Das Auto biegt um die Kurve. Wir sind spät dran, entschleunigt von der schmalen Landstrasse, den wogenden Feldern, den Hügeln, die sich links und rechts von uns bücken wie grüne Riesen. «Wirklich schön hier», schwelgt der Dolmetscher, als er aus dem Autofenster blickt, hinab auf das Dorf.
Jetzt müssen wir Gas geben. Als wir in die Höhe schiessen, schliessen sich unsere Ohren. Ruhe. Die Ohren öffnen sich wieder. Immer noch Ruhe. Bis ein Traktor vorbeirumpelt. Bald sind wir da.
Bauer Ritter und seine Erntehelfer aus Polen
Unser Ziel ist der Bauernhof von Stefan Ritter in Buus. Der Empfang ist Sache des Nachwuchses: Sven, einjährig, weissblondes Haar, streckt uns seine dicken Fingerchen entgegen. Sabrina Ritter wippt ihn in ihren Armen auf und ab, entlockt ihm ein Glucksen.
Die Eingangstür zum Bauernhaus öffnet sich, die kleine Selina spienzelt durch den Spalt. «Willst du rauskommen? Dann zieh deine Schuhe an!», ruft Sabrina Ritter über die Schulter. Die Augen verschwinden wieder im Dunkel hinter der Tür. «Die Kleinen kommen auch schon mit aufs Feld», erzählt Sabrina Ritter und zeigt das Lächeln einer stolzen Mutter.
Um den kleinen Sven und seine Schwester soll es in dieser Geschichte nicht gehen. Sondern um Emilia und Wiktor*. Die beiden sind 20 Jahre jung und kommen aus Polen. Diesen Sommer sind sie zum ersten Mal in die Schweiz gereist, auf den Hof von Stefan Ritter. Mit wenigen Brocken Deutsch im Gepäck. Als landwirtschaftliche Hilfskräfte unterstützen sie den Schweizer Bauern in der strengsten Zeit des Jahres: der Ernte. Wir wollen von ihnen wissen, wie und wieso sie im tiefsten Baselbiet gelandet sind, wie sie essen, wo sie schlafen, wovon sie träumen.
Auch mit Stefan Ritter wollen wir sprechen. Nur – wo steckt er? «Er sollte jeden Moment hier sein», beschwichtigt seine Frau. Wenige Minuten später kommt ein Offroader angebraust. «Ihr müsst entschuldigen, es ist ein bisschen dreckig. Halt mein Arbeitswagen», sagt Stefan Ritter in kernigem Baselbieter Dialekt. Wir setzen uns ins Auto, und die Schuhe werden etwas brauner.
Ritter fährt los und bremst sogleich wieder. «Dobliibe, hesch ghört?», brüllt er aus dem offenen Autofenster. Hofhund Simba bleibt aufrecht am Strassenrand sitzen und hechelt. «Mal schauen, ob er gehorcht.»
Der Bauer zeigt uns sein 23 Hektare grosses Reich. Drei Hektare Chirsi, halb so viele Heidelbeeren, eine Hektare Zwetschgen und noch etwas Erdbeeren. Der Rest ist Ackerfläche und Grünland. Seit 2015 führt der 34-jährige Ritter den Hof, davor sein Vater, davor dessen Vater. «Wie weit es zurückreicht, kann ich gar nicht sagen. Aber mein Urgrossvater, der war auch schon hier, das weiss ich», erzählt er.
Der Bauer nimmt sich für uns Zeit, dabei hat er eigentlich gar keine. Die prallen Kirschen müssen von den Bäumen, die Heidelbeeren von den Sträuchern. Die Tage beginnen vor und enden nach sechs Uhr. Es wird gepflückt, sortiert, ausgeliefert und wieder gepflückt. Ausnahmezustand, wie jedes Jahr zur Chirsi-Ernte. Ausser letztes Jahr, als der Frost aus den üblichen 20’000 Kilo gerade einmal 300 gemacht hat.
Dieses Jahr gibts wieder genug zu tun. So viel, dass es Stefan Ritter niemals alleine schaffen könnte. Es helfen die Eltern, die unter demselben Dach leben, und eine Handvoll Freunde und Pensionierte aus der Nachbarschaft, die kommen, wenn sie Zeit haben.
