«Eine Bevölkerungsgrenze zu definieren, ist nicht möglich»

Wann ist die Grenze erreicht, an der wir sagen: Das ist genug. Der Ethiker Markus Huppenbauer spricht über Zuwanderung und erklärt, weshalb die Ecopop-Initianten keine Umwelt-, sondern Heimatschützer sind.

Markus Huppenbauer: «Warum fragen wir, ob zu viele Menschen auf einem bestimmten Territorium leben?» (Bild: Jonas Landolt)

Wann ist die Grenze erreicht, an der wir sagen: Das ist genug. Der Ethiker Markus Huppenbauer spricht über Zuwanderung und erklärt, weshalb die Ecopop-Initianten keine Umwelt-, sondern Heimatschützer sind.

Herr Huppenbauer, leben zu viele Menschen in der Schweiz?

Markus Huppenbauer: Nein, das denke ich nicht. Ich wüsste nicht, wie wir das objektiv messen sollten. Die Schweiz hat eine kleinere Bevölkerungsdichte als beispielsweise Deutschland.

Unter anderem deshalb, weil wir unbewohnbare Alpen haben.

Das ist so. Trotzdem sind die beiden Länder vergleichbar und auch in Deutschland gibt es weite, unbewohnte Flächen. Hingegen leben die Menschen in Nordrhein-Westfalen sehr dicht – zirka 500 Personen pro Quadratkilometer, in der Schweiz sind es knapp 200. So gesehen kann man nicht sagen, dass zu viele Menschen in der Schweiz leben. Es ist vielmehr so, dass grosse Teile der Bevölkerung den Eindruck haben, es gäbe zu viele Leute. Das ist kein ökologisches Problem, sondern ein Wahrnehmungsphänomen.

Markus Huppenbauer ist Ethikprofessor am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Umwelt- und Wirtschaftsethik.

Gibt es denn eine Grenze, wie viele Menschen auf einer bestimmten Fläche leben können?

Interessant ist doch: Warum fragen wir, ob zu viele Menschen auf einem bestimmten Territorium leben? Selbstverständlich sind die natürlichen Grundlagen, auf die wir zum Leben angewiesen sind, begrenzt. Darum sollten wir sorgfältig mit ihnen umgehen. Es ist aber schwierig, eine Grenze festzulegen. Bevölkerungsgrösse und Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen hängen von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel fahren nicht alle Menschen ein Auto – manche wollen keines, andere können es sich nicht leisten. Es geht also um die Frage: Welche Bedürfnisse, Werte und ökonomischen Möglichkeiten haben die Menschen? Nutzen sie die Ressourcen effizient? Gelingt es ihnen, aufgrund technologischer Innovationen neue Ressourcen zu erschliessen? Je nachdem, was im Vordergrund steht, verschiebt sich die Grenze.

In der Schweiz leben die Menschen auf einem ähnlichen Wohlstandsniveau. Kann man eine Grenze definieren, wie viel Menschen in der Schweiz leben können?

Gemäss dem oft verwendeten Massstab des ökologischen Fussabdruckes leben zu viele Menschen in der Schweiz. Ich bin aber nicht sicher, wie relevant dieser Fokus auf nationale Grenzen ist. Banal gesagt: Treibhausgase machen vor nationalen Grenzen nicht halt. Es wäre beispielsweise denkbar, dass wir in der Schweiz viele Menschen aufnehmen, diese jedoch mit Lebensmitteln aus dem Ausland ernähren und Energie ebenfalls aus dem Ausland beziehen und dafür anderes exportieren. Das zeigt, dass die Vorstellung einer fixen Bevölkerungsgrenze in einem abgegrenzten Territorium wenig zweckmässig ist.



«Das Interessante ist doch: Viele Alpwirtschaftsflächen werden gegenwärtig aufgegeben, sie verbuschen und werden zu Wald.»

