Die Basler Fasnacht ist voller Irrtümer und Fehlinterpretationen. Bei näherer Betrachtung sind einige davon aber gar nicht so falsch.
Ein Regierungsrats-Frischling als Tambourmajor. Ein Banker, der seinen ganzen Frust über die Abzocker-Initiative aufs Trommelfell haut. Eine Versicherungsfachfrau auf Stufe Unternehmensleitung, die – ihrem Piccolo sei es gedankt – zwar nicht den Mund, zwischenzeitlich jedoch ihre Dis-Klappe halten muss: Wenn es darum geht, dem Fasnachtsvirus zumindest ausserhalb der landesüblichen Geschäfts- und Bürozeiten freien Auslauf zu gewähren, stellen sich auch beruflich hoch- und höchstchargierte Dreitagenarren neben ganzen Heerscharen von Normal-Dummpetern klaglos ins Glied. Nunnefirzli, vorwärts marsch!
«Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich», heisst es bekanntlich in Artikel 8, Absatz 1 unserer Bundesverfassung. Wenn das so ist, woran hin und wieder zwar füglich gezweifelt werden darf, dann ist es wohl nur recht und billig, wenn dieser Grundsatz – nur unwesentlich abgewandelt – auch für «die drey scheenschte Dääg» in Basel gilt: «Alle Narren sind vor Frau Fasnacht gleich.»
Schön wärs. Denn von einer organischen Verschmelzung aller Gesellschaftsschichten zum Zwecke paradiesischer Brüder- und Schwesterlichkeit konnte nie und kann auch heute nicht die Rede sein. Jedem und jeder an der Fasnacht einfach Du zu sagen, ist noch lange keine Garantie für Verbundenheit in Geist und Lebenshaltung. Was die restlichen Tage im Jahr gnadenlos scheidet, kann Frau Fasnacht nicht wirklich verbinden, auch kurzfristig nicht. Alles andere gehört ins Reich der zugegeben herzergreifenden, von namhaften Basler Autoren akribisch gepflegten Hyylgschichte. Im wahren Fasnachtsleben jedoch gilt:
Was verbindet d Biezer
mit de grosse Bosse?
Am Morgestraich die
gmainsam kalte Flosse.
Weit gefehlt die naive Vorstellung, dass eines der bonusgestopften Promi-Mitglieder seine Cliquenkamerädli auch nur ein einziges Mal zu einem Becher im «Mutz» oder einem (gespritzten) Zwaierli in der «Kunsthöhle» einladen würde – als «Nyt-fir-unguet» quasi für all die unter dem Hinweis auf die unmenschliche Arbeitslast geschwänzten Übungsstunden. Das könnte ja geradezu als Angeberei ausgelegt werden, Gott bewahre. Dann schon eher ohne mit der Wimper zu zucken ein Schlücklein Schnäggejätter aus der Literflasche geniessen, die ein möglicherweise nicht ganz so betuchter Spitzentambour aus purer Fasnachtseligkeit spendiert hat. Sich mit dem Schluckbeweis seiner Teamfähigkeit noch ein bisschen gleicher als all die Gleichen unter Gleichen zu gebärden, kann manchmal enorm schwierig sein. Ganz zu schweigen vom Magenbrennen, das man sich durch den unsäglichen Trunk aus dem Plastikbecher eingehandelt hat.
Wer sich freiwillig dafür entscheidet, drei Tage lang mit einer Gruppe von Gleich- und Gleichergesinnten Basels Buckellandschaft musizierend zu durchtschalpen, der muss, das leuchtet jedem ein, über besondere Fähigkeiten verfügen. Eiserner Durchhaltewille gehört als Grundvoraussetzung dazu. Überdurchschnittlich entwickeltes Selbstbewusstsein ist ebenso gefragt wie Ideenreichtum, eine gewisse Takt- und Trittsicherheit, Schmerzresistenz, und – bei allem Verständnis für Spontanreaktionen gegenüber alkoholisierten «Wegelagerern» – unerschütterlicher Gleichmut im Umgang mit Seinesgleichen. All diese Qualitäten sind es, die den geborenen Einzelkämpfer, pardon, begnadeten Individualisten auszeichnen. Mit Weicheiern und Warmduschern hat Frau Fasnacht nichts, aber auch gar nichts am Hut:
«Vor allem s Comité»,
so gheersch si gaggse –
«kennt bi de Laischtige
e weeneli no waggse …»
Über seine individualistischen Vorzüge hinaus muss jeder Aktiv-Fasnächtler zusätzlich auch noch über jenes spezifische Können verfügen, das ihn für seine ganz speziellen Aufgaben «uf der Gass» oder in den Beizen befähigt. Der von den Massen sträflich unterschätzte Vorträbler zum Beispiel muss sich am Cortège ständig um feuchte Daumen bemühen, um seine Zeedel in homöopathischen Einzeldosen verteilen zu können, damit sie nicht bündelweise im Räpplimatsch landen. Ein Laternenträger hat darauf zu achten, dass die Blutergüsse auf seinen Schultern (gemeint sind die vom Vorjahr) rechtzeitig vor dem Morgestraich (gemeint ist der diesjährige) vollständig verheilt sind. Für die Pfeifer-Primadonnen schliesslich gehören Zitterlippen zwecks tränenrührendem Tremolo zur Standardausrüstung.