Doch auch das reicht nicht, zumal die Arbeit am Körper nagt. Also holt sich Ritter ausländische Hilfsarbeiter auf seinen Hof, wie es schon sein Vater getan hat. Am liebsten habe er jemanden von April bis Oktober auf dem Feld, und ein bis zwei weitere für einige Monate während der Hochsaison. «Wir machen das seit sicher 25 Jahren. Bisher waren es eigentlich immer Polen.» Die ausländischen Arbeiter wohnen im selben Haus, im ausgebauten Estrich. Man wohnt, arbeitet und isst gemeinsam.
Ritter stoppt den Offroader zwischen Chirsibäumen und Treibhaus. Er zerrt an der Gangschaltung, sie knarrt widerwillig. «Ich fahre lieber etwas zurück, sonst bleiben wir noch im Schlamm stecken», sagt er grinsend. Am Eingang des Treibhauses schiebt er für uns das Netz auf. «Wegen der Kirschessigfliege», erklärt er. Die mache ihnen dieses Jahr die Hölle heiss.
Heiss ist es auch unter dem durchsichtigen Kunststoffdach. Hunderte Sträucher stehen in Reih und Glied in Töpfen, sind voll behängt mit dicken Heidelbeeren.
Das schüchterne Lächeln von Emilia
Mittendrin eine junge Frau. Sie bückt sich nach den Früchten, zupft sie einzeln von den Zweigen und wirft sie in den Weidenkorb, den sie sich an die Hüfte geschnallt hat. «Guten Tag», sagt sie leise und streckt uns ihre Hand entgegen. Die Fingernägel sind kurz, darunter ist es braun. Ihre Augen leuchten eisblau in der Sommersonne.
«Wie gehts?», fragt der Dolmetscher auf Polnisch. «Es ist ein guter Tag, so wie jeder Tag», antwortet Emilia, ebenfalls auf Polnisch und zeigt ein schüchternes Lächeln. Sie wird es das ganze Gespräch hindurch behalten.
«Emilia! Zvieri!», ruft Ritter Senior zwischen den Chirsibäumen hervor. Der Sohn hebt die Hände: «Das geht schon, sie kann auch später gehen.»
Seit fünf Uhr morgens ist Emilia auf den Beinen, um halb sechs ging es los: Zuerst Kirschen sortieren, dann Kirschen pflücken, dann Heidelbeeren pflücken. «Normalerweise arbeiten wir erst ab sieben Uhr. Aber jetzt gibt es mehr Arbeit», sagt Emilia.
Als sie in die Schweiz kam vor vier Wochen, sei sie unsicher gewesen, habe Angst gehabt, ob sie auf dem Hof klarkomme. Eigentlich sei sie studierte Kindererzieherin. Die Mutter habe sie schliesslich bestärkt. «Nur Mut!», habe sie gesagt. Also ist Emilia in die Schweiz gereist.
Wer kann, geht auf den Bau
Wie die junge Polin kommen Zehntausende Hilfskräfte aus dem Ausland auf die Schweizer Felder. Zwischen 25’000 und 35’000 sollen es jedes Jahr sein, schätzt der Schweizer Bauernverband. Laut einer Studie der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM) arbeiteten im August 2012 insgesamt rund 70’000 Ausländer mit einer L-Bewilligung in der Schweiz.
Mit diesem Schein können Menschen aus dem EU-27/Efta-Raum sowie aus Drittstaaten bis zu einem Jahr in der Schweiz arbeiten. Die meisten landen im Gastgewerbe, auf dem Bau – oder eben in der Landwirtschaft. Ergänzt werden sie durch sogenannte Meldepflichtige, die bis zu drei Monaten bleiben dürfen. Etwas mehr als 200’000 Personen waren das im gesamten Jahr 2012.
Ihre Cousine arbeite im benachbarten Maisprach, erzählt Emilia. Die habe sie an Stefan Ritter vermittelt. Viele aus der Gegend, aus der sie kommt – dem Bezirk Lublin, «tiefstes Land», wie sie sagt –, seien hier. «Es ist gang und gäbe bei uns, dass man ins Ausland geht. Es gibt zu wenig Arbeit bei uns. Man müsste in die Stadt ziehen, um etwas zu finden.»
