Museen, die Skelette und Präparate ausstellen, bewegen sich auf einem schmalen Grat – auch in Basel.
Von Angesicht zu Angesicht mit einem menschlichen Schädel zu stehen fühlt sich komisch an. Wo rührt dieses Kribbeln her? Weshalb gruseln wir uns, wenn wir uns selbst so nahekommen? Macht genau diese Nähe den Anblick menschlicher Überreste so faszinierend?
Wo auch immer Skelette oder anatomische Präparate ausgestellt werden, bilden sich Schlangen von Schaulustigen. Egal, ob es sich dabei um archäologische Fundstücke handelt oder um die kunstvoll präparierten «Körperwelten». Die Nachfrage alleine kann jedoch nicht Rechtfertigung genug sein, menschliche Überreste einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wer mit Skeletten und Körperteilen arbeitet, sie erforscht, präpariert und ausstellt, muss sich mit ethischen Fragen auseinandersetzen. Woher kommen die Ausstellungsstücke? Wie sind die Menschen gestorben? Waren sie einverstanden damit, post mortem erforscht und ausgestellt zu werden?
Im Museum statt im nassen Grab
Französische Forscher haben vor einigen Monaten eine neue ethische Diskussion um den Umgang mit menschlichen Ausstellungsstücken angestossen. Im Fachjournal «Clinical Anatomy» schildert der Paläopathologe Philippe Charlier den Fall, wie in einem englischen Museum das Skelett eines Mannes aus dem 18. Jahrhundert ausgestellt wird, obwohl dieser eine Seebestattung verfügt hatte. Gegenüber dem Radiosender «Deutschlandfunk» sagte Charlier, er könne nicht verstehen, wie der letzte Wille dieses Mannes bis heute missachtet werde. Er räumte zwar ein, dass es sich um einen wissenschaftlich interessanten Fall handle, da der Mann aus dem 18. Jahrhundert über zwei Meter gross war. Aber: «Wir müssen eine Balance schaffen zwischen wissenschaftlicher Forschung einerseits und dem Respekt der Individualität oder Privatsphäre andererseits.»
Der Wissenschaftler erklärte weiter, dass dieses Problem längst nicht nur in England bestünde, sondern exemplarisch sei für anatomische Ausstellungen auf der ganzen Welt.
Im Raum Basel befinden sich drei gleichermassen wichtige wie unterschiedliche Skelettsammlungen. Darunter, was kaum jemand weiss, eine der grössten in Europa. Hält sich hier die Waage zwischen Wissenschaft und Respekt vor dem Individuum? Gibt es auch in Basel Skelette, die nach ethischen Gesichtspunkten nicht ins Museum, sondern in ein Grab gehörten?
60’000 Skelette im Keller
Ein kommuner Bürobau im Industriegebiet vor Aesch. Zwar ist es im Fahrstuhl so eng, wie es in einem Sarg sein muss, es deutet aber nichts darauf hin, was sich im dritten Stock hinter einer verglasten Tür befindet. Hier hat Viera Trancik ihre Arbeitsräume. Hier stapeln sich Knochen in grauen Kunststoffkisten, sauber etikettiert und mit dem Fundort versehen. «Rapperswil-Jona 2013», steht dort beispielsweise, «Anthropologisches Material: Grab 7».
Trancik verwaltet als freischaffende Anthropologin im Auftrag von sechs Kantonen – darunter Baselland, Graubünden und Aargau – eine riesige Skelettsammlung. Die Gemeinde Aesch schreibt auf ihrer Website von einer «weltweit einmaligen Sammlung» von «historisch und wissenschaftlich sehr wertvollen Skeletten». Trancik selbst schätzt, dass sich in ihrem Keller etwa 60’000 Skelette und Fragmente befinden.
Tauchen bei Bau- und Grabungsarbeiten in einem der Trägerkantone Überreste von Knochen auf, kommen diese zu Trancik. Ausser der Kantonsarchäologe kam zum Schluss, es handle sich um einen «modernen Fall», bei dem das Sterbedatum weniger als 50 Jahre zurückliegt. In der Regel führt Trancik dann eine «Erstbestimmung» durch. Sie untersucht die Knochenfragmente – intakte Skelette sind eher selten –, bestimmt Sterbealter, Geschlecht, Körpergrösse, allfällige krankhafte Veränderungen und sofern möglich die Todesursache.
Mit dem Segen des Pfarrers
Auf ihrem Arbeitstisch liegen drei flache Holzkisten, ausgekleidet mit diesen grünen Papierdecken, wie man sie aus der Arztpraxis kennt. In jeder dieser Kisten ist ein Skelett ausgebreitet. Den Schädel erkennt man auch als Laie, die grossen Oberschenkelknochen, Schulterblätter und Becken ebenfalls. Aber die unzähligen Bruchstücke und winzigen Splitter würde eine übereifrige und achtlose Putzkraft wohl wegwischen und entsorgen.
Je länger sich die Anthropologin mit ihren Untersuchungsobjekten beschäftigt, desto näher kommt sie der Person, die dieses Skelett einst war.
Trancik jedoch sieht auf den ersten Blick welche Knochenfragmente zu welchem der drei Skelette gehört. «In diesem Grab aus dem frühen Mittelalter befanden sich drei Skelette. Eine ältere und eine jüngere Frau, sowie ein Mann.» Bei ihrer Arbeit erfährt Trancik viel über die Person, zu deren Körper die Knochen einst gehörten. «Diese Frau litt an Osteoporose.» Das sehe man an den extrem dünnwandigen und porösen Knochen. Im Vergleich dazu sind die Überreste des jungen Mannes aus einer anderen Fundstelle in bestem Zustand. «Höchstwahrscheinlich ein kerngesunder Soldat, der im Napoleonischen Krieg gefallen ist», sagt Trancik.
