Das Sammeln, Aus- und Bewerten von Daten spielt im Fussball eine immer grössere Rolle. Die Theoretiker glauben, dass sie mit dem vermessenen Spiel und dem gläsernen Spieler sogar neue Erfolgsformeln entwickeln können. Ein Blick in die Branche und auf ihre Thesen.
Big Data ist in aller Munde. In der Industrie, Logistik oder Medizin. Und Daten spielen auch im Sport eine immer wichtigere Rolle. Big Data ist längst im Fussball angekommen. Mit modernster Technik wird heute jede Spielsequenz aufgezeichnet. Die Laufleistung eines Spielers, seine Zweikampfwerte, Passgenauigkeit und vieles mehr. Statistiken gab es früher schon in der Zeitung. Doch mit jedem Spieltag wird die Menge der Daten grösser – und damit auch die Unübersichtlichkeit.
Einen ganzen Strauss an technischen Hilfsmitteln nutzt der FC Basel inzwischen. Vier zum Teil kostspielige High-Tech-Systeme und dazu ein Online-Dienst für den Bezug von Spielbildern weltweit und Videosequenzen über einzelne Spieler.
» Zum ganzen Beitrag
Analytikunternehmen wie «Prozone» oder «Opta Sports» aus Grossbritannien haben sich auf die Auswertung von Fussballdaten spezialisiert. «Prozone» mit Hauptsitz in Leeds hat eine Player-Tracking-Software entwickelt, die gespeist aus acht Kameras eine zweidimensionale Animation des Fussballspiels erstellt. Die hochkomplexe Maschine kann jede Spielerbewegung binnen Sekundenbruchteilen verfolgen und registriert pro Spiel rund 3000 Ballereignisse.
«Es gibt zwei Arten von Daten: Ballereignisse und physische Daten», erklärt Chris Anderson, Statistikexperte und Co-Autor des Buchs «The Numbers Game: Why Everything You Know About Football Is Wrong». «Physische Daten betreffen den Raum, etwa den Abstand einer Viererkette zum Ball», so Anderson, «Ballereignisse sind einfacher zu messen: Pässe, Schusswinkel.»
Der gebürtige Rheinländer ist Politikprofessor an der Cornell University im US-Bundesstaat New York, beschäftigt sich seit Jahren mit Fussballdaten und erklärt: «Man muss sich das so vorstellen: Drei Leute sitzen an Bildschirmen, sie sehen das Spielfeld. Dann wird eine Software darüber gelegt, man klickt auf Punkte, der Rest läuft automatisiert.»
Wenger und Lobanowski – Vorreiter der Daten-Sicht
Datenanalyse war einst etwas für Nerds und Fussballprofessoren, eine Disziplin, die eher mit Sportarten wie Basketball oder Baseball verbunden wurde. Daten im Fussball? Damit wurde man müde belächelt. Der Fussballlehrer Arsène Wenger gilt als einer der Pioniere. Der Elsässer, der ein Diplom in Ökonomie besitzt, erkannte früh den Nutzen von Statistik.
Wenger (Spitzname: «der Professor») arbeitet akribisch mit Sportdaten. Entsprechend strukturiert kommt das Spiel von Wenger-Teams daher. Zu seiner Zeit bei der AS Monaco nutzte er ein Computerprogramm namens «Top Score», das ein Freund für ihn entwickelte. Bei Arsenal London bedeutete Wenger seinem Stürmer Dennis Bergkamp, dass er nach 70 Minuten langsamer rannte – und nahm ihn vom Feld.
Der legendäre Walerij Lobanowski, der von 1974 bis 1990 Dynamo Kiew coachte und als Lehrmeister des Ostens gilt, hatte eine mathematische Vorstellung vom Spiel. Ein Team, das nicht mehr als 18 Prozent Fehler mache, sei unschlagbar, lautete sein Leitsatz. Alte Sowjet-Schule traf auf moderne Spielphilosophie.