Ein Drittel aller landwirtschaftlichen Hilfskräfte in der Schweiz mit einer L-Bewilligung stammten aus Osteuropa, schreibt die EKM in ihrer Studie. Die Landwirtschaft sei bislang beliebt bei den «‹neuen› Nationalitäten mit den tiefsten Ansprüchen an Verdienst und Arbeitsbedingungen». Wer könne, arbeite wegen der höheren Löhne auf dem Bau.
Emilia wiegt ihren Körper langsam hin und her, ihr Rücken streift die Sträucher. «Die Arbeit ist nicht so hart. Aber die Tage sind lang. Man gewöhnt sich dran.» Die Eltern in Polen hätten auch einen Hof. «Aber der ist viel kleiner, die Tage sind kürzer und es gibt weniger zu tun.»
3235 Franken bezahlt ihr Ritter im Monat, abzüglich Kost, Logis und Versicherung. Die zwei bis drei Überstunden am Tag, die Emilia während der Chirsi-Ernte zusätzlich zu ihrer 55-Stunden-Woche leistet, vergütet ihr Ritter mit einem Aufschlag von 25 Prozent. Er wisse, dass das viel Arbeit sei für relativ wenig Geld. Doch hält er sich damit an die Richtlinien, die der Schweizer Bauernverband und der Baselbieter Normalarbeitsvertrag für landwirtschaftliche Arbeitnehmer vorgeben.
Es ist immer dieselbe Frage, die an dieser Stelle auftaucht: Wieso Ausländer, wieso nicht Schweizer?
«Es gibt sicher Schweizer, die diese Arbeit machen würden», sagt Ritter. Aber es seien schlicht zu wenige. «Und wenn jemand 5000 Franken im Monat will, wirds schwierig für mich. Das kann ich nicht zahlen.»
Emilia wird zwei bis drei Monate in Buus bleiben. Mit dem Verdienst kann sie in ihrer Heimat ein halbes Jahr leben. «Das Geld ist für mich. Meine Mutter würde es niemals annehmen.»
Sie will, was alle wollen
Arbeit, Geld, Krise – es sind grosse, wichtige Themen, über die wir mit Emilia bisher gesprochen haben. Aber wie lebt Emilia in Buus, was tut sie in ihrer Freizeit, und will sie vielleicht in der Schweiz bleiben?
Sie könne es sich vorstellen, wiederzukommen. Sie habe es gut mit der Familie, «vor allem auch mit den Kindern». Das sei nicht selbstverständlich, sie habe von Bekannten auch schon schlechte Dinge gehört. «Man weiss nie, auf wen man trifft.»
«Ich will eine gute Arbeit finden, Kinder haben und in Ruhe und Frieden leben.»
Sie esse jeden Tag zusammen mit der Familie, wohne im selben Haus und ab und zu unternehme man am Sonntag gemeinsam etwas. Oder sie verbringe die wenige freie Zeit mit Wiktor, spaziere durch die Gegend oder die Cousine nehme sie mit.
Aber hier bleiben? Nein. Wegen der Familie in Polen, sagt Emilia. «Ich vermisse sie sehr. Ich telefoniere jeden Abend mit meinen Eltern und Geschwistern.» Sie wolle auf jeden Fall zurück in ihre Heimat. «Eine gute Arbeit finden, Kinder haben und in Ruhe und Frieden leben.» Das Lächeln wird breiter.
In Gummistiefeln stapft Wiktor zu uns ins Treibhaus. Gross gewachsen, gebräunte, definierte Arme, das Kinn gebettet in späten Teenager-Flaum.
Wiktor geht es ähnlich wie Emilia: Als der Dolmetscher fragt, ob er sich vorstellen könnte, in der Schweiz zu bleiben, schüttelt er den Kopf. Dafür fehle ihm das Deutsch. «Ich büffle nicht gerne», sagt er und lacht.
Und Bauer sein, wie wär das? «Nein, ich will lieber etwas anderes machen», sagt er und fährt Hofhund Simba mit der Hand über den Rücken. Herrchen Ritter steht nur wenige Meter entfernt.
«Na, und das sagst du vor dem Chef?», fragt der Dolmetscher.
«Ja klar, wieso nicht?»
Ritter lehnt sich an einen Metall-Masten, steckt die Hände in die Hosentaschen und grinst.
«Was willst du denn sonst machen?»
