«Auf dem Sofa sind noch die wenigsten gesund geworden»

Wer psychisch erkrankt, verliert in der Regel seinen Job – es müsste aber nicht so sein, sagt Niklas Baer. Der Psychologe über Strategien für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Wer psychisch erkrankt, verliert in der Regel seinen Job – es müsste aber nicht so sein, sagt Niklas Baer. Der Psychologe über Strategien für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Im Falle einer psychischen Erkrankung verlieren die meisten Betroffenen früher oder später ihren Arbeitsplatz. Dies ist für alle ein Ärgernis, vor allem aber für die Betroffenen selbst. Laut Niklas Baer von der Psychiatrie Baselland bräuchte es in manchen Fällen wenig, um einer Kündigung entgegenzuwirken: Eine frühere und bessere Kommunikation zwischen behandelnden Ärzten, Versicherungen und Arbeitgebern würde oft ausreichen. Im Rahmen einer von der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft organisierten Tagung am 30. Oktober sollen diese unterschiedlichen Parteien gemeinsam an einen Tisch gebracht werden, um neue Wege der Zusammenarbeit zu erarbeiten. Im Gespräch erklärt Baer, weshalb er diese Kommunikation für so wichtig hält.

Herr Baer, weshalb ist der Erhalt der Arbeitsplätze bei einer psychischen Erkrankung überhaupt so wichtig?

Niklas Baer: Zuerst einmal: Es gibt nachweislich wenig, was sich auf die psychische Gesundheit so positiv auswirkt wie Arbeit. Patienten, die arbeiten, werden schneller gesund, und je früher sie nach einer Erkrankung zum Arbeitsplatz zurückkehren, desto besser sind normalerweise die Chancen, den Arbeitsplatz zu behalten. Aber auch wirtschaftlich gesehen sollte der Erhalt der Arbeitsplätze gefördert werden. Denn es ist wesentlich schwieriger, jemanden mit einer psychischen Krankheit wieder in den Arbeitsalltag zu integrieren, wenn er einmal ganz den Anschluss verloren hat oder bereits eine IV-Rente bezieht.

Reproduzieren Sie da nicht gewisse Klischees aus dem Volksmund im Stil von «die sollen einmal richtig arbeiten, dann geht das schon wieder»?

Nein, psychisch Kranke sollen nicht «einmal richtig arbeiten», aber sie sollen wenn immer möglich mit den nötigen Anpassungen «weiter arbeiten». Wenn man zum Beispiel an einer schweren Depression oder an einer akuten Psychose leidet, kann und sollte man nicht arbeiten, sondern intensiv behandelt werden. Doch längere Krankschreibungen sind mit Vorsicht zu geniessen. Denn auf dem Sofa sind bis jetzt die wenigsten gesund geworden. Neben der Unterstützung ist ein wertschätzender Druck vonseiten der Arbeitgeber und Psychiater je nachdem auch sehr förderlich. Gerade psychisch Kranke, die oft wenig Selbstvertrauen und Versagensängste haben, zögern oft sehr lange, bevor sie sich wieder für arbeitsfähig halten.

«Längere Krankschreibungen sind mit Vorsicht zu geniessen.»

Bei der Tagung vom 30. Oktober geht es konkret um die Führung und Behandlung von Mitarbeitenden mit psychischen Problemen. Was war der Anstoss zu dieser Tagung?

Die OECD hat in ihrem kürzlichen Bericht über psychische Gesundheit und Beschäftigung in der Schweiz festgestellt, dass in einem besseren Kontakt zwischen Arbeitgeber und Psychiater ein sehr grosses Potenzial liegt. Das Thema ist wichtig, denn das Verhältnis von psychischer Erkrankung und Erwerbsfähigkeit hat sich gewandelt: Obwohl psychische Störungen in der Schweizer Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten nicht zugenommen haben, sind solche Erkrankungen immer häufiger Grund für Arbeitslosigkeit, verminderte Produktivität am Arbeitsplatz und Invalidität. Dieser Entwicklung muss entgegengewirkt werden – sie ist für alle betroffenen Parteien nicht erfreulich.

