die Risiken der virtuellen Realität aufzuklären und die Konsequenzen der neuen Technologie besser zu erforschen.

Das gilt übrigens auch für die Game-Industrie. Warnungen vor den Folgen brutaler Computerspiele sind so alt wie die Games selber. Ernst nehmen sollte man sie trotzdem, gerade im Zusammenhang mit der virtuellen Realität, wie zwei Erfahrungsberichte zeigen.

Virtuelles Spiel mit echten Folgen

Eine blonde zierliche Frau befindet sich in einem dunklen Zimmer. Sie schaut um sich – ein paar umgeworfene Stühle, Blutspuren an der Wand. Hinter sich hört sie eine Tür quietschen, sie dreht sich um, ihr Pulsschlag erhöht sich. Da steht eine blutüberströmte Gestalt, sie kommt auf die Frau zu, sie … Ahhh!

Die Frau bricht wimmernd unter ihrem Headset zusammen.  

Die Frau hat soeben eine Demoversion des Horrorgames «Kitchen» des japanischen Videospiele-Entwicklers Capcom getestet. Nur: Mit echt erscheinender Umgebung kommen auch echte Ängste. Die blonde Frau ist kaum mehr zu beruhigen, fasst sich immer wieder an den Kopf, schluchzt. Es wird eine Weile dauern, bis sie sich beruhigt hat. 

Im Spiel vergewaltigt, im Leben verängstigt

Noch länger beschäftigt hat ein virtuelles Game-Erlebnis Kim Correas. Die Gamerin und Bloggerin erzählte im Mai 2014 im Internet-Podcast «TLDR» von einem Spiel namens «DayZ». Darin geht es ums nackte Überleben: «DayZ» kennt wenige Tabus, man darf andere Spieler kaltblütig ermorden, Gefangene wochenlang zwangsernähren oder vergewaltigen. Wo bei anderen Games ein Riegel geschoben wird, fängt bei «DayZ» das Spiel erst richtig an.

Correa spielt eine Frau und wird von zwei Typen verschleppt. Sie befehlen ihr erst, sich die Unterhose auszuziehen und erschiessen sie dann. Kurz bevor Correas Avatar stirbt, hört sie einen der Männer sagen: «Wie gut, dass ich auf Nekrophilie stehe.» Dann wird ihr Bildschirm schwarz.

Correa kann die beiden Männer aber weiterhin hören – und kriegt mit, wie sie ihren toten Avatar auf grausame Weise foltern und vergewaltigen. Darauf kann sie die Attacke nicht mehr vergessen. «Es macht mir Angst, dass Spieler andere quälen und foltern. Und nachher laut darüber lachen», schreibt sie in ihrem Blog.

Brauchen wir das alles?

Es stellt sich die Frage: Ist es moralisch akzeptabel, dass man in virtuellen Spielen vergewaltigen und morden darf? Ist es harmlos, wenn man Versuchspersonen in virtuelle Realitäten steckt, um sie zu therapieren oder zu analysieren? 

Nur weil eine Realität virtuell ist, ist sie nicht unwirklich. Im Gegenteil: Es handelt sich um eine quasi-echte Umgebung, in die man abtaucht, in der man körperlich agiert und reagiert. Die Technologie hat uns überholt, und wir springen ihr freudig hinterher, in der Hoffnung, in diesen neuen Welten neues Glück zu finden. 

Diese Hoffnung ist aber illusorisch. Die beste Realität bleibt immer noch die Realität. Alles andere ist eine Simulation. Und eine Simulation, egal, wie gut sie gemacht ist, bezieht sich immer auf das Original, sie entsteht nicht aus sich selbst. Das ist das Problem: Eine Simulation ist gelogen. Und wir wollen eine echte, eine wahre Welt.

Oder?

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Die TagesWoche wagt sich in die virtuelle Realität. Bisher erschienen im Schwerpunkt: 

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