«LKW-Fahrer», sagt Wiktor, ohne zu überlegen. Wie sein Vater. «Nur ist der Führerschein arschteuer.» Zehntausend Zloty, umgerechnet ungefähr 2500 Franken koste ihn das «Billett» in Polen. Also hat Wiktor einen Drei-Stufen-Plan aufgesetzt: «Geld, Führerschein, LKW.»
Der Furchtlose
Wiktor hat eigentlich eine Ausbildung zum Mechaniker gemacht. «Aber ich verdiente super wenig.» Also hat er gekündigt. Ein Bekannter, der auf einem Hof hier in der Nähe arbeite, habe ihm erzählt, dass Ritter noch jemanden bräuchte. «Eine Woche später war ich hier», erzählt er schulterzuckend.
«Wir wandern viel, schauen uns um.»
Keine Angst? Oder Heimweh? «Weiss nicht, hab ich nicht», meint Wiktor, ein Mann der wenigen Worte. Er sei die Arbeit gewohnt, helfe auf dem Hof des Onkels in Polen aus. Auch Traktorfahren könne er, zu Ritters Freude.
Seine Schwester arbeitet ebenfalls in Buus, zwei Freunde einige Kilometer entfernt. Etwas Heimat, immerhin. «Wir wandern viel, schauen uns um.» Langweilig werde ihm nicht, bis jetzt zumindest. Wiktor ist seit Juni hier und wird bis in den Herbst bleiben. Das Gefühl, etwas in Polen zu verpassen, den Sommer mit den Freunden, das hat er nicht. «Ich habe auch schon in einer Bar gearbeitet. Ausgang fehlt mir nicht.» Wiederkommen würde auch er.
Reizwort Inländervorrang
Stunden sind vergangen, unsere Nacken gerötet. Die Sonne knallt auch durch die Folie. Stefan Ritter begleitet uns aus dem Treibhaus. Emilia und Wiktor gehen zu den Chirsibäumen und stapeln Kisten voll Obst, während wir uns in den Wagen setzen. «Ich will sie morgen fragen, ob sie nächstes Jahr wiederkommen wollen», flüstert Ritter. Emilia und Wiktor machen ihre Arbeit gut. Und sie spielen mit den Kindern und bleiben nach dem Essen ab und zu auch am Tisch sitzen. Er würde das nicht von ihnen verlangen. «Schön ist es trotzdem.»
Ob Ritters Plan aufgehen wird, ist ungewiss. «Es kann immer sein, dass sie in Polen etwas Festes finden und bleiben.»
Doch es ist nicht nur das. Denn seit dem 1. Juli dieses Jahres gilt als Folge der Masseneinwanderungsinitiative der Inländervorrang light – und dieser betrifft auch die Schweizer Bauern. Der Inländervorrang verlangt von Arbeitgebern, offene Stellen vorgängig beim RAV zu melden. Für fünf Tage dürfen sie die Stelle nicht anderweitig ausschreiben. Die neue Regel gilt für Berufe, die eine höhere Arbeitslosenquote als acht Prozent aufweisen. Bei landwirtschaftlichen Gehilfen betrug diese von April 2017 bis April 2018 neun Prozent, schreibt das Staatssekretariat für Wirtschaft.
«Wie das genau werden wird, weiss ich noch nicht. Aber umständlicher wirds bestimmt.»
Wer die Stelle nicht meldet, riskiert eine Busse von bis zu 40’000 Franken. Ab Januar 2020 wird die Schraube dann nochmals angezogen: Der Schwellenwert wird von acht auf fünf Prozent gesenkt.
«Wie das genau werden wird, weiss ich noch nicht. Aber umständlicher wirds bestimmt», sagt Ritter.
Er fährt uns zurück zum Bauernhaus, eskortiert von Simba. Der Bauer drückt uns fest die Hand und wünscht ein schönes Wochenende. Schuhe werden abgeklopft, dann steigen wir in unser Auto. Kräftig Gas geben, und der Wagen schleicht die Strasse empor. Wiktor schaut uns nach und lächelt.
Wir lassen die schmale Landstrasse, die Felder, die Hügel hinter uns. Auch das heisse Treibhaus, die harte Arbeit, die langen Tage. Die Sorgen, die Hoffnungen, die Träume von Emilia und Wiktor. Und irgendwie auch ein Stück Polen.
*Name geändert.