Sozialschmarotzer: Warum wir uns von diesem Wort endgültig verabschieden sollten

Dem legislativen Sündenfall des Versicherungsspitzel-Gesetzes liegt eine Kette von Grenzüberschreitungen zugrund: der Sprache, der Politik und Wirtschaft, des Rechts. Eine Auslegeordnung.

Wir haben die Überwacher überwacht: Hier wohnt Lorenz Hess, BDP-Nationalrat und Versicherungslobbyist.*

Sozialschmarotzer. Wie bei vielen Worten aus dem Giftschrank ging es auch bei diesem ursprünglich um Biologie. Also um Tiere. Zum Beispiel um Kuckuckshummeln. Die sammeln selbst keinen Blütenstaub und leben vom Nektar anderer Hummelarten. Sogar ihren Nachwuchs lassen sie von fremden Hummeln grossziehen.

«Beim Sozialschmarotzer Psithyrus besitzt das Männchen das höher entwickelte Gehirn», wusste etwa das «Archiv für Bienenkunde: Zeitschrift für Bienenwissen und Bienenwirtschaft» über den Brummer zu berichten.

Das war 1919. Doch schon vorher hatte das Lebewesen mit dem höchstentwickelten Gehirn neue Verwendungen für das Wort Sozialschmarotzer gefunden. Es hatte die Grenze des Tierreichs überschritten und wurde nun auch auf die menschliche Gesellschaft angewendet. Die Nation als «Volkskörper», fremde Rassen als potenzielle «Parasiten»: Sozialdarwinismus in Reinform.

Renaissance eines belasteten Begriffs

Angestossen worden war die Denkweise von europäischen Antisemiten schon Ende des 18. Jahrhunderts – mit dem Stereotyp des «parasitären» Juden. Es gedieh im Sozialdarwinismus weiter (der einflussreiche Publizist Albert Schäffle schrieb 1881 über den Juden als «socialen Parasiten») und nahm seine verheerendsten Auswüchse im Nationalsozialismus an.

Hitler war davon besessen: 1926 schrieb er in «Mein Kampf» seitenweise über «feindliche Schmarotzer». Der Jude als «ewiger Parasit», der «das Wirtsvolk» – so Hitlers Wahnvorstellung – zum Aussterben bringe. Über die Unterscheidung zwischen «Einzel- und Sozialschmarotzer» fantasierte auch «Der Weltkampf: Monatsschrift für Weltpolitik, völkische Kultur und die Judenfrage in aller Welt» im Jahr 1928. Titel des Artikels: «Das Gesetz des Schmarotzertums. Der Jude – Beispiel einer Gegenrasse». Der Herausgeber der Zeitschrift, Alfred Rosenberg, war Vordenker und Mittäter des Holocaust und wurde 1946 als einer der Hauptschuldigen im Nürnberger Hauptprozess verurteilt und hingerichtet.

Gleichzeitig wurde der Begriff Sozialschmarotzer so verwendet, wie wir ihn noch heute kennen: Als Bezeichnung für Menschen, die Hilfe von der Allgemeinheit erhalten – und diese angeblich böswillig ergaunern. So nervte sich schon im Jahr 1930 ein Autor im «Jahrbuch der österreichischen Arbeiterbewegung» über den politischen Gegner, weil dieser behaupte, soziale Errungenschaften wie Fürsorgeabgaben und Mieterschutz «züchten nur ‹Sozialschmarotzer›».

Nicht die Armut, sondern die Armen werden bekämpft. Der Feind, das ist der Schmarotzer.

Mit dem Sieg über den Nationalsozialismus wird das Gerede über Sozialschmarotzer in der menschlichen Gesellschaft vorübergehend sehr leise. Aber totzukriegen ist es nicht. Ab den 1980er-Jahren erlebt es eine Renaissance.

Diesmal sind Flüchtlinge und Arme gemeint, wie Christoph Butterwegge in seinem Buch «Krise und Zukunft des Sozialstaates» darlegt. Das hat eine Verschiebung zur Folge: Nicht die Armut, sondern die Armen werden bekämpft. Der Feind, das ist der Schmarotzer.

In den 1990er-Jahren sind es in erster Linie Parteien am äussersten rechten Rand, die laut mit dem Wort hausieren. Es gehört in Österreich etwa zum Standard-Repertoire der aufstrebenden FPÖ. Jörg Haider beschreibt in seinem Bestseller «Die Freiheit, die ich meine» (1994) ein Österreich, in dem sich «die Faulen, die Nichtstuer und Sozialschmarotzer» tummeln, der Sozialstaat sei ein einziger «Verschiebebahnhof von öffentlichen Geldern».

