Die dunkle Seite der Kirsche

Der Schweizer Bauer hat eine billige ausländische Arbeitskraft, die bei ihm viel mehr verdient als daheim. Klassische Win-win-Situation? So einfach ist es nicht. 

Kirschenpflücken ist ein Chrampf. Und ein heiss disktutiertes Politikum. 

Liest man die Reportage über den Hof von Stefan Ritter, dann denkt man: Alles gut. Er bezahlt, was er bezahlen soll, auch die Überstunden. Die Hilfskräfte aus Polen leben mit der Bauernfamilie unter einem Dach, essen am selben Tisch, sie können sich gut riechen. Klar, die Tage sind lang. Aber daran haben sich die Helfer gewöhnt.

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Auf dem Hof der Ritters scheint die Welt in Ordnung. Sonst hätte der Bauernverband beider Basel kaum den Kontakt zu diesen Bauern hergestellt. Schwieriger wäre es, auf Höfe zu kommen, auf denen sich die Bauern nicht an die Richtlinien oder das Gesetz halten. Doch es gibt genügend Beispiele, die zeigen: So wie bei Ritters läuft es nicht überall.

Zu wenig Lohn, zu wenige Freitage

Da ist der Fall des Slowaken Slavomir Cuchran, der laut «Blick» bei einem Bauern im Thurgau angestellt war. Statt auf dem Feld stand er jedoch hauptsächlich auf einer Baustelle des Bauern. Davon war in seinem Arbeitsvertrag aber nicht die Rede, obwohl im Baugewerbe andere Konditionen und Richtlöhne gelten und manchmal auch ein Gesamtarbeitsvertrag. Die Löhne bezahlte der Bauer zudem unregelmässig.

Zwei Rumänen auf einem Hof im Kanton Zürich wurden derweil die Überstunden nicht vergütet, wie der «Kassensturz» berichtete.  Auch strich ihnen der Bauer während der Chirsi-Ernte die Freitage. Laut dem landwirtschaftlichen Normalarbeitsvertrag für den Kanton Zürich haben die Hilfsarbeiter jedoch Anspruch auf eineinhalb Freitage pro Woche.

«Das sind Verhältnisse wie im Sklavenhandel. Unglaublich beschämend für unsere Schweiz.»

Mara Simonetta, Bauerngewerkschaft Abla

«Das sind Verhältnisse wie im Sklavenhandel. Unglaublich beschämend für unsere Schweiz», kommentierte Mara Simonetta von der Schweizer Bauerngewerkschaft Abla den Fall. Gegenüber SRF sagte Simonetta, selbst Bäuerin, dass sich pro Woche ein bis zwei Erntehelfer bei ihr wegen der schlechten Arbeitsbedingungen melden würden.

Die Abla setzt sich ein für kürzere Arbeitstage und höhere Löhne für Arbeitende in der Landwirtschaft. Auf dieses Jahr hin erreichte sie für Hilfsarbeiter bei den Richtlöhnen einen winzigen Zustupf von 25 Franken auf gesamt 3235 Franken brutto im Monat.

Aber ändert das wirklich etwas an der gesamthaft prekären Lage?

«Dieses Win-Win ist trügerisch»

Für Tina Bopp liegt das Problem viel tiefer. Im Rahmen ihrer Dissertation an der Uni Basel forscht sie zu transnationalen Arbeitsverhältnissen in der Landwirtschaft und ist Teil eines länderübergreifenden Forschungsprojekts. Dafür geht sie auf Bauernhöfe in der Schweiz und in Moldawien, spricht mit Branchenvertretern, Bauern, Landarbeiterinnen und ihren Familien.

«Ein bisschen mehr Lohn zu zahlen, reicht nicht. Wir müssen die strukturelle Ausbeutung als Ganzes verstehen und infrage stellen», sagt Bopp. «Billige ausländische Arbeitskräfte haben ihren Preis.» Bezahlen müssten diesen auch die Daheimgebliebenen. «Dieses Win-Win ist trügerisch.»

