Trutzburg der Selbstverwaltung

Am 1. Mai feiert das «Hirscheneck» seinen 35. Geburtstag. Von Abnutzung oder Resignation ist nichts im selbstverwalteten Betrieb nichts zu spüren. Weder behördliche Gängeleien noch Attacken durch Neonazis noch die ewige Geldnot konnten den Kollektivgeist brechen.

Strikt selbstverwaltet: Das «Hirschi»-Kollektiv in den 1990er-Jahren.

Am 1. Mai feiert das «Hirscheneck» seinen 35. Geburtstag. Von Abnutzung oder Resignation ist nichts im selbstverwalteten Betrieb nichts zu spüren. Weder behördliche Gängeleien noch Attacken durch Neonazis noch die ewige Geldnot konnten den Kollektivgeist brechen.

Im Reiseführer «Lonely Planet», der Bibel der Rucksacktouristen, steht über das «Hirscheneck»: «Ein relaxter, grungiger Ort mit urbanen Vibrationen (Versuch jemand ohne Piercings zu sehen) … würde sich gut in der Osthälfte Berlins machen.» Dem Autor hat es offenbar gefallen. Gestaunt hätte er wohl, wenn er gewusst hätte, wie der Betrieb organisiert ist. Einheitslöhne, keine Chefs und keine (institutionalisierten) Hierarchien. Das «Hirscheneck» ist seinen Idealen aus dem Gründungsjahr 1979 treu geblieben und zählt  zu den wenigen Szenebeizen, die heute noch als selbstverwaltete Betriebe funktionieren.

Als es 1968 mit der Revolution nicht ganz geklappt hatte, dachten die europäischen Linken in den 70er-Jahren über Alternativen nach. Wie Pilze schossen in den späten 70er-Jahren alle Arten von Alternativbetrieben und Strukturen aus dem Boden. Die meisten rieben sich an den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft auf, viele scheiterten am Finanziellen. Andere übernahmen später doch hierarchische Strukturen, wurden zu einer AG oder GmbH. Die wenigsten blieben bis heute mehr oder weniger unverändert. Im deutschsprachigen Raum wohl einzigartig ist die Kollektivbeiz «Hirscheneck».

Die Pioniere hatten keinen Schimmer von Gastronomie

Natürlich ging der Wandel der Zeit auch am «Hirschi» nicht vorbei. Die Gründergeneration stand politisch der mittlerweile verblichenen 68er-Partei Poch nahe. Ursprünglich wollten einige Leute bloss eine Beiz gründen, so eine wie das «Kreuz» in Solothurn oder das «Rössli» in Stäfa. Doch statt einfach ein Lokal zu pachten, bot sich überraschend die Möglichkeit, gleich das ganze Haus zu kaufen. So wurde eine Dachgenossenschaft gegründet, die die Liegenschaft verwaltete.

Im Laufe der Jahre sammelten sich unter dem Dach des «Lindenberg 23» die Genossenschaftsbuchhandlung Funke, ein Dritt-Welt-Laden, eine Rechtsberatung, die Frauenberatungsstelle INFRA, später die Organisation für die Sache der Frau OFRA, die Homosexuelle Arbeitsgruppen HABS – und die Liste liess sich beliebig verlängern. Doch das Herzstück waren die Beiz und der Konzertkeller, auch hinsichtlich der Einnahmen, aus der sich die Dachgenossenschaft finanzierte.

Die erste Generation der «Kollektivistas», wie sie sich selber nennen, hatte von Gastronomie keinen Schimmer. Praktika in anderen Alternativbeizen hin oder her. Ein Gründungsmitglied, nennen wir sie Lisa, erinnert sich: «Es haben Leute im Service gearbeitet, die die Gäste fragten, was sie hier eigentlich zu suchen hätten. Als Gast konnte man manchmal froh sein, wenn man überhaupt bedient wurde.» 

AJZ versus Essbeiz

Zu schaffen machten auch die häufigen Personalwechsel. Ein anderes Problem war, dass irgendwie jeder für alles zuständig war, wie ein Mitarbeiter aus den 80ern berichtet: «Ich hab in der Küche, am Buffet und im Service gearbeitet, wie die anderen auch. Dadurch war die Qualität des gesamten Angebots, besonders des Essens, gelinde gesagt schwankend. Heute ist die Küche mehrheitlich vegetarisch oder vegan – und erst noch gut. Noch immer gibt es Schwankungen, aber auf hohem Niveau.»

