Die «Eiger-Nordwand» verlässt die Schweiz an einem sonnigen Freitagnachmittag. Im Steuerhaus hoch über dem Wasser sitzt Kapitän Roland Fessler und steuert das Schiff aus dem Kleinhüninger Hafenbecken. «Uf Widerluege Basel, bis in zwei Wochen wieder», sagt der 61-Jährige in breitem Zürcher Dialekt. Fessler drückt den Gashebel nach vorne, das 180 Meter lange Schiff dreht in die Strömung und nimmt Fahrt auf in Richtung Meer.
Der Frachter, ein sogenannter Koppelverband, gehört zur holländischen Reederei Danser und ist eines von 18 Containerschiffen, die jede Woche Basel verlassen. Während die Transportmengen auf dem Rhein insgesamt stagnieren und die Zahl der Transportschiffe sinkt, steigt die Zahl der Container stetig an. Entlang des Rheins entstehen laufend neue Terminals, bestehende werden ausgebaut. Auch in Basel ist ein drittes Hafenbecken in Planung.
Im vergangenen Jahr verliessen 119’000 Container die Stadt auf dem Wasserweg in Richtung Meer – für die Rheinhäfen ein weiterer Rekord. In den Häfen weltweit wurden im selben Zeitraum mehr als 700 Millionen Container umgeschlagen. Der Aufstieg der Containerschiffe begann in den 70er-Jahren, heute wäre der globale Handel ohne sie kaum mehr vorstellbar.
Die «Eiger-Nordwand» liegt tief im Wasser. 3000 Tonnen Gewicht gleiten flussabwärts, Frankreich auf der linken Seite, Deutschland auf der rechten. Die Kräne im Basler Hafen haben in den vorangegangenen Tagen 137 Container auf die «Eiger-Nordwand» geladen. Im Steuerhaus geht Cornelius Bouman, zweiter Steuermann aus Holland, nochmals die Ladeliste durch, auf der jeder Container mit Absender, Inhalt und Bestimmungsort verzeichnet ist. Schweizer Exportgüter, bestimmt für den globalen Markt.
Weitere Container reisen nach Brasilien, Costa Rica, Mexiko, Benin, Ghana, Georgien, Kuba oder auf die Philippinen. Fünf Besatzungsmitglieder sind dafür zuständig, dass sie pünktlich und sicher in Antwerpen ankommen. Vor ihnen liegen 880 Kilometer, 13 Schleusen, drei Nächte. Voraussichtliche Ankunftszeit: Montagmorgen, acht Uhr.
Mit rund 20 Stundenkilometern fährt die «Eiger-Nordwand» durch den Fluss. Leise und stetig brummen die von Flüssiggas angetriebenen Motoren. Ein Kreuzfahrtschiff ist in die Gegenrichtung unterwegs. «Schaut mal, ein Rentnerkanu», sagt Roland Fessler im Steuerhaus. Er sitzt barfuss und entspannt im schwarzen Kunstledersessel. Die linke Hand ruht auf dem digitalen Ruder-Steuer, der Blick wechselt zwischen der Radaranzeige und dem Rhein, auf den sich allmählich die Nacht senkt.
Nur auf dem Mississippi wird mehr transportiert
Die Strecke von hier bis Basel galt lange Zeit als unbefahrbar. Erst 1904 traf das erste Frachtschiff in Basel ein, beladen mit 300 Tonnen Kohle. Ab den 1920er-Jahren entstand auf französischer Seite der Rheinseitenkanal, der ein ganzjähriges Befahren der Strecke ermöglichte. Gemessen an der Menge der transportierten Güter ist der Rhein zwischen Basel und Rotterdam heute die zweitgrösste Wasserstrasse der Welt. Rund 300 Millionen Tonnen Fracht werden jedes Jahr auf ihm befördert, nur der Mississippi übertrifft diese Menge.
Der Oberrhein fliesst heute auf der Strecke zwischen Basel und Strassburg gerade wie ein Kanal. Alle paar Kilometer steht eine Schleuse, Fessler meldet sich per Funk: «Schleuse Ottmarsheim, hier ‹Eiger-Nordwand› in Richtung Tal.» Der Schleusenwärter funkt mit elsässischem Akzent zurück: «Gerade keine Kapazität. Wartezeit etwa zwanzig Minuten.» Am Ufer heben zwei Rehe kurz ihre Köpfe, als die «Eiger-Nordwand» vorüberfährt.