Was sind die Gründe für diesen Wandel?

Zum Teil sind die Arbeitgeber vielleicht weniger tolerant als früher. Auch der Wandel der Arbeitswelt mag eine Rolle spielen. Es hat aber nicht nur damit zu tun: Unser stark ausgebautes Behandlungs- und Sozialversicherungssystem wurde über längere Zeit dazu benutzt, «schwierige» oder nicht mehr voll leistungsfähige Personen abzuschieben. Die Schweiz wie auch andere Länder sind nun daran, diese negativen Entwicklungen zu korrigieren. Ein wesentliches Problem ist aber auch, dass die behandelnden Ärzte oft die Chance verpassen, die Arbeitgeber und die Case-Manager der Versicherung angemessen zu betreuen und somit einer Kündigung vorzubeugen.

Liegt hier Ihrer Meinung nach auch die Lösung des Problems?

Ja, ich sehe ein enormes Potenzial in der Zusammenarbeit zwischen Psychiatern und Arbeitgebern. In vielen Ländern ist diese mangelnde Zusammenarbeit ein Problem. In der Schweiz scheint mir das aber besonders wichtig, weil kein Land auch nur annähernd so viele psychiatrische Spezialisten hat wie wir. Forschungen aus Holland haben tatsächlich gezeigt, dass die Resultate besser sind, wenn die Arbeitgeber von den behandelnden Ärzten angemessen informiert und unterstützt werden.

«Unser stark ausgebautes Sozialversicherungssystem wurde über längere Zeit dazu benutzt, ‹schwierige› oder nicht mehr voll leistungsfähige Personen abzuschieben.»

Und diese Kommunikation scheitert wegen den Psychiatern?

Nein, auch die Arbeitgeber suchen diesen Kontakt zu selten und zu spät, oder die betreffenden Mitarbeiter wollen keinen solchen Kontakt. Ein grundlegendes Problem ist aber: Das Arbeitsverhältnis wird zu selten aktiv in die Behandlung miteinbezogen. Obwohl die Psychiater theoretisch wissen, wie wichtig Arbeit für die psychische Gesundheit sein kann, werden psychische Erkrankungen oft wie losgelöst vom Arbeitsalltag behandelt. Dabei liegt der Fokus oft zu Unrecht auf der gesundheitsschädlichen Wirkung und der psychosozialen Belastung durch Arbeit: Auch Vorurteilen gegenüber Arbeitgebern, etwa, dass sie psychisch beeinträchtigte Mitarbeiter rausmobben würden, begegnet man immer wieder. Behandlung ist zwar wichtig, aber auch eine gute Behandlung alleine reicht nicht, psychisch bedingte Arbeitsprobleme zu lösen. Es braucht einen Link zwischen Behandlung und Arbeit.

Weshalb haben viele Psychiater denn dieses – Ihrer Meinung nach – einseitige Bild?

Das gilt nicht nur für die Psychiater, sondern für alle Beteiligten und hat wahrscheinlich viel damit zu tun, dass eben der direkte Kontakt zu den Arbeitgebern fehlt. Dann nimmt man die Schilderungen der Patienten eher für bare Münze. Umgekehrt haben auch viele Arbeitgeber oder Versicherungen klischeehafte Vorstellungen von Psychiatern. Bei psychisch Kranken kann es sein, dass diese wenig Einsicht in ihr eigenes, manchmal schwieriges Verhalten haben. Ihre Schilderungen von sich selbst als Opfer («Mobbing») und den Arbeitgebern als Täter sind manchmal einseitig. Gerade auch deshalb sollten Psychiater das Gespräch mit den Arbeitgebern suchen, um selbst die Situation besser einschätzen zu können und beide Seiten miteinzubeziehen.

Ist Mobbing wirklich ein Vorurteil?