In Herrliberg hört man Haider gut zu. Die moderne Schweizer Geschichte des Begriffs beginnt 1996, als SVP-Chef Christoph Blocher im Albisgüetli behauptet, es würden «Steuergelder für Drückeberger und Sozialschmarotzer verschleudert». Dass damit prinzipiell alle Empfängerinnen und Empfänger staatlicher Hilfeleistungen gemeint sein könnten, zeigt seine Albisgüetlirede ein Jahr darauf: Blocher diffamiert gleich den ganzen Sozialstaat als asozial – gegenüber denen, die ihn finanzieren, also keine Leistungsbezüger sind.

Ankunft im neoliberalen Mainstream

Es folgt die bekannte, nicht enden wollende Kampagne von Blochers Partei gegen «Schmarotzer», «Scheininvalide» und andere imaginäre Parasiten. 1999 eine Inserate-Kampagne: «Weg mit dem Sozialschmarotzertum. Dafür kämpfen wir!» Man ist damit erfolgreich. Sogar eine Liste mit (unzutreffenden) Symptomen, mit denen man angeblich zu einer IV-Rente kommt, zeigt in der Schweizer Politik und Mediendebatte Wirkung. Blocher hat die Liste und einige weitere Formulierungen nicht von Haider, sondern von einem «Spiegel»-Artikel aus dem Jahr 2003 abgeschrieben.

Das Haus der CVP-Nationalrätin Ruth Humbel in Birmenstorf AG.*

Im neuen Jahrtausend ist die Schmarotzer-Schiene definitiv im neoliberalen Mainstream angekommen. Die womöglich bekannteste öffentliche Diskussion des Begriffs lancierte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), als er im April 2001 verkündete, es gebe «kein Recht auf Faulheit». Der Ball wurde von CDU/CSU dankend angenommen, ein «Spiegel»-Cover durfte nicht fehlen, und Sandra Maischberger talkte am 6. Mai 2001 im Fernsehen zum Thema: «Sind wir ein Volk von Sozialschmarotzern»?

Das Gesetz betrifft neben IV, Ausgleichskassen und Suva auch die Krankenkassen. Und damit uns alle.

Mehr Mainstream kann ein Wort nicht werden. Es erscheint heute ganz selbstverständlich, dass es «Sozialschmarotzer» nicht nur gibt, sondern auch, dass sie ein riesiges Problem darstellen. Wenn sogar der SP-Präsident die Diskussion um das Thema scheut, weil man den politischen Gegnern dann «unnötigerweise eine Plattform bieten» würde, «um eine aufgebauschte Sozialmissbrauchs-Debatte zu führen», dann spricht da einer, der meint, den Kampf um «Sozialschmarotzer» längst verloren zu haben.

Mit der eilig angefertigten Ergänzung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) hat das Parlament nun eine weitere Grenzüberschreitung begangen. Bis anhin blieben die Verschiebungen im Rahmen des geltenden Rechts, die Grundrechte von Armutsbetroffenen blieben gewahrt.

Doch mit Art. 43 a und b ATSG ist der Sozialschmarotzer nun quasi amtlich: Für Leistungsempfänger, die unter das ATSG fallen, gelten andere Spielregeln. Ohne richterliche Genehmigung ist es Privatdetektiven neu erlaubt, in private Wohnzimmer und auf Balkone zu spähen. Private Firmen können mit Hilfe von Richtern sogar GPS-Tracker und Drohnen gegen Versicherte einsetzen. Damit erhalten sie mehr Rechte als die Polizei für die Überwachung von Terroristen.

Das Gesetz betrifft etwa die IV, die Ausgleichskassen, die Suva – aber auch die Krankenkassen. Und damit uns alle.

Die eigentliche Aufgabe eines Überwachungsgesetzes wäre es, staatliche Macht zu hemmen.

«Die Überwachung von Personen, die Sozialversicherungsleistungen beziehen, ist ein schwerer Eingriff in durch die Bundesverfassung garantierte Grundrechte», sagt Kurt Pärli, Professor für Soziales Privatrecht an der Uni Basel. Für ihn ist es grundsätzlich fraglich, ob Sozialversicherungen überhaupt die Kompetenz haben sollen, Überwachungen anzuordnen und durchzuführen – oder ob das nicht vielmehr eine Sache von Polizei und Justiz sein soll.

Kurt Pärli ist – zusammen mit Anne-Sylvie Dupont, Thomas Gächter und Markus Schefer – einer der vier Autoren, die in einem Protestbrief an die ständerätliche Kommission und den Nationalrat «Bedenken» gegen das ATSG vortrugen. Sie drangen damit nicht durch. Im Nationalrat haben nur 52 Parlamentarier gegen das Gesetz gestimmt – 140 waren dafür.

Der Briefkasten von SVP-Nationalrat Thomas de Courten an seinem Haus in Rünenberg BL.*

Dabei sei es die Aufgabe eines Überwachungsgesetzes, staatliche Macht zu hemmen: In einem liberalen Staat sei die Überwachung Privater auf ein absolutes Minimum zu beschränken, sagt Pärli. «Leider hat das Parlament genau das Gegenteil gemacht», konstatiert er auf Anfrage. Nämlich ein Gesetz geschaffen, das sämtlichen Sozialversicherungsträgern, also etwa den IV-Stellen, Ausgleichskassen, Krankenkassen oder Unfallversicherern weitergehende Überwachungskompetenzen verleiht.