Einige Hundert Meter oberhalb der Schleuse verlangsamt Fessler und steuert das Schiff auf Pfeiler zu, die nah am Ufer aus dem Wasser ragen. Im Salon sitzt der 26-jährige Matrose Sil Barhorst und schaut MTV, während er auf seinen nächsten Einsatz wartet. «Sil, wir machen fest», schallt aus seinem Funkgerät die Stimme des Kapitäns.
Ist die «Eiger-Nordwand» unterwegs, herrscht während 24 Stunden Schichtbetrieb. Während ein Teil der Crew auf Deck Wache hält, schlafen die anderen. In ihren Kabinen liegen Cornelius Bouman (54), zweiter Schiffsführer aus Holland, und Jan Bazik (44), Matrose aus Tschechien. Wache hält nebst dem Holländer Barhorst der 30-jährige Christian Kotter. Der Ostdeutsche hat vergangenes Jahr das Patent als Schiffsführer abgeschlossen. Dafür musste er jede Untiefe auf dem Rhein auswendig kennen, jede Hochspannungsleitung, die Anzahl Pfeiler jeder Brücke.
Kotter mit seinen tätowierten Armen steigt aus dem lärmenden Motorenraum an Deck und kommt Barhorst zu Hilfe, der das Schiff mit schweren Tauen an den Pfeilern festmacht. Mit seiner Ausbildung muss sich Kotter vorerst keine Sorge um eine Stelle machen: Auf dem Rhein herrscht akuter Fachkräftemangel, einige Reedereien besetzten ihre Schiffe bereits mit Besatzungsmitgliedern aus Südostasien.
Immer weniger Schulabgänger wollen auf ein Frachtschiff, doch Kotter gefällt seine Arbeit. «Ich habe ein halbes Jahr bezahlten Urlaub, einen anständigen Lohn und Aufstiegsmöglichkeiten. Was will man mehr?»
Für Kotter war die Schifffahrt ein Ausweg aus einer turbulenten Jugend. Er hatte Ärger mit seinen Eltern, Schwierigkeiten in der Schule. Mit 16 Jahren heuerte er erstmals auf einem Schiff an und fuhr als Schiffsjunge auf der Donau von Deutschland bis ans Schwarze Meer. «Einmal auf dem Fluss, wollte ich nicht mehr an Land zurück.»
Mit seiner turbulenten Jugendzeit ist Kotter nicht alleine auf der «Eiger-Nordwand». Schiffsführer Roland Fessler nervte seine Lehrer und wusste bis einen Monat vor Schulende nicht, was er aus seinem Leben machen sollte. Sil Barhorst sagt von sich, er habe als Jugendlicher keine Dummheit ausgelassen, bis er mit 15 als Schiffsjunge anheuerte. Der kettenrauchende Jan Bazik kam mit dreissig zur Schifffahrt und möchte lieber nicht von seinen wilden Jahren erzählen.
Kotter, Fessler, Barhorst und Bazik – sie alle wollten weg aus ihrer gewohnten Umgebung und fanden auf dem Rhein ein neues Zuhause. Die einzige Ausnahme ist der zweite Schiffsführer Cornelius Bouman, der vor jedem Essen still sein Gebet spricht. Der schnauzbärtige Holländer ist als Sohn eines Schiffers auf dem Rhein aufgewachsen und dem Fluss treu geblieben.
Am nächsten Morgen nach Sonnenaufgang erreicht die «Eiger-Nordwand» für einen kurzen Zwischenhalt den Hafen von Strassburg. Gemäss Ladeplan sollen sieben leere Container von Bord und dreizehn neue geladen werden. Fessler ist etwas mürrisch. In der Nacht musste die «Eiger-Nordwand» mehrere Stunden vor einer der insgesamt acht Schleusen zwischen Basel und Strassburg warten, weil aufgrund des vielen Verkehrs kein Durchkommen war. «Der Fahrplan ist eng getaktet, für Verspätungen gibt es keinen Platz.»