Englische Clubs reissen sich um die besten Analytiker
Heute nutzen 19 von 20 Teams der Premier League die Software-Tools von «Prozone». Das Unternehmen sucht in riesigen Datenmengen nach Mustern und Strukturen und liefert auf dieser Grundlage mannigfaltige Grafiken. Rote Planquadrate markieren die Stellen auf dem Rasen, auf denen ein Spieler besonders aktiv ist.
Das Unternehmen «Prozone» demonstriert bei einem Seminar in London im April 2015 den Stand ihrer Technik:
Die Laufleistung von Wayne Rooney sieht aus wie ein Spaghetti-Knäuel. Pfeile zeigen die Sprintgeschwindigkeit in verschiedenen Farben. Die Spieler werden mit solchen Analysen gebrieft. Wer heute Fussballprofi ist, braucht fast schon eine Einführung in die Statistik. Im Fussball macht sich eine neue Daten- und Detailversessenheit breit, und die Topklubs reissen sich um die besten Statistiker.
In dem Sportdrama «Die Kunst zu gewinnen – Moneyball» spielt Brad Pitt den Baseball-Manager Billy Beane, der einen jungen Programmierer engagiert, um mit einem computergestützten Statistikverfahren die besten Spieler zu finden. Die Strategie geht auf, das Team eilt von Erfolg zu Erfolg, doch das entscheidende Spiel geht verloren.
Kann man sich mit Software Erfolg kaufen?
Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit: Im Jahr 2002 gelingt den Oakland Athletics, einem mittelmässigen Baseball-Team, eine historische Siegesserie. Sie gewinnen 20 Spiele in Folge, was in 100 Jahren noch keiner Mannschaft gelungen war. «Moneyball» war der Sportfilm der Stunde. Die übergreifende Frage war: Kann man mit intelligenter Software Erfolg kaufen?
Trailer zum Kinofilm «Die Kunst zu gewinnen – Moneyball» mit Brad Pitt:
Diese Frage ging auch dem ehemaligen Fussballprofi und Trainer Sam Allardyce durch den Kopf. Weil er bei seinem neuen Club Bolton Wanderers nicht genügend Geld für neue Spieler hatte, engagierte er kurzerhand ein paar Statistiker. Ein ungewöhnlicher Schritt. Zusammen mit Gavin Fleig und David Fallows, einem ehemaligen «Prozone»-Analysten, feilte er an einem geheimen Plan, den sie «The Fantastic Four» nannten. Vier Bereiche würden den Erfolg determinieren.
Sie wussten, dass sie bei 38 Liga-Spielen in mindestens 16 Spielen ohne Gegentor bleiben müssten, um die Relegation zu verhindern. Wenn sie das erste Tor schössen, besässen sie eine 70-prozentige Chance, das Spiel zu gewinnen. Sie wussten, dass ein Drittel der Tore aus Standards resultierte und nach innen gezogene Flanken erfolgreicher sind. Und sie fanden heraus, dass eine Mannschaft zu 80 Prozent nicht verlieren würde, wenn die Spieler mit einem Durchschnittstempo von 5,5 Metern pro Sekunde unterwegs sind.
Das klingt sehr theoretisch, doch das Wissen wurde in die Praxis umgesetzt. «Big Sam» wies seine Mannen unter anderem an, Einwürfe tief ins Feld zu platzieren. Die Strategie ging auf: Zwischen 2003 und 2007 landete Bolton stets unter den besten Acht und qualifizierte sich zweimal für den Uefa-Cup. Und das, obwohl die Mannschaft vom Kader her schwächer war als die Konkurrenz.
Eine These: Der Zufall im Fussball macht Analyse umso wichtiger
Heute gilt Manchester City in der Premier League als einer der Vorreiter in Sachen Datenanalyse. Der Mastermind ist Gavin Fleig, ein Schüler Allardyces. Zehn Statistiker arbeiten unter seiner Ägide und werten Daten aus und fahnden in neonbeleuchteten Büros nach der entscheidenden Siegformel.
