Ein gutes Gedächtnis – Gabe oder Fluch?

Fast jeder hätte gern ein besseres Gedächtnis. Doch diese Gabe kann auch dunkle Seiten haben, meinen Basler Forscher. Sie spüren den Grundlagen des Erinnerungsvermögens im Gehirn nach.

Das Gehirn, eine gut verschlossene Kammer? (Bild: Illustration: Michael Birchmeier)

Fast jeder hätte gern ein besseres Gedächtnis. Doch diese Gabe kann auch dunkle Seiten haben, meinen Basler Forscher. Sie spüren den Grundlagen des Erinnerungsvermögens im Gehirn nach.

Wäre es nicht wunderbar, nichts mehr zu vergessen? Nicht den Geburtstag der Lieblingstante, nicht die Namen der Ex-Kollegen. Jill Price und wenigen anderen Menschen geht es so: Sie erinnern sich an jeden Tag ihres Lebens so, wie unsereins an gestern. Sei es das Fussballspiel vom 19. November 1990 oder jedes einzelne Rendezvous im Teenageralter, alles ist so präsent und intensiv wie damals. «Es ist wie ein Film, der nie aufhört», sagt Price, eine 42-jährige Kalifornierin. Was Price vom Rest der Menschheit unterscheidet, liegt etwa zur Hälfte an ihren ererbten Genen. Den Rest modelliert die Umwelt – über den Ansporn der Eltern, die Schule und nicht zuletzt durchs Üben. Das ist aus Zwillingsstudien bekannt.

Dem Verständnis, wie ein gutes Gedächtnis zustande kommt, sind Basler Wissenschaftler jetzt einen Schritt näher gekommen: Sie haben eine Genvariante entdeckt, die ihren Trägern markant bessere Gedächtnisleistungen verleiht. Dominique de Quervain, Direktor der Abteilung für Kognitive Neurowissenschaften, und Andreas Papassotiropoulos, Direktor der Abteilung für Molekulare Neurowissenschaften der Uni Basel, erforschen, wie Gedächtnisprozesse im Gehirn gesteuert werden.

Gen für Super-Gedächtnis

In ihrem Versuch lernten 709 Studenten dreissig Wörter auswendig und mussten sie nach fünf Minuten wieder aufsagen. Es stellte sich heraus, dass dies Trägern einer bestimmten Variante des Gens mit dem Kürzel CTNNBL1 besser gelang, berichten die Forscher im Fachmagazin «Molecular Psychiatry». Es ist nicht das erste Gedächtnisgen, das die beiden gefunden haben, und dennoch revolutionär.

Dank einer neuen Technologie konnten sie erstmals das gesamte menschliche Erbgut durchforsten, fast zwei Millionen Stellen. Bisher waren sie auf bekannte Gene angewiesen, die in Tierversuchen einen Zusammenhang mit dem Gedächtnis gezeigt hatten. «Jetzt können wir Gene irgendwo im Erbgut finden, ohne dass wir sie vorher kennen müssen», sagt Andreas Papassotiropoulos.

Über die Gehirnleistung eines Einzelnen sagt so ein Gen nichts aus. Die Unterschiede im Erinnerungsvermögen sind nur in grossen Gruppen messbar. Am Gedächtnis wirken viele Gene mit und eben auch die Umwelt. «Unser Ziel ist es, Ansatzpunkte für Medikamente gegen Gedächtnisstörungen zu finden», sagt de Quervain. Solche treten unter anderen bei den Volkskrankheiten Depressionen und Stress auf. Erste Tests mit derart identifizierten Molekülen an Menschen laufen schon.

Vergessen kann hilfreich sein

Was die Wissenschaft bisher über die Anatomie des Gedächtnisses weiss, stammt zum guten Teil von kuriosen Extremfällen. Berühmtester Fall ist der des US-amerikanischen Patienten H.M., dem in den 1950er-Jahren wegen einer Epilepsieerkrankung ein Stück Gehirn hinter der Schläfe herausoperiert wurde. Die Anfälle verschwanden – doch der Patient konnte sich nichts mehr merken, was nach der Operation stattfand. Dabei waren seine Kindheitserinnerungen noch intakt, ebenso andere Gedächtnisformen, etwa jene zum Lernen körperlicher Fertigkeiten wie Klavierspielen.

Auch Super-Gedächtnisse wie das von Jill Price könnten neue Hinweise auf die Mechanismen des Erinnerns liefern, so die Hoffnung. Darum ar­beiten die Basler mit dem US-Hirn­forscher James McGaugh zusammen, der Prices Fall als Erster beschrieb und inzwischen rund zwanzig Erinnerungsgenies aufgestöbert hat. Deren Erbgut wollen die Basler Forscher besonders gründlich durchkämmen. Zudem suchen sie auch in der Schweiz Personen mit extrem gutem Gedächtnis. Ein Fall wie Jill Price tauchte aber bisher nicht auf.