Der Tambourmajor hat seine Handgelenke regelmässig zu schmieren, der Spitzentambour die Schwielen an den Händen regelmässig zu pudern und der gemeine Wagenwaggis seinen Wortschatz ständig mit den neuesten Kraftausdrücken zu ergänzen. Der Schnitzelbänggler sollte über eine wohltönende Stimme, pfeilspitze Pointen sowie über eine möglichst eingängige Melodie verfügen, auf dass es ihm vor verwöhntem Publikum nicht ähnlich mies ergeht wie den Schweizer Teilnehmern am European Song Contest. Ein guter Gugge-Schränzer, der seine Disharmonien im Griff hat, bläst auch übers Jahr mal ins Horn, was man vom Mann an der Pauke ebenfalls verlangen kann, auf dass er dieselbige ab und zu gehörig, jedoch möglichst taktvoll verhaut. Für alle aber gilt – auch wenn es bei der umfassenden Aufzählung der individuellen Vorzüge und Pflichten einmal mehr beinahe vergessen geblieben wäre:
Au wenn de ganz vergiftet
Fasnacht machsch –
ischs nit verbotte, ass
de zwischeduure lachsch.
Natürlich mag es für Spitzentambouren oder für Starpfeifer absolut reizvoll sein, sich ab und zu vor einem hingerissen hinterhereilenden oder im engen Gässlein andächtig lauschenden Publikum als bewunderte Einzelmaske zu präsentieren. Doch so musikalisch perfekt und topfit sich die kostümierten Dreitage-Athleten mittlerweile auch entwickelt haben – ganz allein ist der fasnächtliche Marathon unmöglich und auf keinen Fall durchzustehen. So schliesst man sich nach dem kräfteraubenden Ego-Trip denn auch ganz gerne wieder seiner eigenen Clique oder seinem Schyssdräggzigli an, nicht ohne sich (zumindest heimlich) über die Fehler und Misstöne der andern zu ärgern, während man sich selber übers Jahr in unzähligen Selbstkasteiungs-Stunden um absolut notentreues Spiel bemüht hat.
Schon beim nächsten Halt wird man sich dann in der Beiz zu den wenigen Auserwählten «mit Niveau» setzen und offen über die «Lüfteler» und «Bebberler» schnöden, die es gar nicht wert sind, im illustren Kreis der Begnadeten mitzutun, notabene ohne sich der Ehre bewusst zu sein, die das bedeutet. «Lueg numme, wie der Migger wider sufft, derbyy gheit er scho jetz allewyl uus em Schritt.» Und – inzwischen gar nicht mehr so heimlich – wird im kleinen Kreis beschlossen, solches an der nächsten «Lämpesitzig» offen anzuprangern. «Die mien nit maine, mer syygen uf settigi Nieten aagwiise …» Die Erkenntnis daraus ist ganz einfach:
Wie bi de Binggis, do
kasch wette druff –
gilt au speeter no:
je mieder, desto muff.
