Nur seine Meinung: Der Hetzer von Riehen vor Gericht

Der Riehener Internethetzer Martin Widmer stand vor Gericht. Verhandelt wurde ein diffamierender Blogbeitrag über die frühere Zuger Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin. Widmer war der Sache nicht gewachsen.

Martin Widmer stand vor Gericht und zeigte sich dabei mokant und larmoyant.

Martin Widmer erscheint ein paar Minuten zu früh zu seinem Termin am Basler Zivilgericht. Der Gerichtsdiener weist ihm einen Platz auf der Wartebank von Gerichtssaal 1 zu, doch Widmer setzt sich neben den einzigen Zuschauer, der gekommen ist. 

Widmer hat den Termin auf seinem Blog angekündigt, vielleicht um Unterstützer zu mobilisieren. Es taucht dann bloss ein Nachbar aus Widmers vornehmem Riehener Wohnquartier auf. Von dort aus überzieht der rechtsradikale Troll seit Jahren politisch unliebsame Personen mit Hass und Hetze im Internet. Wie kein Zweiter in der Schweiz stellt Widmer seinen Opfern systematisch nach, beleidigt sie, oft frauenfeindlich und sexuell konnotiert. Enttarnt hat ihn eine Recherche der TagesWoche.

https://tageswoche.ch/gesellschaft/der-groesste-internet-hetzer-der-schweiz-wohnt-in-einer-villa-in-riehen/

Den Gerichtstermin erzwungen hat eines seiner häufigsten Opfer, die frühere Zuger Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin. Ihre Missbrauchsgeschichte beschäftigt Medien und die politische Rechte seit Jahren mit irritierender Intensität. Anlass des Prozesses nun: ein verunglimpfender Blog-Beitrag namens «Das Hegglin Fazit». Der Beitrag ist nach einer superprovisorischen Verfügung vom Netz. Ob das weiterhin so bleibt, darum ging es am 22. Juni vor Gericht.

Widmer, ein massiger Mann, trägt Blue Jeans und ein aufgekrempeltes blaues Karohemd. Er ist unrasiert, trägt seine grauweissen Haare stopplig-organisiert. Er blickt durch eine dicke Brille, die seine eingesunkenen, blauen Augen eigentümlich verzerrt. Die Fingernägel sind einen Tick zu lang, die schwarzen Schuhe abgetragen. 

Widmer kommt ohne seinen Rechtsanwalt, er übernimmt seine Verteidigung selber. Vielleicht erhofft er sich durch die Inszenierung als einfacher Bürger, der so spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, einen Bonus vor Gericht. Doch vermutlich hätte er den Anwalt besser mitgenommen.

Sein Drucker ist kaputt

Bevor es losgeht, tauscht er sich mit seinem Nachbarn aus, erzählt von Problemen in der Vorbereitung der Verhandlung. Am Abend vor der Anhörung sei sein Drucker ausgestiegen, er habe um halb zehn Uhr ins Rheincenter nach Deutschland fahren müssen, um einen Neuen zu besorgen. 

Er hat dann trotzdem nicht alles dabei. Als er von Richter Andreas Schmidlin (SP) das Wort erhält, fehlen ihm die ausgedruckten Anträge der Gegenseite. «Ich wusste nicht, dass ich sie brauche», sagt Widmer. «Kann ich sie vielleicht von jemandem ausleihen?» 

Der starke Mann des Internets ist jetzt einsam und schwach. Der Richter blickt mitleidig.

Widmers blaue Augen suchen Hilfe im Raum, seine Hände umklammern die Stuhllehne. Der starke Mann des Internets ist jetzt einsam und schwach. Der Richter blickt mitleidig und lässt seine Schreiberin schliesslich ein Exemplar ausdrucken.

Widmer baut seine Strategie auf drei Pfeilern auf: Erstens habe sich Jolanda Spiess-Hegglin als Person des öffentlichen Interessens Kritik gefallen zu lassen. Zweitens habe er in seinen heiklen Aussagen stets den Konjunktiv verwendet: hätte, könnte, dürfte. Und drittens seien seine Aussagen «eine ganz normale Meinung von mir im Gegensatz zu einer ganz normalen Meinung von jemandem anderen».