«Das Problem ist ein Wirtschaftssystem, das auf Konkurrenz und Wettbewerb ausgerichtet ist.»

Tina Bopp, Forscherin an der Uni Basel

Ein Beispiel: Ein Schweizer Bauer rekrutiert Arbeiterinnen und Arbeiter aus Polen. Die fehlen dann in ihrer Heimat. Also rekrutieren die Polen Menschen aus Moldawien. «Dann gibt es niemanden mehr, der noch ärmer dran ist, den man rekrutieren könnte. Irgendwo hört die Sorgekette auf.» Wer an ihrem Ende sitze, trage die geballte Last. In dieser Situation selbstbestimmt zu leben, eine Zukunftsperspektive zu entwickeln, ist laut Bopp sehr schwierig.

Zudem arbeiteten die ausländischen Hilfskräfte in der Schweiz nicht auf Augenhöhe. Auch leiden die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Heimat zum Teil massiv – dies zeigt auch eine Studie der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM) aus dem Jahr 2013. Das Leben als Arbeitsmigrant erfordert Hypermobilität. Menschen reisen durch ganz Europa, um Arbeit zu finden. Das zehrt mit den Jahren extrem an den Kräften.

Schuld sind nicht die Bauern

Natürlich verdienten die ausländischen Arbeitskräfte dafür ein Vielfaches von dem, was sie in der Heimat für die gleiche oder eine ähnliche Arbeit verdienen würden, sagt Tina Bopp. Doch «das Arbeitsverhältnis gibt es nur für einige Monate. Davon müssen die Menschen ein ganzes Jahr leben. Darüber redet niemand.» Es sei zudem «schlicht pure Ignoranz», in diesem Zusammenhang von Entwicklungshilfe zu sprechen. «Das in der Schweiz verdiente Geld ist meist die Bedingung, dass sich die Familie in der Heimat überhaupt das Mindeste leisten kann», sagt Bopp.

Die grosse Frage: Wer ist eigentlich schuld an dieser Situation?

«Das Problem ist ein Wirtschaftssystem, das auf Konkurrenz und Wettbewerb ausgerichtet ist. Den Bauern und Bäuerinnen wird diktiert, wie sie produzieren müssen, wie die Ware auszusehen hat, was sie unter Effizienz verstehen sollen.»  Profiteure seien die Supermärkte und die Verarbeitungsindustrie. «Und letztlich sind es Konzerne wie Syngenta oder Monsanto, die den Bauern teuer die für die Effizienz benötigte Infrastruktur verkaufen: das Saatgut, den Dünger, die Pestizide.» Rund 40 Prozent aller Schweizer Bauern leben laut Bopp am Existenzminimum.

Was wäre die Alternative?

Tina Bopp sieht es so: Es ist Zeit, dass die Gesellschaft Verantwortung übernimmt. «Wir müssen uns fragen, wieso es für uns selbstverständlich ist, dass andere für uns diese körperliche Schwerstarbeit übernehmen – und dafür kaum wertgeschätzt werden.» Die ultimative Lösung könne sie aber nicht geben. Es müsse ein «gemeinsamer Suchprozess» sein.

Eine Idee sei die solidarische Landwirtschaft. Sie kenne  Höfe in der Romandie und in der Deutschschweiz, die der Bevölkerung anbieten, einen halben Tag in der Woche bei ihnen zu arbeiten. Als Lohn gibt es gratis Gemüse und Obst. Und als weiteren Gewinn ein besseres Verständnis für Landwirtschaft und Natur.

Je mehr Beispiele es von alternativen Lebenskonzepten gebe, desto mehr Menschen würden dadurch inspiriert und motiviert. Der Wandel müsse von jedem Einzelnen ausgehen, findet Bopp. «Die Politik ist schuld, dass das heutige System aufrechterhalten wird. Von ihr können wir keine Veränderung erwarten.»

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