So viel zum Thema Toleranz beziehungsweise zur weitverbreiteten Annahme, dass das einheitliche Kostüm auch eine tiefe, freundschaftliche Verbundenheit unter den Trägern signalisieren würde. Die fröhlich bunten Tücher trügen, hautnah trägt jeder immer auch den Stoff mit sich, aus dem die «Lämpe» sind. Und so kommt es nach jeder Fasnacht denn auch immer wieder zu Cliquenspaltungen, Neugründungen und unzähligen Transfers auf dem Spielermarkt. Völlig egal: Ein Team-Event, wenn auch längst keine Mann-schaftssportart mehr, wird die Basler Fasnacht immer bleiben. Eine Zweckgemeinschaft von und für Individualisten eben. Ernsthaft schaden kann das nicht – weder den regelmässig weit über zehntausend mehr oder minder straff organisierten Teilnehmerinnen und Teilnehmern noch den Hunderttausenden aus nah und fern, die sich ein eigenes (hoffentlich nicht geblitztes) Bild von diesem einzigartigen Spektakel machen möchten.
«Uf der Gass» allerdings gehen die Aktiven heute pfleglicher miteinander um als früher, wo es durchaus keine Seltenheit war, dass die Vorträbler sich den Vortritt für ihre Cliquen und Gruppen notfalls handgreiflich erkämpften. Auch das Publikum hatte für Zuwiderhandlungen gegen «Sitte und Ordnung» – dazu gehörte zum Beispiel das Überschreiten der Strasse mitten durch eine marschierende Fasnachtseinheit hindurch – oft ziemlich schmerzhaft zu büssen. Da konnte es für die tollkühnen «Quereinsteiger» schon mal ein paar blaue Flecken absetzen, wenn aus den Schlegeln erboster Tambouren plötzlich Schlagstöcke wurden. Auch manch ein selig durch die Gassen bummelndes Schyssdräggzigli, das von einer übermächtigen Formation im Schnellzustempo beiseite gefegt wurde, konnte beim nächsten Halt ein garstig Liedlein zum Thema Ein-Herz-und-eine-Seele singen. Und ganz zu schweigen von der Arroganz und Aggressivität, mit der die Pfeifer und Tambouren früher fast ausnahmslos den Guggenmusikanten begegneten. In die mit der rosaroten Tinte verfasste Fasnachtsliteratur schaffen es solche Episoden bezeichnenderweise nie.
Fasnacht isch e Stigg
vom woore Lääbe –
männgmool heerlig,
männgmool au dernääbe.
Trotz aller Irrtümer und Fehlinterpretationen: Die Einzigartigkeit der Basler Fasnacht hat nicht nur das Bild der Stadt, sondern auch dasjenige ihrer Bewohner fast unverrückbar geprägt. Nicht sonderlich dynamisch im Alltag, jedoch durchs Band «glatti Sieche». Landläufig dominiert noch immer die Meinung, dass die Spezies der Basler dank göttlichem Leichtsinn beim Schöpfungsakt ausnahmslos mit jenem Gen infiziert wurde, das für garantierte Lachsalven an Geschäftsveranstaltungen, Kompanieabenden und Familienfesten sorgt. Wäre dem tatsächlich so, dann hätte im Lauf der Zeiten eine klare Mehrheit der für die Besiedlung am Rheinknie vorgesehenen Population einen leider noch nicht näher erforschten Gen-Defekt zu beklagen, der für die schleichende «Vergrämlichung» oben erwähnter Anlässe verantwortlich gemacht werden muss.
Selbst die hartnäckigsten unter den im unerschütterlichen Glauben an die befreiende Wirkung ihrer fröhlichen Botschaft erzogenen Humor-Missionare machen sich mittlerweile ernsthaft Sorgen über den fortschreitenden Schwund an eingeborenem Witzpotenzial. Erst kürzlich soll sich einer von ihnen, der amtierende Pointen-Papst quasi, unter dem brüllenden Gelächter der Kalauer-Kardinäle zu folgendem Zweizeiler verstiegen haben, der uns tumben Laien die ganze Tragweite der durch grenzüberschreitendes Migrations- und Mobilitätsverhalten hervorgerufenen Identitätskrise veranschaulicht. Das im wahrsten Sinne des Wortes den historischen Irrtum entlarvende Zitat aus dem Off:
«Me mungglet, s gääb
schynts glatti Sieche –
jetz au scho z Binnige
und z Rieche …»
Die einen mag das schrecken, andere wiederum schöpfen daraus Zuversicht. Denn wenn das über alle Gemeinde- und Kantonsgrenzen hinaus so weitergehen würde – schleichend wie bisher, versteht sich –, stünde einer Fusion im Zeitrahmen von ein paar Hundert Jahren wohl nichts mehr im Wege. Alles andere wäre ja wirklich ein Witz.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.02.13