Das Studium ihrer Spezialbegabungen verhärtet eine Alltagserfahrung: Gedächtnis ist nicht gleich Gedächtnis. Eine Person erkennt Gesichter sehr gut, andere merken sich spielend leicht Zahlen oder Namen. Jill Price brilliert beim autobiografischen Gedächtnis: Sie erinnert sich fehlerfrei daran, welches Buch sie etwa an Ostern 1989 gelesen hat. Doch einen eben gelesenen Text kann sie nur durchschnittlich gut wiedergeben, und auch als Schülerin war sie keine Leuchte. «Dank bildgebender Verfahren weiss man, dass dabei unterschiedliche Gehirnstrukturen involviert sind», sagt de Quervain. Es gibt also nicht das gute Gedächtnis an sich, sondern Begabungen für gewisse Aufgaben.

Zudem ist ein fotografisches Gedächtnis nicht immer wünschenswert, zum Beispiel wenn jemand schlimme Erfahrungen macht. Die Basler Forscher identifizierten in einer früheren Studie eine Genvariante, deren Träger sich besser an emotional gefärbte ­Erlebnisse erinnern können, positive wie negative. Über eine befreundete Forschungsgruppe erhielten sie Speichelproben von Überlebenden des ­Völkermords in Ruanda. Zwei Drittel von ihnen litten an einer posttrauma­tischen Belastungsstörung mit quä­lenden Erinnerungen und Flashbacks. Diese waren bei Trägern jener Gen­variante deutlich schlimmer als bei ­anderen Betroffenen, ergab die Erbgutanalyse.

Gewisse Dinge zu vergessen hilft auch bei Entscheidungen. «Wenn immer alles präsent ist, fällt es schwer, das Unwichtige rauszufiltern», sagt de Quervain. Bei Normalbürgern geschieht das automatisch: Vergessen sind all die kurzlebigen Elektrogeräte, die man je gekauft hat, oder die meisten Defizite früherer Partner. Bei McGaughs Erinnerungsgenies sind diese Erinnerungen nicht nur da, sondern emotional so aufgeladen wie damals. Mit zeitraubendem Aufschreiben und Kategorisieren behelfen sie sich, um eine Wahl treffen zu können. Andere Menschen mit hervorragenden Gedächtnisleistungen, wie autistische Savants, die ganze Telefonbücher auswendig kennen, sind in Alltagsdingen oft schwerst behindert.

Fitness fürs Gehirn

Ein wirklich gutes Gedächtnis erkennt man daran, dass es die richtigen Dinge vergisst, glaubt deshalb der berühmte Hirnforscher Ernst Pöppel: «Eine der wichtigsten Fähigkeiten unseres Gehirns ist das kreative Vergessen.» Problematisch wird es erst, wenn das Falsche verloren geht. Im autobiografischen Gedächtnis, in dem Jill Price brilliert, kommt der Mensch selbst als Erlebender vor, so Pöppel. Ohne dieses fehlt der Selbstbezug; die persönliche Identität und auch der mentale Zugriff zur Vergangenheit und zur Zukunft gingen verloren. Genau das geschieht bei fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit.

Doch es besteht Hoffnung: Lernen und fleissiges Üben, vor allem in jungen Jahren, kann genetische Nachteile wettmachen und gewissen Formen der Demenz vorbeugen. Auch Jill Price führt seit ihrem 13. Lebensjahr akribisch Tagebuch – sie übt sich im Erinnern persönlicher Erlebnisse.«Wer viel für sein Gedächtnis tut, regt die Genexpression an und fördert seine Lern- und Behaltensleistung», sagt Hans Joachim Markowitsch von der Universität Bielefeld, Spezialist für Gedächtnis und Gedächtnisverlust.

Es ist mittlerweile erwiesen, dass gewisse Gedächtnistrainings die Struktur und Funktion des Gehirns verändern. Wer eine neue Sprache oder Tanzschritte lernt, greift direkt in seinen Gehirnstoffwechsel ein. Dazu braucht er keine besonderen Gene, sondern vor allem Motivation.

Man solle etwas lernen, das einem Spass macht, empfiehlt Markowitsch. Wichtig sei auch körperliche Aktivität. «Das fördert nicht nur die Hirndurchblutung, sondern setzt auch körpereigene Opiate frei, die einen positiv stimmen», sagt der Gedächtnisexperte. Damit die Erinnerungen nicht nur zahlreicher, sondern auch schöner sind.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16/12/11

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