Keine Regel ohne Ausnahme

So mancher uralte Brauch, der sich über Jahrhunderte erhalten hat, entsprang einst bitterer Not. Und die macht bekanntlich erfinderisch.

Rund vier Meter gross war dieser «Iltis», der in der Fastenzeit nach uraltem Brauch von jungen Burschen durch das elsässische Buschwiller geführt wurde. Das Strohmonster – hier ein Auftritt aus den 1970er-Jahren – sollte die Dorfbevölkerung dazu bewegen, (Bild: Kurt Wyss)

So mancher uralte Brauch, der sich über Jahrhunderte erhalten hat, entsprang einst bitterer Not. Und die macht bekanntlich erfinderisch.

Furchterregende Gestalten und Tiere, die in der Fasnachts- und Fastenzeit von Haus zu Haus poltern, um für sich und ihre Begleiter unter wilden Drohungen ein paar milde Gaben zu erbetteln. Als ein im wahrsten Wortsinn überwiegender Bestandteil der heutigen Wohlstands GmbH nehmen wir solches Brauchtum allenfalls als amüsantes Spektakel zur Kenntnis, kaum aber als das, was es früher war. Denn misstrauisch beäugt von weltlicher und geist­licher Obrigkeit ging es damals oft weniger um eine gerade noch tolerierte Form untertäniger Aufmüpfigkeit, sondern schlicht ums nackte Überleben.

Wer im Mittelalter nicht zu Adel und Klerus gehörte oder einem anständigen Schutzherrn diente, hatte für sich und seine Familie wenig zu beissen. In Zeiten von Missernten und Seuchen war das wenige für viele fast gar nichts mehr. Drei Bissen Brot und drei Schluck Wasser oder Bier waren pro Fastentag maximal erlaubt; absolut verboten hingegen Milch, Käse, Butter und Eier, die man als «flüssiges Fleisch» zu meiden hatte. Erst ab 1491 wurden die Fastengesetze nach und nach gelockert.

Vitamin B

Glücklich, wer unter solchen Bedingungen über Vitamin B verfügte. Die Basler zum Beispiel erfreuten sich ausgezeichneter Bezie­hungen zu Papst Pius II., der unter seinem weltlichen Namen Aeneas Silvius Piccolomini geraume Zeit als Konzilssekretär in Basel zugebracht hatte und der Stadt auch als Papst noch immer wohl gesonnen war. Er erfüllte den Baslern nicht nur den Traum von der eigenen Universität, er unterstützte auch deren Wunsch nach Verleihung des Messerechts. Und so ganz nebenbei lockerte er noch die lokalen Fasten­regeln, indem er zusätzlich zu den drei Bissen Brot etwas Butter und Käse bewilligte.

Wen wunderts, dass Erfindungsgeist gefordert war, um den rigorosen Fastenvorschriften zu entgehen oder für die Zeit danach vorzusorgen. Im elsässischen Buschwiller, unmittelbar hinter Allschwil gelegen, schuf man zum Beispiel den «Iltis», eine riesige Strohpuppe, die von den «Jägern» in Ketten gelegt und in der Fastenzeit von Haus zu Haus geführt wurde, um Eier oder auch etwas Geld zu erbetteln. Dem Geizhals, der sich weigerte, wurde angedroht, ihm einen richtigen Iltis in den Hühnerhof zu schicken. «Hüt in drei Wuche ässe mer Eier und Fleisch.»

So endete das Lied, das von den Buschwiller Iltis-Jägern zum früher längst nicht ganz so harmlosen Spass ­gesungen wurde. Tempi passati. Die Strohpuppe hat inzwischen ausgedient, die ­Jäger sind im Ruhestand.

Je satter, desto matter: Wäre aus verschwundenem Fastenbrauchtum etwas zu lernen, dann zumindest dies.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16.03.12

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