Daten im Netz – Manchester City und Opta Sports teilen ein paar ihrer Erkenntnisse mit der Öffentlichkeit. Hier geht es zur interaktiven Grafik.
Inzwischen verantwortet Simon Wilson den Bereich «Performance Analysis». Unter 50 Variablen fischen die Fussballforscher diejenigen heraus, die zum Stil der Mannschaft passen. Pedro Marques, ein Analyst, sagte dem Magazin «Wired»: «Mit den richtigen Datenfeeds werden die Algorithmen eine Statistik ausgeben, die eine starke Korrelation mit Sieg oder Niederlage hat.»
Die Frage ist nur, ob man das Spiel so steuern kann. In ihrem Buch «The Numbers Game» argumentieren Anderson und David Sally, dass Fussball ein Zufallsspiel sei. Das bedeutet freilich nicht, dass alles dem Zufall überlassen ist. Die Outcomes lassen sich beeinflussen. Der Zufall, der dem Fussball inhärent ist, macht Analysen umso wichtiger – und wertvoller.
Die neuen Erkenntnisse der Datengurus
Analytiker glaubten lange, dass die Distanz, die ein Spieler zurücklegt, ein valider Indikator für die Leistung eines Spielers ist. Und dass Ballbesitz positiv mit Siegen korreliert. Nicht erst, seit Bayern München im Halbfinal der Champions League gegen Real Madrid trotz 72 Prozent der Spielanteile mit 0:1 verlor, weiss man, dass Ballbesitz nicht alles ist. Das Hin- und Herschieben des Balles ist kein Selbstzweck.
Die Datengurus sind längst einen Schritt weiter und haben ihre Beobachtungen verfeinert. Sie wissen, dass die Sprintdistanz eine gute Leistung indiziert und der Ballbesitz im letzten Drittel, vor dem gegnerischen Tor relevant ist. Die Leistung eines Spielers darf zudem nicht isoliert betrachtet werden. Ein Lionel Messi kann gute Statistiken haben, aber wenn es dem Gegner gelingt, ihn aus dem Spiel zu nehmen, lässt sich aus den Zahlen wenig ableiten.
Ist ein verhindertes Tor mehr wert als ein erzieltes?
«Die Fussballwissenschaft ist noch eine relativ junge Wissenschaft», sagt Anderson. Die meisten Elemente des Spiels können nicht quantifiziert werden. Den Angriff zu messen ist zwar kein Problem: Pässe, Torschüsse, Flanken, Sprints. Wichtiger erscheint jedoch das Abwehrverhalten.
Andersson und Sally fanden heraus, dass die Verteidigung entscheidend ist. Ein Tor ist im Durchschnitt einen Punkt wert, ein verhindertes Tor dagegen 2,5 Punkte. Wer seinen Kasten sauber hält, gewinnt am Ende meist. Obwohl man auch hier Anhaltspunkte hat wie etwa Zweikampfwerte oder Ballgewinne, liegt das Essenzielle der Verteidigung abseits des Balls: Stellungsspiel, das Zustellen von Räumen oder Verschieben von Positionen.
Doch wie will man das messen? Paolo Maldini führte wenig Tacklings, weil er klug im Raum stand. Die Herausforderung besteht darin, das zu erfassen, was nicht stattfindet. Sogenannte Non-Events.
Der nächste Schritt: Die Virtual-Reality-Brille
Ingenieure der Firma «Triple IT» haben eine App für die Virtual-Reality-Brille entwickelt, eine Datenbrille von «Oculus Rift», die mithilfe von Stadionkameras aus verschiedenen Blickwinkeln das Spiel rekonstruiert. Der Spieler schnallt sich die futuristische VR-Brille um den Kopf und kann das Spiel in 3D Revue passieren lassen. Entweder aus der eigenen Perspektive im Match, oder – noch spektakulärer – aus der Perspektive seines Mitspielers.
