Basler Staatsrechtlerin: «Keiner weiss, was das für Werte sein sollen»

Judith Wyttenbach kann mit dem Baselbieter Handschlag-Gesetz wenig anfangen. Die Staatsrechtlerin kritisiert die Meldepflicht bei Integrationsdefiziten und den diffusen Gesetzestext. Das neue Gesetz sei unnötig, sagt Wyttenbach.

«Wir wissen alle, dass sich Jugendliche in diesem Alter hin und wieder widersetzen»: Rechtsprofessorin Judith Wyttenbach erkennt in der «Lex Therwil» eine Überreaktion.

(Bild: zVg)

Judith Wyttenbach kann mit dem Baselbieter Handschlag-Gesetz wenig anfangen. Die Staatsrechtlerin kritisiert die Meldepflicht bei Integrationsdefiziten und den diffusen Gesetzestext. Das neue Gesetz sei unnötig, sagt Wyttenbach.

Frau Wyttenbach*, gehört die Händedruckpflicht ins Gesetz?

Der kantonale Gesetzgeber kann die Verhaltenspflichten der Schülerinnen und Schüler konkretisieren, dies ist grundsätzlich zulässig. Eine andere Frage ist hingegen, wie weit dies hier auch notwendig und sinnvoll ist. Die neuen Gesetzesartikel reagieren auf einen spezifischen Einzelfall, dabei sind disziplinarische Probleme eine ganz allgemeine Thematik an Schulen. Das ist kein idealer Ausgangspunkt. Es ist klar, dass sich alle Schüler an die Regeln halten müssen, um einen geordneten Schulbetrieb zu ermöglichen. Die bestehende Gesetzgebung reicht meines Erachtens aus, um dies zu gewährleisten. 

 Was halten Sie davon, gegen Verstösse gegen «hiesige Werte» disziplinarisch vorzugehen?

Die Formulierung «hiesige Werte» ist in einem Gesetzestext wenig sinnvoll, weil keiner weiss, was das für Werte sein sollen. Was heisst «hiesig»? Warum muss das «hiesig» gleich mehrfach im Text betont werden? Vermutlich sind einfach höfliche und respektvolle Umgangsformen gemeint. Dann sollte man dies so benennen. Wir wissen alle, dass sich Jugendliche in diesem Alter hin und wieder widersetzen und Grenzen ausloten.

«Die Einhaltung der Regeln durfte im betreffenden Fall bereits heute eingefordert werden – meines Erachtens zu Recht.»

Hinter dem neuen Gesetz steht auch der Wunsch nach Klarheit. Offenbar fühlen sich Lehrer und Schulleitungen mit Situationen wie dem verweigerten Handschlag überfordert.

Ich verstehe das Bedürfnis der Schulbehörden sehr gut. Allerdings durfte die Einhaltung der Regeln im betreffenden Fall bereits heute eingefordert werden, meines Erachtens zu Recht (dazu gibt es sogar ein Rechtsgutachten). Man nennt jetzt hier im Gesetz explizit den einen spezifischen Vorgang, nämlich den Handschlag, und die Gesetzesänderungen knüpfen an eine ganz bestimmte Schülergruppe an, nämlich jene, bei welchen ein sogenanntes Integrationsdefizit identifiziert wird. Aber es gibt im Bereich des Schülerfehlverhaltens natürlich viele weitere Konstellationen, die jetzt nicht so explizit und partikulär im Gesetz erwähnt sind wie der Handschlag.

Die Baselbieter Bildungsdirektorin Monica Gschwind erhofft sich «eine Signalwirkung» vom neuen Gesetz. Ist es letztlich Symbolpolitik?

Ob die geänderte Gesetzgebung tatsächlich einen Mehrwert gegenüber heute bringt, ist wie gesagt fraglich. Schauen Sie sich den neuen Artikel in der Baselbieter Kantonsverfassung an, der besagt, dass «weltanschauliche Auffassungen und religiöse Vorschriften nicht von der Erfüllung bürgerlicher Pflichten entbinden». Dieser Artikel ändert nichts an der Pflicht zur Einzelfallgerechtigkeit und damit zur Einzelfallprüfung. Beschwerdeführer werden sich auch künftig auf die Religionsfreiheit oder das Diskriminierungsverbot berufen können. Und das Bundesgericht wird bei der Abwägung weiterhin sorgfältig prüfen, ob es sich aus verfassungsrechtlichen Gründen rechtfertigt, eine Ausnahme von einer schulgesetzlichen Pflicht zu machen. Tatsächlich auswirken würde sich hingegen die Kostenbeteiligungspflicht von Eltern bei disziplinarischen Massnahmen.

Erzählen Sie.

Künftig sollen Eltern die Kosten auferlegt werden können, wenn im Rahmen von Disziplinarmassnahmen der Besuch besonderer Kurse ausserhalb des Unterrichts notwendig ist. Eine solche Kostenauferlegung ist von vornherein nur zulässig, soweit es tatsächlich um die Behebung von disziplinarischen Problemen im engeren Sinne geht. Nicht zulässig wäre sie etwa, wenn es um die Kompensation von Bildungsrückständen geht, die unter den Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht fallen. Zudem wird man auf eine rechtsgleiche Anwendung achten müssen. Die Kostenauferlegung darf nicht gezielt nur ausländische Familien treffen, sondern muss sich an der konkreten Situation sämtlicher Schüler orientieren, bei welchen sich entsprechend schwerwiegende disziplinarische Probleme ergeben.

«Eine Meldepflicht an die Migrationsbehörden kann die Schulen in eine seltsame Situation bringen.»

Wie bewerten Sie die Meldepflicht, wonach Schulen sofort bei den Ausländerbehörden Alarm schlagen müssen, wenn sie Integrationsdefizite feststellen?

Die Aufgabe der Schule ist es, den Schülerinnen und Schülern Bildung zu vermitteln und bei schulischen Problemen zu reagieren. Indem die Schule eine offene Haltung gegenüber Kindern mit unterschiedlichem Hintergrund einnimmt, gleichzeitig aber auch Regeln der sozialen Interaktion vermittelt, wirkt sie auch in einem hohen Mass integrierend, und zwar nicht nur in Bezug auf Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund, sondern ganz generell, in Bezug auf alle Kinder. Die Schule soll, wenn es zu Konflikten kommt, die Eltern einbeziehen, je nach Situation externe Fachbehörden kontaktieren und disziplinarische Massnahmen aussprechen. Immer stehen dabei die Grundschulbildung, das Kindeswohl und der geordnete Schulbetrieb im Vordergrund. Eine Meldepflicht an die Migrationsbehörden kann die Schulen in eine seltsame Situation bringen, zumal sie sowohl zu den Schülern wie den Eltern ein Vertrauensverhältnis aufbauen sollten.

Wie angreifbar ist das neue Gesetz vor Bundesgericht?

Ich denke nicht, dass das Bundesgericht ein Problem mit dem Gesetz hätte. Es würde wahrscheinlich argumentieren, es sei verfassungskonform umsetzbar.

Judith Wyttenbach ist Professorin für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern. Die gebürtige Baslerin ist zudem Mitglied im Direktorium des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte. Wyttenbach hat sich vertieft mit dem Spannungsfeld zwischen Staat, Familie und Religion sowie Fragen der Frauendiskriminierung und Integration befasst.

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