Vielleicht war es der französische Intellektuelle und Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio, der das Wort vom «rasenden Stillstand» geprägt hat. Vielleicht hat er es auch nur übernommen und geläufig gemacht. Bezeichnet hat er damit das paradoxe Phänomen, dass man ab einer bestimmten Geschwindigkeit kaum mehr eine Veränderung verspürt.
In einer «taz»-Besprechung von Virilios einschlägigem Essay «Der grosse Beschleuniger», auf Deutsch erschienen 2012, findet sich das Konzentrat der Botschaft: «Nach jahrtausendelangem Beschleunigungsfortschritt droht eine totale Regression: Reglos dasitzend und lichtsensibel auf das Geflimmer auf dem Bildschirm reagierend, wird der künftige Mensch als Hybride von Pflanzen vegetieren.»
Schön! Aber unser Thema soll hier ein anderes sein: Die ebenfalls paradoxe Situation, dass Veränderung in einem bestimmten Punkt oder auch im Allgemeinen nötig ist und dass diese Notwendigkeit thematisiert, vielleicht sogar mit Lösungsvorschlägen versehen wird und dennoch keine oder eine kaum entsprechende Veränderung eintritt. Kurz: Worte statt Taten.
Das Problem der Veränderungsträgheit
Das Wort von der rasanten oder auch rasenden Veränderung hatte Konjunktur in der Schweiz der Jahre 1988–1992. In diese Zeit fällt auch das dem Basler Ökonomen Silvio Borner zugeschriebene Wort von der «hektischen Stagnation» für die damalige, nichts zustande bringende Aufregung angesichts des in Europa sich manifestierenden Aufbruchs in den gemeinsamen Binnenmarkt.
Auf die allgemeine Problematik der Veränderungsträgheit bin ich via eine seit Langem «aktuelle» und kürzlich wieder fast wie neu aufgegriffene Frage gestossen: die der Ausbildung von Imamen. Kürzlich erinnerte der «Tages-Anzeiger» an ein 2017 von EVP-Nationalrätin Maja Ingold eingereichtes Postulat, das den Bundesrat einlädt, Massnahmen für die Voraussetzungen einer Imam-Ausbildung aufzuzeigen. Das macht den Anschein, als ob man am Anfang einer Sache stehe.
Die Imame spielen, darin ist man sich theoretisch einig, für die Integration – oder auch für die Nichtintegration – der muslimischen Bevölkerung eine wichtige Rolle. Dazu ist freilich anzumerken, dass das nur für die «praktizierenden» Musliminnen und Muslime zutrifft. Bei den übrigen aber ist es unerheblich, weil ihre Art der Gläubigkeit keine oder andere Integrationsprobleme bereitet.
Vom Ausland mental wie materiell abhängige Imame sind keine idealen Betreuer für in der Schweiz lebende Muslime.
Zur Rolle der Imame liesse sich vieles sagen, hier soll jedoch vor allem auf die Rolle der nichtmuslimischen Aufnahmegesellschaft ein kurzer Blick geworfen werden. Experten, Politiker, Medienschaffende haben seit Jahren darauf hingewiesen, dass vom Ausland mental wie materiell abhängige Imame keine idealen Betreuer der dauerhaft in der Schweiz lebenden Muslime sind. Darum der Ruf nach einheimischen, mit den Landessprachen und dem Ordre public vertrauten Theologen und Seelsorgern.
Der «Ruf» ist alles andere als neu. Persönlich beteiligt war ich an durchaus ernsthaften Abklärungen, die an der Universität Basel vor bereits 14 Jahren hinsichtlich der Schaffung eines Lehrstuhls/einer Professur für muslimische Theologie geführt wurden. Schon damals hiess es, dass «schon vor Jahren» den Universitäten Bern, Basel, Luzern und Genf von muslimischer Seite entsprechende Projekte unterbreitet worden seien, doch jetzt – also im Jahr 2004 – komme wieder Bewegung in das Thema. Ulrich Gäbler, damals Rektor der Uni Basel und selber Theologe, liess bekannt geben, dass man mit der Islamischen Religionspädagogischen Akademie (Irpa) in Wien «Sondierungsgespräche bezüglich der Schaffung einer wissenschaftlichen Imam-Ausbildung in Basel» führe.
«Mässigende» Wirkung
Da zeigte sich ein zusätzlicher Aspekt der Problematik: Man hätte sich schon damals auf Erfahrungen stützen können, die ein anderes, in diesem Punkt etwas weiter entwickeltes Land gesammelt hatte. Die Irpa bildet muslimische Prediger in Österreich aus, wo der Islam seit 1979 eine staatlich anerkannte Religion ist. Im Rückblick auf 2004 können wir auch Doris Leuthard, damals CVP-Präsidentin, begegnen. Sie befürwortete die Imam-Ausbildung in der Schweiz. Diese würde sich positiv, das heisst «mässigend» auswirken, zudem hätte man die Prediger «eher unter Kontrolle».