Auf Facebook hundertfach verurteilt

Ein Beispiel: Jolanda Spiess-Hegglin geht konsequent gegen Personen vor, die sie im Netz diffamieren. Die zivilrechtlichen Verfahren enden häufig mit Vergleichen, wobei die Beklagten eine Spende an den von der Zugerin gegründeten Verein Netzcourage tätigen müssen. 

Widmer schrieb dazu auf seinem Blog: «Sie steht unter dem Verdacht des Straftatbestands der Erpressung.» Vor Gericht sagt er dann: «Sie steht tatsächlich unter Verdacht. Unter meinem Verdacht. Unter dem Gesichtspunkt der Meinungsäusserungsfreiheit ist das absolut statthaft.»

Bloss seine Meinung – was ist schon dabei?

Martin Widmer zitiert ausgiebig aus Medienerzeugnissen, sie bilden den Rücken seiner Argumentation. Er liest aus dem «Blick», aus «Zentralplus», aus der TagesWoche vor. Sucht die Widersprüche im Auftreten von Spiess-Hegglin, als würde an diesem Tag ihr Fall vor Gericht verhandelt und nicht sein Pamphlet. Als würde er nun verwirklichen können, wovon rechte Wüteriche in diesem Land träumen: Spiess-Hegglin vor Gericht der Lüge überführen, so wie sie es ihrer eigenen Ansicht nach auf Facebook unzählige Male getan haben.

Widmer verliert sich, verheddert sich in seinen Akten. Es wirkt, als hätte er sich das Ganze leichter vorgestellt. 

«Ich habe eine Dokumentation im Deutschen gesehen über fünf vergewaltigte Frauen», holt er aus. «Bei keiner hatte ich Zweifel an ihrer Geschichte.» Er blickt zu Jolanda Spiess-Hegglin. Tut es später noch einige Male, bis ihn der Richter ermahnt, das zu unterlassen: «Sie sprechen zu mir und nicht zur Gegenpartei.»

Er sagt: «Was ich bei ihr vermisse, ist Demut. Dass sie nie hingestanden ist und gesagt hat, sie verstehe, dass es Zweifel an ihrer Geschichte gebe, dass nicht alles plausibel erscheint.» Widmers Stimme schnellt in die Höhe. Die Sätze klingen wie so viele an diesem Tag mokant und larmoyant. 

Die Verhandlung zieht sich hin, Satz für Satz seines Blog-Eintrags wird durchgekaut, für jede Wertung muss er eine Erklärung liefern. Widmer verliert sich, wiederholt sich, verheddert sich in seinen Akten. Sagt, wenn er nicht weiter weiss: «Geschützt durch die Meinungsfreiheit.» Es wirkt, als hätte er sich das Ganze leichter vorgestellt. 

Er hätte gerne eine Ausnahme

Am Ende seiner Ausführungen will er die schriftliche Stellungnahme einreichen, sein Plädoyer. Der Richter wundert sich: «Das verstösst gegen die Prozessordnung, Sie hätten das vor Ihren mündlichen Ausführungen tun müssen.» Man diskutiert das Problem hin und her. Bis Widmer vergeblich fragt: «Können Sie nicht eine Ausnahme machen?»

Die Verhandlung läuft nicht so, wie es sich Martin Widmer vermutlich vorgestellt hat. Der Gegenanwalt zerpflückt seine Argumente nach allen Regeln der Juristerei. Irgendwann fragt ihn Widmer: «Werden Sie eigentlich pro Wort bezahlt?»

Schliesslich schickt der Richter den Nachbarn und die beiden anwesenden Journalisten vor die Tür. Jetzt soll ein Vergleich zwischen den beiden Parteien ausgehandelt werden. Widmer gibt sich skeptisch: «Mir fehlt jetzt die Fantasie für eine Einigung. Was könnt ihr mir anbieten?» Er halte es durchaus für reizvoll, die Angelegenheit bis ans Bundesgericht zu führen: «50’000 Franken für die Meinungsfreiheit.»

Ein paar Stunden später ist alles geklärt: Martin Widmer und Jolanda Spiess-Hegglin haben sich in einem Vergleich geeinigt. Der Blogbeitrag ist nicht wieder aufgeschaltet worden. Spiess-Hegglin sagt: «Ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis.»

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