Niemand will von einer IV-Rente abhängig sein. Davon ist Rudolf Balmer überzeugt. Wenn der Basler Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie über die Invaliden-Rente spricht, betont er es immer wieder: dass die Leute grundsätzlich arbeiten wollen. Und dass es ihnen keinen Spass macht, eine IV-Rente zu beziehen.
Balmer weiss, wovon er spricht. Der 74-Jährige führt seit 36 Jahren eine Praxis. In seiner Laufbahn hat er viele Leute kennengelernt, die eine IV-Rente beziehen. Er ist sich sicher: Wird die gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten am 25. November angenommen, hat das einschneidende Auswirkungen auf das Leben seiner Patienten zur Folge.
«Psychische Krankheiten sind noch immer ein Tabu», sagt Balmer. Das erlebe er immer wieder in seinem Praxisalltag. «Wenn meine Patienten nach drei Monaten nicht wieder arbeiten gehen, hören sie oft in ihrem Umfeld: ‹Ah, machst du jetzt auch auf IV?› Dabei können sie schlicht nicht arbeiten.»
Gerade hier zeige sich die grosse Problematik des Gesetzes. Zu viele Vorurteile, zu viele ungeschulte Meinungen, zu wenig Kontrolle. «Wenn man jetzt ein Gesetz erlässt, bei dem der Missbrauch der Invalidenversicherung nicht von den Strafbehörden verfolgt wird, sondern von einer der Interessensgruppen, dann zementiert man dieses Tabu», sagt Balmer.
Schliesslich sei bei Missbrauchsfällen in anderen Bereichen immer klar, dass die Polizei die Ermittlungen übernehme, nicht die geschädigte Partei.
Balmer stört sich nicht daran, dass die Versicherer die Möglichkeit haben, ihre Bezüger zu observieren. Ihm geht es um das Wie: «Es braucht eine Gewaltentrennung. Wenn die Persönlichkeitssphäre in so grobem Mass verletzt wird, muss eine unabhängige Instanz – nämlich die Justiz – entscheiden, ob dies gerechtfertigt ist.»
Die fehlende Gewaltentrennung ist für Balmer eines der Hauptprobleme der Vorlage. Wenn das Gericht aussen vor bleibe, werde eine Sonderbehandlung eingeführt. «Wenn ich als Psychiater einen Patienten in eine Klinik einweisen will, dann benötigt es eine richterliche Beurteilung für den fürsorgerischen Freiheitsentzug. Und so eine Beurteilung ist auch bei einer Observation nötig.»
Gerade für seine psychisch kranken Patienten sei das Damoklesschwert einer Observation enorm schädlich. «Wir ermuntern unsere Patienten, nach draussen zu gehen, soziale Kontakte zu pflegen und sich einen Alltag aufzubauen. Wenn die Leute Angst haben, von Detektiven beschattet zu werden, und ihnen deshalb die Rente gestrichen wird, verkriechen sie sich zu Hause. Eine Therapie ist so nicht möglich.» Und damit auch keine Wiedereingliederung.
Privatsphäre vs. Sparmöglichkeiten
Ähnlich sei es auch im Nachhinein. Die IV muss ihre Rentner informieren, dass sie beschattet wurden. Auch dann, wenn die Detektive keine Beweise für einen Missbrauch gefunden haben. «Für meine Patienten ist das jeweils ein enormer Schock, weil sie von der Überwachung nichts mitbekommen haben.» Das zu verdauen, sei enorm schwierig. Gerade, wenn das Selbstwertgefühl wegen der Erkrankung sowieso schon geschwächt ist.
Die Befürworter des Gesetzes bringen gern ein millionenschweres Argument ins Spiel: Die Kosten, die dank den Sozialdetektiven gespart werden können, weil IV-Betrüger entlarvt werden. Gerade erst wurde ein Fall im Kanton Aargau bekannt, bei dem eine IV-Rentnerin nach einer Observation überführt werden konnte.
Für Balmer ist diese Argumentation schwierig. «Das Kostenargument wird immer nach vorne gestellt, als seien Effizienzgründe das Wichtigste überhaupt. Der Rechtsschutz des Einzelnen gerät dabei in den Hintergrund.» Für ihn ist die Unschuldsvermutung wertvoller.
Psychische Leiden sieht man nicht
Dass ein Patient seinen Arzt hinters Licht führt und deshalb ungerechtfertigt eine Rente erhält – das kommt laut Balmer zwar vor. Allerdings müsse der Patient auf seinem Weg zur Rente rund zehn Mal seine Krankheitsgeschichte erzählen. Dass auf diesem langen Weg niemand misstrauisch wird, sei selten. «Und falls es dennoch begründete Zweifel gibt, dann kann beim Gericht noch immer eine Observation angefordert werden», findet Balmer.
Eine Observation ist für Balmer eine heikle Massnahme. Gerade bei den Beweisen, die der Detektiv erhebt. «Einen gebrochenen Arm sieht man. Bei einem psychisch Kranken erkennt ein ungeschulter Beobachter hingegen nicht, was in ihm vorgeht.» Über Fälle, in denen einer depressiven Person ihre Rente wegen eines Lächelns aberkannt wurde, kann er nur den Kopf schütteln. «Auch depressive Menschen haben manchmal fröhliche Momente. Zum Glück, sonst wäre sie ja immer in einer suizidalen Stimmung. Wie kann man ihnen solche wertvollen Momente absprechen?»