«Beyond Sports» heisst das Produkt der Firma Triple IT – mit der Software können Spieler Situationen in 3D nachvollziehen:
So können Spielsituationen multiperspektivisch analysiert werden. Warum passte der Mitspieler vor dem Tor nicht? Warum machte der Verteidiger die Räume nicht zu? Die Trainer können so Spielsituationen besser nachvollziehen – auch Non-Events.
Der niederländische Nationalcoach Louis van Gaal war von der Technik so begeistert, dass er sie bei der Vorbereitung auf die Fussball-WM einsetzte. Auch Ajax Amsterdam und der PSV Eindhoven nutzen die Simulationssoftware.
Die Kulturtheoretiker und das digitalisierte Spiel
Die Frage ist, welchen Einfluss die Digitalisierung auf das Spiel selbst hat. Einerseits ist der Sport insgesamt dynamischer, schneller und athletischer geworden – und auch messbar. Aber ändert sich auch die Ästhetik? Der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit hat die These vom digitalisierten Fussball entwickelt. Wie der Strom zwischen Bits und Polen fliesst, zwischen Feldern und Punkten, so geht der Ball – dütt, dütt, dütt. Und möglichst so, dass er schon weiter gespielt ist, bevor der Verteidiger überhaupt denken kann.
Tiki-Taka ist in diesem Sinn die räumliche Verdichtung der Fussballmoderne. Feuilletonisten beklagen bisweilen, dass Fussball heute gar nicht mehr vom Playstation-Geschehen zu unterscheiden sei, wo Spieler mit ihren eigenen Avataren auftreten. Andere konstatieren einen Trend zur Uniformität, die dazu führe, dass sich der Fussball Handball oder Basketball angeglichen hat.
Beseelt von der Idee, den Sport mit Daten effizienter zu machen
Heute greifen Scouts auf die Mittel von Computerspielen zurück. Die Entwickler des berühmten Simulationsspiels «Fussballmanager», die «Developer Sports Interactive», haben jüngst eine Kooperation mit «Prozone» abgeschlossen. Die Scouts können auf die Datenbanken zugreifen. «Daten sind nichts anderes als systematische Information», sagt Anderson. Wer mehr weiss als der Konkurrent, hat einen Informationsvorsprung. Das ist im Fussball nicht anders als in der Wirtschaft. Welches sind die Toptalente? Welcher Leistungsträger befindet sich im Formtief?
Billy Beane, der legendäre Baseball-Manager aus dem Film «Moneyball», ist weiter von der Idee beseelt, dass Daten den Sport effizienter machen. In einem Gastbeitrag für das «Wall Street Journal» schrieb er im Juli 2014: «Wenn man erweiterte Leistungsdaten bis hin zum Juniorenbereich hat, ist es weniger wahrscheinlich, dass Spieler ausgefiltert werden.»
Algorithmen füttern: Das Bewegungsprofil des ehemaligen Bayern-Spielers Toni Kroos in einer Bundesligapartie.:
Der Sport, so Beanes These, wird nicht mehr länger die exklusive Domäne von Insidern sein. Manchester City stellte seine Datensätze zum Teil ins Netz. «Das Interessante ist», sagt Fussball-Professor Anderson, «dass Fans mehr Infos haben und Druck auf die Vereinsführung machen. Schlaue, pfiffige Fans wissen zum Teil mehr als die Vereinsführung.»
Die Skepsis der Fussball-Praktiker gegenüber der Technologie
Das mag erklären, warum sich die Datenanalyse noch nicht durchgesetzt hat. Anderson sieht ein politisches Problem: «In den Fussballvereinen sind meistens ehemalige Spieler im Management, die neuen Technologien skeptisch gegenüberstehen. Es ist die Angst vor dem Fortschritt.»
Daten sind «keine magische Formel», relativiert Anderson, sondern ein Instrument. Daten können helfen, Spiele zu gewinnen. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Datenanalyse durchsetzt.