«Das Interessante ist doch: Viele Alpwirtschaftsflächen werden gegenwärtig aufgegeben, sie verbuschen und werden zu Wald.» (Bild: Jonas Landolt)

In den 1940er-Jahren gab es etwa 4 Millionen Menschen in der Schweiz, bis heute hat sich diese Zahl fast verdoppelt. In einigen Jahren erleben wir wahrscheinlich 10 Millionen Einwohner. Ist das Argument «das ist genug» nicht überzeugend?

Eine Grenze zu definieren scheint mir, wie gesagt, kaum möglich. Es sind vielmehr spezifische Ängste vieler Menschen, die sich auf diese Weise artikulieren. Das Mittelland ist vielerorts zersiedelt und industriell genutzt. In nur wenigen Jahrzehnten sind viele Agglomerationsgemeinden gleichsam explodiert. Ich verstehe, dass sich viele Leute mit diesen Entwicklungen schwertun, sich dort nicht mehr wohlfühlen, sich von den vielen neuen Menschen bedroht fühlen – dass sie von etwas anderem träumen: von Ruhe, Sicherheit und Vertrautheit. Zielführend wäre es, diesen Problemen mit konsequenter Raum- und Siedlungsplanung statt mit Einwanderungskontingenten zu begegnen. Zudem müsste man die erwähnten Ängste und Träume der Bevölkerung in der politischen Diskussion viel direkter als bisher ansprechen: Was für eine Schweiz wollen wir? Wie wollen wir zusammenleben? Wie balancieren wir wirtschaftlichen Erfolg und andere Bedürfnisse aus?

Wie ist es weltweit? Stossen wir irgendwann an eine Grenze, an der nicht mehr Menschen auf dem Planeten leben können?

Was würde das denn bedeuten? Oft steht ja die Ernährungsfrage im Vordergrund, dass wir also nicht alle Menschen auf der Welt ernähren können. In dieser Hinsicht hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges verändert, wir können heute eine viel grössere Weltbevölkerung als früher ernähren. Problematisch ist allerdings der prognostizierte Klimawandel. Wenn wir mit Treibhausgas-Emissionen wie bisher weitermachen, werden wir global ein ernsthaftes Problem haben. Dieses ist allerdings nicht direkt abhängig von der Bevölkerungsgrösse, sondern vom Pro-Kopf-Ausstoss.

«Man müsste die Ängste der Bevölkerung in der politischen Diskussion viel direkter als bisher ansprechen: Was für eine Schweiz wollen wir? Wie wollen wir zusammenleben?»

Der Mensch produziert CO2, baut Kernkraftwerke, verschandelt die Natur. Ist der Mensch ein Virus, das den Planeten zerstört?

Es gibt die verwandte Metapher, der Mensch sei ein wucherndes Krebsgeschwür, das den Planeten Erde immer mehr zunichte macht. Das erwähnte Bild vom Menschen als Virus widerspricht allerdings dem Bild, das wir sonst vom Menschen haben. Es ist ein menschenfeindliches Bild. Denn Viren sind ja für uns Menschen Schädlinge, die man vernichten muss. Das Bild untergräbt unsere Anstrengungen, aus der Welt für viele Menschen einen lebenswerten Ort zu machen. Diese menschenfeindliche Sichtweise wird jedoch nur von sehr wenigen, besonders radikalen Umweltethikern vertreten. Sie haben in der Regel eine Sicht auf die Natur, in der die Menschen nur Teil eines übergeordneten Ganzen sind und dieses nicht stören sollten. In der akademischen Umweltethik nennt man diesen Ansatz Ökozentrismus. Die Ökozentristen gehen davon aus, dass die vorliegenden, gut ausbalancierten Prozesse der Natur in sich selbst wertvoll und deshalb schützenswert sind. Der Mensch darf die natürliche Ordnung und Balance der Ökosysteme nicht durcheinanderbringen. Man muss dazu sagen, dass die meisten der Ökozentristen das erwähnte, menschenfeindliche Bild vom Menschen als Krebsgeschwür oder Virus nicht verwenden würden.

Der Mensch gehört in dieser Sichtweise nicht zur Natur?