Im Hafenbecken beim Containerterminal macht die Besatzung das Schiff an den eisernen Pollern fest. Wie ein riesiges Insekt nähert sich der Hafenkran und beginnt seine Arbeit. In alle Richtungen bewegt er sich auf Schienen über das Schiff hinweg, in dreissig Metern Höhe sitzt der Kranführer in einer Glaskabine, senkt die stählerne Greifzange über dem Schiff ab, es kracht, wenn Metall auf Metall trifft.
Dann hebt er tonnenschwere Container wie Spielzeug in die Höhe. Fessler sitzt im Führerhaus und kontrolliert anhand seiner Papieren und mit einem Fernglas, ob der Kranführer die richtigen Container verschiebt. Gegen Mittag sind Entladung und Beladung abgeschlossen. Matrose Barhorst nimmt die schweren Taue von den Pollern und Fessler startet den Motor.
Noch 48 Stunden bis Antwerpen
Nach Strassburg passiert die «Eiger-Nordwand» die vorerst letzte Schleuse. Die Landschaft verändert sich, an Stelle der begradigten Ufer treten dichte Auenwälder – ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten, als der Rhein noch über tausend Inseln zählte und von Schwemmgebieten umgeben war. Wochenend-Ausflügler winken von ihren Fahrrädern, in der Küche steht Jan Bazik und schneidet Zwiebeln. Jeden Tag um halb zwölf setzt sich die Crew an den lackierten Holztisch in der Messe.
Zuerst essen jene Besatzungsmitglieder, die Pause haben. Um zwölf ist Schichtwechsel, dann setzt sich der andere Teil an den Tisch. Das Mittagessen ist so etwas wie der soziale Fixpunkt der Besatzung, die Kost deftig. An diesem Tag gibt es Auflauf mit Kartoffeln, Ei und Wurst. Gesprochen wird wenig – wie auch sonst an Bord.
Beim Schöpfen schlägt Matrose Jan Bazik an das volle Wasserglas von Schiffsführer Cornelius Bouman. «Sorry.» – «Du sollst nicht ‹Sorry› sagen, du sollst aufpassen», antwortet der Kapitän freundlich, aber bestimmt. Die Crew fährt seit vielen Jahren in dieser Zusammensetzung, ausgenommen Sil Barhorst, der für einen kranken Kollegen eingesprungen ist. Der Umgangston an Bord ist geprägt von herzlicher Grobheit. Zum Nachtisch serviert Bazik Schokopudding aus dem Beutel, das hat so seit vielen Jahren Tradition.
Von Strassburg dauert die Fahrt noch 48 Stunden bis Antwerpen. Auf idyllische Wälder folgt Schwerindustrie. Hunderte Meter hoch ragen die rauchenden Kamine und Kühltürme in den Himmel. Stahlwerke, Kohlekraftwerke, Atomkraftwerke. Der Rhein befindet sich im Zentrum des westeuropäischen Energienetzes. An seinem Ufer liegen zudem einige der grössten Chemiewerke der Welt. Aus dem einst wild mäandernden Strom entstand infolge der Industrialisierung ein mehrheitlich begradigtes Gewässer. Damit die Schifffahrt sicher ihre Ware transportieren kann und die angrenzenden Städte von Hochwasser verschont bleiben.
«Jetzt kommt der gemütlichere Teil», sagt Sil Barhorst, während er sich vorne auf dem Schiff eine Zigarette ansteckt. Bei Karlsruhe endet die französische Grenze, fortan liegt Deutschland auf beiden Seiten des Flusses. Für die Matrosen ist dieser Abschnitt ohne Schleusen und Häfen der entspanntere Teil der Reise. Jan Bazik übermalt Rostflecken, Sil Barhorst schrubbt das Deck.
Gibt es gerade nichts zu tun, setzen sie sich vor den Fernseher oder legen sich aufs Bett. Das Leben an Bord ist einigermassen komfortabel. Kein Vergleich mit früher, sagt Schiffsführer Roland Fessler. Es gibt eine Waschmaschine für die Kleider, eine Spülmaschine für das Geschirr und für jede Person eine geräumige Kabine.