Eine neue Misstrauenskultur

Pärli hält es für selbstverständlich und richtig, dass eine Person, die auf betrügerische Weise Sozialversicherungsleistungen bezieht, strafrechtlich sanktioniert wird. Nur spreche da vieles für eine Aufgabenteilung zwischen Versicherern und Justiz: «Wenn trotz aller Abklärungen der Versicherung immer noch der Verdacht eines Missbrauchs besteht, so kann auf dem Wege einer Strafanzeige die Justiz eingeschaltet werden.» Dies sei aus zwei Gründen wichtig: «Einerseits haben die Strafermittlungsbehörden die entsprechenden Kompetenzen, und sie sind zum anderen in einen klaren rechtsstaatlichen Rahmen eingebunden.»

Beides ist laut Pärli bei den Sozialversicherungsbehörden nicht der Fall. Und damit schaffe sich der Gesetzgeber ganz neue Probleme: Er müsse nun, da er verdeckte Ermittlungen für Sozialversicherungsbehörden erlaubt, einen Schritt weitergehen und die «Sozialversicherungspolizei» ebenfalls «rechtsstaatlich ausgestalten». Sprich: Es bräuchte nun zum Beispiel klare Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung der Ermittler sowie Instrumente, die eine Kontrolle der Überwacher gewährleisten. Da herrscht derzeit ein Mangel, wie unsere Recherche über das Detektivwesen zeigt.

https://tageswoche.ch/?p=1638353

Die nach dem neuen Gesetz erlaubten Möglichkeiten zur Überwachung durch die Sozialversicherungen seien zudem weit über den Kreis von echten Betrügern hinaus wirksam, sagt Pärli: «Sie stellen sämtliche Bezügerinnen und Bezüger von Leistungen unter Generalverdacht des Missbrauchs und fördern eine gegenseitige Misstrauenskultur.» Man müsse in Erinnerung rufen, dass die Sozialversicherungen der Absicherung von wirtschaftlichen Folgen elementarer Lebensrisiken dienten – also der finanziellen Folgen von Krankheit, Unfall, Invalidität oder Arbeitslosigkeit. Doch wie soll man als Versicherter einer Behörde trauen, die auf blossen Verdacht hin eine Überwachung anordnen kann? So werde der Sozialstaatsgedanke mit Füssen getreten, sagt Pärli.

Und er gibt zu bedenken: «Auch wenn das Gesetz für die Privatversicherer so nicht direkt gilt, ist anzunehmen, dass die Gerichte sich auch in Fällen ausserhalb des Sozialversicherungsrechts an diesem Gesetz orientieren werden.» Sprich: Auch bei privaten Versicherungen ist eher mit einer Zunahme von Überwachungsmassnahmen zu rechnen. Das zeige deutlich, warum das Parlament beim Erlass dieses Gesetzes versagt habe, sagt Pärli: «Statt die Rolle als Wächter der Grundrechte wahrzunehmen, hat das Parlament ein Gesetz erlassen, das die Überwachung viel zu weitgehend zulässt.»

Gerade die IV und die Arbeitslosenversicherung haben in den vergangenen Jahren den Kurs verschärft – schon ohne die neuen Kompetenzen. Nun werden die Hardliner in den Behörden zusätzlichen Aufwind bekommen.

Mit dem neuen Gesetz wird die Kampfzone gegen Sozialschmarotzer – und das sind wir bei fortschreitender Verschärfung bald alle – noch massiv ausgeweitet.

https://tageswoche.ch/allgemein/unterstuetzen-sie-das-referendum-so-gehts/

*Für die Bebilderung der TagesWoche-Artikel-Serie über das Spitzelgesetz und das Referendum dagegen haben wir die Privathäuser der Nationalräte Ruth Humbel (CVP), Lorenz Hess (BDP) und Thomas de Courten (SVP) ausgespäht. Humbel und Hess zählen zu den eifrigsten Fürsprechern der Schnüffelbewilligung, der Baselbieter de Courten präsidiert die nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, die das Gesetz vorgespurt hat. Lobbyistin Humbel ist Vizepräsidentin der Kommission.

Wir haben Fenster und Vorgärten fotografiert, haben uns auf die Lauer gelegt. Entstanden ist ein kleiner Nachhilfeunterricht in Empathie: So fühlt sich das an, wenn man unter Generalverdacht steht, einem der letzte Rückzugsort genommen wird und das Misstrauen vor nichts haltmacht.

Dossier Schnüffeln ohne Grenzen?

Das im Eilverfahren beschlossene Sozialversicherungsgesetz beschneidet unsere Grundrechte. Wenn wir jetzt handeln, können wir es verhindern.

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