Doch, gerade weil er als integraler Teil der Natur angesehen wird, darf er sich nicht über die Natur erheben, muss er sich ihr einfügen, seinen Einfluss auf die Ökosysteme zurücknehmen und der wilden Natur mehr Spielraum überlassen. Gemäss der ökozentrischen Position ist der Mensch in den natürlichen Ökosystemen gegenwärtig viel zu dominant. Das äussert sich dann häufig in einer Kritik der Bevölkerungszunahme moderner Gesellschaften.

Haben die Ecopop-Initianten ein ökozentristisches Weltbild?

Nein, das glaube ich nicht. Den Initianten geht es nicht in erster Linie um den Schutz der unberührten und wilden Natur. Ich glaube, ihr Thema ist vielmehr der Verlust der Schweiz als einer vertrauten Heimat. Wenn die Initianten von einer 12-Millionen-Schweiz reden, hat man den Eindruck, es sei etwas ganz anderes als das, was wir heute haben. Mehr Ausländer, mehr Häuser, mehr Strassen. Was die Initianten beschäftigt, ist das Verhältnis der Siedlungs- zu den Landwirtschaftsflächen auf dem Territorium der Schweiz. Sie reden nicht von Wildnis, von der unberührten Natur, sondern bedienen ein bestimmtes Bild der Schweiz: Landwirtschaftlich genutzte Gebiete scheinen positiv bewertet zu sein, Siedlungen, wie Agglomerationen und Städte – und pikanterweise auch neu entstehende Waldflächen – werden negativ konnotiert. Sie vermitteln damit unterschwellig ein bestimmtes, etwas kitschiges Bild: Bauerndörfer mit einigen Häusern von Zugezogenen, ruhiges Arbeiten auf Äckern, Alpweiden mit Kühen. Insofern geht es in erster Linie nicht um den Schutz der Wildnis, sondern um eine bestimmte Vorstellung von Heimat. Das Interessante ist doch: Viele Alpwirtschaftsflächen werden gegenwärtig aufgegeben, sie verbuschen und werden zu Wald. Die Natur erobert sich also bisher genutzte Flächen zurück. Das scheint für die Initianten allerdings ein Problem zu sein.

«Den Initianten geht es nicht um den Schutz der unberührten Natur. Ihr Thema ist vielmehr der Verlust der Schweiz als einer vertrauten Heimat.»

Wie kann man die Initianten einordnen?

Die Initianten selbst sprechen von «natürlichen Lebensgrundlagen» und «Schutz der Artenvielfalt». Das sind völlig unverdächtige Forderungen, die auch in unserer Verfassung und in der Schweizer Politik verankert sind. Die Initianten sind meines Erachtens nicht primär Natur-, sondern  Heimatschützer. Das Instrument, mit dem dieser Heimatschutz gemäss der Ecopop-Initiative umgesetzt werden soll, muss als fremdenfeindlich und wirtschaftsfeindlich der Kritik unterzogen werden. Wir sollten aber aufpassen, dass wir mit dieser Kritik nicht zugleich die emotionale Befindlichkeit vieler Menschen in unserem Land aus dem Auge verlieren.

Dann hat Ecopop nichts mit Umweltschutz zu tun?

So würde ich das nicht sehen. Roger Scruton, ein konservativer englischer Philosoph hat vor Kurzem ein Werk über grüne Philosophie publiziert. Darin widmet er gut 50 Seiten explizit dem Thema «Heimat» – er erachtet dies als wesentlichen Aspekt von Umweltschutz. Sein zentraler Punkt ist, dass wir nur dem Sorge tragen, was uns nahesteht, mit dem wir verbunden sind, also der eigenen Heimat. Und genau diesen Aspekt sieht man beispielsweise in der Zweitwohnungsinitiative wieder oder auch in der Kulturlandinitiative im Kanton Zürich. Umweltschutz ist in der Schweiz häufig mit Heimatschutz verbunden. Allerdings scheint die Elite unseres Landes dieses Heimatschutzanliegen vieler Menschen nicht zu verstehen.

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