Es ist kurz vor vier Uhr früh, als die «Eiger-Nordwand» den berüchtigte Loreley-Felsen erreicht. Der Sage nach soll er Heimat einer gleichnamigen Nixe sein, die ähnlich wie die Sirenen der griechischen Mythologie Schifffahrer in den Tod lockt. Die Passage war während Jahrhunderten gefürchtet wegen der engen Flussbiegungen und der gefährlichen Untiefen. Es ist der einzige Abschnitt, wo der Rhein etwas von seiner ursprünglichen Bedrohlichkeit beibehalten hat.
Eine halbe Stunde später dämmert am Horizont der neue Tag. Das Schiff fährt vorbei an Koblenz, Köln, Düsseldorf. Alle acht Stunden wechselt die Schicht. Um 12 Uhr, um 20 Uhr und um 4 Uhr Morgens, wie eine eingespielte Maschinerie.
Kurz vor der holländischen Grenze trifft die «Eiger-Nordwand» auf ihr Schwesterschiff «Grindelwald-Mürren», das bergwärts unterwegs ist. «Gute Fahrt und schöne Grüsse an Bord», funkt der Kapitän beim Kreuzen. An der Landesgrenze Deutschlands endet auch der Rhein. Auf der holländischen Seite heisst er nun Waal, ein Seitenarm fliesst als Nederrijn in Richtung Rotterdam.
Die letzte Schleuse
Abenddämmerung an der Schleuse Kreekrak in Antwerpen. Hier werden die Gezeiten ausgeglichen.
Eingespielte Maschinerie
Die Schicht wechselt alle acht Stunden, um 12 Uhr, 20 Uhr und 4 Uhr morgens.
Kontrollblick
Matrose Barhorst kontrolliert vor dem Löschen die Container.
Löschen, laden, umkehren
Drei Tage liegt das Schiff in Antwerpen, die Ladung wird gelöscht und neue aufgenommen.
Die «Eiger-Nordwand» folgt dem Hauptstrom. Die Landschaft ist flach wie das Meer. Windräder drehen am Horizont, Wildpferde weiden am Ufer. Roland Fessler steht inzwischen wieder im Steuerhaus und dirigiert das Schiff durch den Hollands Diep und weiter durch den Rhein-Schelde-Kanal in Richtung Belgien. Kurz nach acht Uhr Morgens erreicht die «Eiger-Nordwand» den Seehafen Antwerpen. «Koordinati Antwerpen, hier spricht die ‹Eiger-Nordwand›», meldet sich Fessler. Per Funk übermittelt er Schiffsnummer, Gewicht und Länge.
Der Kanal mündet in eine weit verzweigte Hafenanlage. Kohleberge türmen sich, dahinter rauchen die Türme einer der grössten Ölraffinerien Europas. Im vergangenen Jahr passierten 10 Millionen Container und 14’000 Seeschiffe den Hafen von Antwerpen. Die «Eiger-Nordwand» bahnt sich ihren Weg vorbei an Flussfrachtern und Meerschiffen zur vorerst letzten Schleuse, dahinter befindet sich der eigentliche Seehafen und das Meer.
Das Schiff, das in Basel den Hafen dominierte, wirkt in Antwerpen verschwindend klein.
In langen Reihen liegen die Hochseeschiffe aus Asien, Afrika und Amerika an den Ladedocks. Die grössten sind über 300 Meter lang und haben Platz für über 20’000 Container. Sie überragen die «Eiger-Nordwand» um ein vielfaches, als diese neben einem Frachter unter brasilianischer Flagge am Dock anlegt.
Als das Schiff befestigt ist, klettert Christian Kotter mit den Hafenpapieren eine eiserne Treppe hoch. An Land fahren haushohe Lastfahrzeuge in rasantem Tempo durch den Hafen und tragen die bestellten Container in Reichweite der bis zu hundert Metern hohen Hafenkräne, die wie eine stumme Armada den Hafen überragen. Der Flussfrachter, der in Basel den Kleinhüninger Hafen dominierte, wirkt auf dem Umschlagplatz des globalen Handels mit einem Mal verschwindend klein.
Drei Tage wird die «Eiger-Nordwand» hier bleiben, ihre Ladung löschen und 150 neue Container aufnehmen. Bevor sie wieder aufbricht in Richtung Schweiz.