Je länger sich die Anthropologin mit ihren Untersuchungsobjekten auseinandersetzt, je mehr sie über die Lebens- und Todesumstände herausfindet, desto näher kommt sie der Person, die dieses Skelett einst war. Doch für Trancik stellen sich die ethischen Fragen nicht im gleichen Masse wie für ein Museum, da ihre Sammlung nur einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern zugänglich ist. Dennoch ist sie sich bewusst, dass sie nicht bloss mit Objekten arbeitet. So wurden alle ihre Arbeits- und Lagerräume von einem Pfarrer eingesegnet. «Wichtig ist, dass man die Skelette mit Respekt behandelt.» Darüber hinaus hält sich Trancik an einen Leitfaden zum «Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe», den die deutsche Bundesärztekammer 2003 herausgegeben hat und der seither als das Mass aller Dinge gilt.
Einen ganz anderen wissenschaftlichen Ansatz verfolgt das «anatomische Museum Basel», dessen Sammlung und Ausstellung primär der Ausbildung von angehenden Ärzten dienen. «Unsere Ausstellungsstücke helfen den Medizinstudenten buchstäblich dabei, den menschlichen Körper zu begreifen», sagt die Museumsleiterin Magdalena Müller-Gerbl. Daneben sehe man sich auch als Bewahrer von wichtigen, medizingeschichtlichen Präparaten. So befindet sich in einer Vitrine beispielsweise das älteste anatomische Skelett-Präparat der Welt, es wurde 1543 in Basel gefertigt.
Seit 1930 braucht jede Leiche ein Spenderzertifikat
Das Anatomische Museum erfreut sich grosser Beliebtheit, kaum eine Schulklasse, die nicht schon in einer Mischung aus Staunen und Gruseln durch die Gänge der Dauerausstellung gestreift ist. Müller-Gerbl ist sich bewusst, dass der Gruselfaktor einen Teil der Faszination ihrer Ausstellunstücke ausmacht. Aber: «Beim Umzug in den Neubau des Museums in den 90er-Jahren wurde die Ausstellung von meinem Vorgänger Dr. Hugo Kurz neu konzipiert.» Seit dieser Umgestaltung sei das Gruselige fast vollständig verschwunden. «Das Schaffen einer Atmosphäre von Wissensvermittlung war uns wichtig, auch als Zeichen des Respekts gegenüber den Körperspendern.»
Büro mit Totenköpfen
Seit 1930 muss für jede Leiche und jedes Präparat ein Spenderzertifikat vorliegen. «Es sind oft ältere Leute mit wissenschaftlichem Interesse, die uns ihren Körper vermachen», erzählt Müller-Gerbl. «Jeder Körper ist für uns ein wertvolles Geschenk, dem wir mit grossem Respekt begegnen.»
Neben dem Museum führt das Anatomische Institut auch die Ausbildung von Medizinstudenten durch, wo diese in Gruppen die gespendeten Körper präparieren. Dabei werden alle Leichen anonym behandelt. Doch wenn der Präparationskurs zu Ende ist, wird der Körper mit all seinen Bestandteilen und unter seinem Namen bestattet. «Die Spender erlauben uns sozusagen einen Einblick in ihren Körper», sagt Müller-Gerbl, «und dafür sind wir sehr dankbar.»
Denkt man an das Naturhistorische Museum beim Münsterplatz, dann stellt man sich meist Dinosaurierknochen und das riesige Mammut mit den zotteligen Beinen vor. In den Kellergeschossen befinden sich jedoch einzigartige Skelettsammlungen. Betreut und erforscht werden diese von Gerhard Hotz. Sein Büro sieht aus wie eine Bibliothek – abgesehen von den beiden künstlichen Totenköpfen, einer mit Glitzerfarbe bemalt, der andere mit Gold.
Auch Krümel verdienen Respekt
Hotz selbst forscht auf dem Gebiet der Anthropologie, seine Sammlung ist jedoch auch anderen Wissenschaftlern zugänglich. Hotz nimmt es bei der Arbeit mit den Knochen sehr genau. «Wenn wir ein Skelett auf dem Tisch auslegen und daran arbeiten, bleiben oft Spuren zurück. Kleine Krümel auf dem Tisch beispielsweise. Diese dürfen auf keinen Fall weggeworfen werden.» Hotz wischt sie zusammen und legt sie in einem Papiersäckchen zusammen mit den Knochen zurück in die Aufbewahrungskiste. «Das ist meine Art, Respekt zu zeigen.»
Ausserdem bemühe er sich, möglichst offen über seine Arbeit zu sprechen, alle Fragen zu beantworten und so viele Ausstellungen wie möglich zu realisieren. «Ich will auch vermitteln, weshalb diese Arbeit und diese Sammlungen wichtig sind», erklärt Hotz. So würden ethische Bedenken gar nicht erst aufkommen.
Trotz seiner jahrelangen Routine in der Arbeit am menschlichen Skelett lässt ihn die Arbeit nicht kalt. Wenn er einen Tag lang mit der Paleopathologischen Sammlung hantiert hat (Präparate, die krankhafte Veränderungen dokumentieren, beispielsweise missgebildete Säuglinge), dann wird auch Hotz das Kribbeln zu viel.