Sprachgrenzen

Im Rahmen des zehnjährigen Jubiläums der Fachstelle «Gleichstellung und Integration von Menschen mit einer Behinderung» haben Behinderte und Nicht-Behinderte Texte zum Thema vorgelesen. Wir haben sie ergattert und publizieren nun den zweiten.

Eva Seck leitet das Literaturbüro Olten und arbeitet an einer Schule für Sprachheilung. (Bild: Markus Inderbitzin)

Im Rahmen des zehnjährigen Jubiläums der Fachstelle «Gleichstellung und Integration von Menschen mit einer Behinderung» haben Behinderte und Nicht-Behinderte Texte zum Thema vorgelesen. Wir haben sie ergattert und publizieren nun den zweiten.

Eva Seck studierte am Schweizerischen Literaturinstitut und leitet mit zwei Kollegen das Literaturbüro Olten. Die 28-Jährige macht ausserdem Mittagstisch und Hausaufgabenbetreuung an einer Sprachheilschule. In diesem Zusammenhang ist ihr Text entstanden, den sie beim Jubiläum der Fachstelle «Gleichstellung und integration von Menschen mit einer Behinderung» vergangenen Montag vortrug.

Sprachgrenzen

Ich habe Grenzen nie verstanden. Auf Landkarten und Navigationssystemen finde ich sie hilfreich wegen der Orientierung und der Geographie. Ebenfalls finde ich Länderumrisse auf dem Globus schön anzuschauen, in all ihren Grössen und Formen, die im besten Fall auch noch farblich voneinander zu unterscheiden sind. Aber wenn ich sie mit dem Auto oder dem Zug oder zu Fuss überschreite, versuche ich vergeblich zu verstehen, was das heisst, das Innen und das Aussen.

Wenn Mustafa seine Zeichnung erklärt, klingt es wie ein Flugzeugabsturz. Langgezogenes Heulen, Explosionsgeräusche dazwischengerufen: «und jetzt und dann!» Mit seinen Fingern fährt er erklärend über das Blatt und verteilt den feinen Bleistiftstaub auf dem Papier. Auf der Zeichnung zu sehen: Ein unterirdisches Labyrinth mit geheimen Kammern, in denen Kampfwürmer hausen. In einer dieser Höhlen wohnt auch Mustafa.Seine Wohnhöhle ist voller Möbel. Der Bleistiftstrich, der durch das Papier gedrückt ist, präzise.

Der dicke Onur stürzt herein, der eingemummt in Skijacke und Skimütze aussieht wie einer von Mustafas Kampfwürmern. Er erklärt mir die Geschichte von jenem Mittagessen in der Schule, wo Mohamed aus Versehen Schweinefleisch gegessen hat, weil er nicht warten konnte mit dem Essen. Onur hat ihm dann aufgeregt zugerufen «da ist Schweinefleisch drin, da ist Schweinefleisch drin» und Mustafa hat die Sache vor lauter Schreck auf den Tisch gespuckt.

«Er stiert in das Büchlein, und klingt, als würde er die Packungsbeilage für einen Stabmixer entziffern.»

Es sind unsichtbare Grenzlinien, die unser Schulhaus umzäunen. Es gibt ein Innen und ein Aussen. Auch wenn man davon nicht gerne spricht.

Selina, so sagt man, spricht nur mit Tiziana. Das kann ich bestätigen: Ich habe sie noch nie auch nur ein einziges Wort reden gehört. Wenn ich ihr bei den Aufgaben helfe, stelle ich ihr Ja und Nein Fragen. Dafür spricht Tiziana für zwei. Sie plant jedes Mal unseren gemeinsamen Nachhauseweg, zumindest bis zur Zytglogge. Aber auch bis wir dort angelangt sind, wird Tiziana nicht fertig mit erzählen. Selina läuft schweigend mit. Manchmal, wenn ich sie etwas frage, weil Tiziana Luft holen muss, schüttelt oder nickt sie mit dem Kopf.

Victor muss mir drei Sätze aus dem Baggerbuch vorlesen, er stiert in das Büchlein, und klingt, als würde er die Packungsbeilage für einen Stabmixer entziffern. Nach jeweils vier Buchstaben macht er eine Pause, um die nächsten vier Buchstaben aneinander zu reihen.

Im Lesen sind sie keine Könige. Neben dem normalen Unterricht, gehen sie von der Logopädie in die Heilpädagogik und in die Psychomotorik. Nach den Sommerferien fehlt manchmal ein Schüler, weil er in die Regelklasse integriert wurde. Die Kinder und ihre Eltern stellen sich vor, dass dies hier eine Zwischenstation ist, ein kleiner Umweg, ein Boxenstopp. Viele bleiben bis zum neunten Schuljahr.

Die Wörter liegen wie Kiesel vor ihren Turnschuhen. Vor dem Unterricht werden die Kiesel aus den Finken geleert. Die Finken liegen wild durcheinander vor dem Klassenzimmer. Die Steinchen türmen sich zu Haufen, die grösser werden und bald den Blick durchs Fenster versperren und dann den Durchgang zur Türe.

Worte verlieren ihre Bedeutung und finden keine neue. Was wird aus den Kindern, frage ich mich oft. Finden sie eine Lehrstelle? Sandro will entweder Arzt oder Automechaniker werden. Das finde ich gut. Die Sprache ist ihr Rätsel, ihr Ungemach. Worin liegt das Geheimnis der Sprache? Sie wissen, dass sie anders sind als andere Kinder. Einmal sagt mir Florian «wir sind halt dumm». Ich möchte ihn schütteln und «nein» rufen. Sie spüren die unsichtbaren und scheinbar unverrückbaren Grenzlinien, die Sache mit dem Innen und dem Aussen. Florian lacht über seinen Spruch. Wir mögen uns – zumindest mag er meine Turnschuhe.

Bisher erschien Walter Beutlers Text Teilhaben, Teilsein – Warum ist das bloss so schwer?

Als nächstes wird ein Text von Thomas Brunnschweiler erscheinen. Er ist freischaffender Schriftsteller und Journalist und hat als Betroffener Psychiatrieerfahrung.

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