Nein, das gibt es, aber es ist nicht das Hauptproblem, und oft ist es auch kein Mobbing, sondern eine ungeschickte Reaktion einer überforderten Umgebung auf reale Belastungen. Tatsächlich kommt es in den meisten Fällen, wenn ein Mitarbeiter psychisch erkrankt und die Arbeitsumgebung stark belastet, früher oder später zu einer Kündigung von einer der beiden Seiten. Doch dieser unglückliche Ausgang hängt oft gerade damit zusammen, dass die Kommunikation ungenügend war zwischen Arbeitgebern, Psychiatern, Case-Managern und Patient. Mit bösem Willen haben solche Kündigungen selten etwas zu tun. Wenn man mit jemandem in einem langjährigen Arbeitsverhältnis steht, entsteht eine Beziehung. Diese aufrechtzuerhalten liegt auch im Interesse der Arbeitgeber. Das sind ja auch Menschen.

Aber trotzdem kommt es in den meisten Fällen schliesslich zu einer Kündigung.

Das ist oft Ausdruck einer tiefen Überforderung der Arbeitgeber. Niemand sagt ihnen, was genau mit ihrem Mitarbeiter passiert. Es ist tatsächlich eine grosse Herausforderung, psychisch bedingte Krankheiten am Arbeitsplatz zu managen und es ist für sie schwer, die Krankheit einzuordnen.

Hat dies auch mit der Kommunikation der Betroffenen zu tun, die sich etwa schämen oder Angst haben?

Oft gehen die Betroffenen tatsächlich viel weniger offen mit einer derartigen Erkrankung um, als wenn sie etwa einen gebrochenen Arm haben – die Angst vor Stigmatisierung, Mobbing oder gar davor, den Arbeitsplatz zu verlieren, ist gross. Hier könnten eben die Behandelnden vermehrt in die Bresche springen und die Patienten sowie die Arbeitgeber zu einer offenen Kommunikation ermutigen, anstatt die Fronten zu verhärten. Aber auch die Arbeitgeber sind gefordert, zum Beispiel sollten sie früher externe Hilfe zuziehen oder den Mitarbeiter auffordern, sich in Behandlung zu begeben. Bei Alkoholproblemen wird das ja häufig gemacht, bei allen anderen psychischen Problemen aber kaum.

«Die Betroffenen gehen viel weniger offen mit psychischen Erkrankung um, als wenn sie etwa einen gebrochenen Arm haben – aus Angst vor Stigmatisierung.»

Gibt es da nicht auch Widerstand vonseiten der Patienten?

Zum Teil schon. Das hängt sicher auch damit zusammen, auf welche Art die Option, die Arbeitgeber in den Behandlungsprozess miteinzubeziehen, dargelegt wird. Nicht selten sind Patienten auch erleichtert, wenn jemand in ihrem Sinn vermittelt. Aber wenn ein Patient dies nicht will, kann nichts gemacht werden.

In einem Beitrag in der TagesWoche hat der Psychiater Piet Westdijk den Fall einer Krankgeschriebenen geschildert und dafür plädiert, dass für solche Patienten das bedingungslose Grundeinkommen ein Segen wäre. Wie wichtig ist der finanzielle Aspekt?

Finanzielle Anreize spielen generell eine wichtige Rolle, und ich spreche hier nicht von Versicherungsbetrügern oder so. Finanzielle Anreize wirken sich auf unser Handeln aus. Und sie können je nachdem förderlich sein, damit Betroffene wieder zu arbeiten beginnen. In Ländern mit relativ grosszügigen Ersatzzahlungen bei Krankheit sind auch die Absenzen häufig. Dasselbe Problem gibt es, wenn IV-Renten und Ergänzungsleistungen höher sind als das zu erwartende Erwerbseinkommen. Arbeit muss sich immer noch lohnen. Von einem rehabilitativen Standpunkt her gesehen finde ich solche Ideen gefährlich und asozial. Viel sozialer finde ich, wenn wir uns mit «schwierigen» Personen auseinandersetzen und wo nötig halt auch mit Druck uns dafür einsetzen, dass sie unter uns bleiben.

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