Gegen Imam-Ausbildungen in der Schweiz äusserte sich ein anderer Parteipräsident und künftiger Bundesrat, Ueli Maurer (SVP): «Die Schweiz ist ein christliches Land», da habe es für Islam-Lehrgänge an staatlichen Universitäten «keinen Platz». In Verkennung der Tatsache, dass der muslimische Glaube auch in einer sehr gemässigten, toleranten und friedlichen Ausprägung praktiziert werden kann und tatsächlich auch gelebt wird, meinte der Exponent der rechtsnationalen Volkspartei, die selber gerne dem Fanatismus verfällt, dass in der Schweiz ausgebildete Imame nicht weniger radikal wären: «Ein gewisser Fanatismus ist einfach Teil dieser Religion. Daran ändert auch ein Studium in der Schweiz nichts.»
Das alles, wie gesagt, schon 2004. Was ist inzwischen geschehen? Nicht nichts. Schon 2009 stellte eine Nationalfondsstudie in der Frage der Imam-Ausbildung einen breiten Konsens bei Behörden, Parteien und den direkt betroffenen Muslimen fest. Und in diesen Spalten war die Frage im Februar 2015 ein Thema. An der Uni Freiburg konnte 2015 gegen den wirklich fanatischen Widerstand der örtlichen SVP, aber unter massgeblicher Mitwirkung des Basler Rektors Antonio Loprieno das Zentrum für Islam und Gesellschaft errichtet werden.
Freiburg betreibt aber Weiterbildung und keine Imam-Ausbildung. Das in der Schweiz auch im Falle von Seelsorgern gängige Berufsverständnis und die Imam-Realität passen ohnehin schlecht zusammen. Zum einen sind Imame nicht staatlich oder universitär zertifizierte Geistliche – wie etwa reformierte Pfarrer oder katholische Priester es sind –, sondern von Gemeinden und Kirchen berufene Betreuer und zum anderen oft auch als nebenberufliche Laien-Imame tätig.
Im Prinzip bieten Universitäten in allen Konfessions- und Religionsvarianten einzig eine Grundlagenausbildung und eigentlich keine Praxisausbildung an. Und sie verfügen schon gar nicht über die Kompetenz, religiöse Weihen zu vergeben. An der Theologischen Fakultät der Universität Bern gibt es neuerdings nun aber doch nach dem allgemeinen Muster der CAS (Certificate of Advanced Studies) einen Kurs in islamischer Seelsorge, aber nicht für die Betreuung gläubiger Muslime im gewöhnlichen Alltag, sondern in Gefängnissen, Spitälern und Asylzentren.
«Flächendeckende Überprüfung»
Die sogenannte Imam-Ausbildung ist noch immer Neuland. Es besteht Handlungsbedarf, es bestehen aber auch Gestaltungsmöglichkeiten. In der Presse wird darauf hingewiesen, dass der Berner CAS-Lehrgang von einer Frau, Isabelle Noth, aufgebaut worden ist und es ein Gewinn sein könnte, wenn eine Schweizerin diesen weitestgehend von Männern gehaltenen Bereich mitgestalte. Als im Januar 2018 bekannt wurde, dass ein «Basler» Imam gegen Schwule, Juden und Ungläubige wetterte, forderte die Basler CVP sogleich eine flächendeckende Überprüfung aller Basler Moscheen.
Bis zu einem gewissen Grad muss man in Erfahrung bringen, was im ganzen Land halböffentlich weitergegeben wird. Das müsste aber auch für andere religiöse Veranstaltungen gelten, zum Beispiel für die Gemeinschaft der Pius-Brüder, die in Ecône (VS) eine Kirche und ein Priesterseminar sowie Ableger in der ganzen Schweiz betreibt. Jedenfalls darf sich die Reaktion auf berechtigte Sorgen nicht in Repressionsmassnahmen erschöpfen. Es müssen auch aufbauende Strategien verfolgt werden. Dazu gehört ein Hinarbeiten auf einen öffentlich-rechtlichen Status muslimischer Religionsgemeinschaften, wie er für christliche und jüdische längst selbstverständlich ist.
Die Integrationsförderung muss sofort und permanent an die Hand genommen werden.
Das wird dauern. Eine Bestandesaufnahme unternimmt demnächst eine Tagung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW). Die Anerkennung einer möglichen Imam-Ausbildung und vieles, vieles andere ist in der Schweiz aber kantonal geregelt. Das Fernziel muss bestehen bleiben, doch die Integrationsförderung muss sofort und permanent an die Hand genommen werden.
Zurück zum «rasenden Stillstand»: Die Imam-Ausbildung ist nur ein Beispiel. Es gibt andere Verbesserungen, die unnötig auf sich warten lassen und trotz mehrheitlich vorhandenen Einsichten (ausser bei der stets bestehenden Gegnerschaft) auf die berühmte lange Bank geschoben werden. Etwa in der Energiewende oder bei der Schaffung eines Tagesschulsystems oder in der Europapolitik. Jedermann und jede Frau kann für sich selbst überlegen, worauf auch noch hingewiesen und hingearbeitet werden könnte. Dabei sollte evaluiert werden, was der Preis ausbleibender und was der Gewinn realisierter Reformen ist.