Schon zwei Jahre nach der euphorischen Eröffnung drohte zum ersten Mal das Aus. Die eine Hälfte des damals 20-köpfigen Teams wollte das «Hirschi» zu einer Art zweitem AJZ (Autonomes Jugendzentrum) machen. Die andere Hälfte wollte dagegen den Punks am liebsten Hausverbot erteilen und stattdessen eine gehobene Essbeiz aus dem Haus machen. Die deswegen durchgeführte Abstimmung endete mit 10 zu 10 Stimmen. So entschied eine Münze.

Das Kollektiv musste lernen, mit gewalttätigen Gästen umzugehen. Rausschmisse praktizierte man aber sehr ungern.

Die AJZ-Symphatisanten mussten gehen. Aber nur vorübergehend. Denn die gehobene Essbeiz wurde das Goldene Fass. Schritt für Schritt übernahmen ehemalige AJZler das Ruder und bestimmten Bild und Stimmung im Hirschi. Mit den AJZlern kam auch die sogenannte «Gasse», die Drogen- und Alkiszene aus der Rheingasse ins «Hirschi». Das Kollektiv musste lernen, mit gewalttätigen Gästen umzugehen. «Bei einigen gelang es», so eine Kollektivista aus jener Zeit, «sie einigermassen zu zivilisieren und auf unsere Seite zu ziehen.» Andere musste man halt rausschmeissen. «Das machten wir sehr ungern, weil eigentlich jeder einen Platz im ‹Hirschi› haben sollte.»

Das Lokal blieb Treffpunkt der Punks, der radikalen Linken und einer der spannendsten Konzertveranstalter in Basel. «Heute ist das ‹Hirschi› als Veranstaltungsort weltbekannt», sagt der ehemalige Kollektivista und Konzertveranstalter Hede. Kein Wunder. So manch grosser Name ist auf der schier endlosen Liste der Bands zu finden, die mal im «Hirschi» auftraten: Peter and the Testube-Babes, GBH, NOFX, Offspring, Greenday, Lemonheads, H-Blockx, Consolidated oder No Fun at All, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Angeblich soll sogar Nirvana mal nach einem Gig angefragt haben, jedoch vergeblich. Dass das Hirschi der Band tatsächlich eine Absage erteilte, dafür gibt es allerdings wie so oft keine Beweise.

Einige Jahre (für wie viele genau, weiss mal wieder niemand) versuchte sich das «Hirschi» als Frauenkollektiv. Nach der Räumung der Alten Stadtgärtnerei übernahmen wieder Bewegungsveteranen das Ruder. Unvergessen die Motto- und Silvesterpartys: Das «Älplerfest» inklusive Schwingerwettkampf, der «Boxabend» – oder die «Zeitreise zurück in die DDR», an der jeder DDR-Geld zwangsumtauschen musste und ein Politbüro Stasispitzel anwarb. Auch die schrillen «Tuntenbälle» und sonntäglichen «Schwulenbars» («Untragbar» genannt) haben Kultcharakter.

Jede Hürde gemeistert

Getrübt wurden die an sich lustigen 90-Jahren im «Hirschi» von wiederholten Angriffen und Belagerungen durch Neonazis. «Aber die trauen sich mittlerweile nicht mehr in die Nähe», sagt Hede. Fast das Genick gebrochen hätten dem Hirschi die strengen Lärmschutzauflagen für den Keller. Doch den Betreibern gelang es, die erforderlichen 600’000 Franken aufzutreiben, die der Umbau, die Isolation des Kellers und der vergrösserten Feuerfluchtweg kostete. Auch das Ärgernis, dass jener Feuerfluchtweg erst nach dem ruinös teuren Umbau eingefordert wurde, verkrafteten sie. 

«Bis jetzt meisterte das ‹Hirschi› jede Hürde», sagt das 24-jährige Kollektivmitglied Olli zuversichtlich. Und es werde wohl weiterhin ein Treffpunkt bleiben, «für Linke, Punks, Kulturinteressierte, biersaufende Metalfans und schlicht alle, die irgendwie anders sind.»

 

Die Geburtstagsparty

Wie schon vor fünf Jahren feiert das Hirschi auch den 35. Geburtstag mit einem grossen Open-air-Fest auf dem Theodorskirchplatz. Das Line-up: Baby Jail [CH], The Jackets [CH], Burning Monks [CH], Death Vessel [USA]. Mit weiteren Darbietungen und Überraschungen darf gerechnet werden.

35 Jahre Hirschi: 1. Mai, Theodorskirchplatz, Basel. Eintritt: 15.–

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